[rohrpost] Literatur im Internet [1/2]
Florian Cramer
Florian Cramer <paragram@gmx.net>
Mon, 7 Feb 2000 12:18:15 +0100
(Anm.: Ich möchte hier gerne ein Manuskript zur Diskussion stellen, den ich
im Sommer '99 im Berliner Goethe-Institut vorgetragen und später im
Jahresblatt des Verbands deutscher literarischer Gesellschaften publiziert
habe. Der Text ist für ein literarisch interessiertes Publikum ohne
besondere Computer- oder Netzkenntnisse geschrieben worden. Dies ist die zur
Zeit aktuelle Bearbeitungsstufe des Manuskripts.
Eine (besser lesbare) PDF-Version des Manuskripts gibt es hier:
<http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/aufsaetze/netzliteratur/alg-literatur_im_internet.pdf>
...und eine HTML-Version hier:
<http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/aufsaetze/netzliteratur/alg-literatur_im_internet.html>
FC)
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Literatur im Internet
Florian Cramer
1.12.1999
Inhalt
Prämissen
1 Ist das Internet ein literarisches Medium?
1.1 Das Netz als Literatur
1.2 Literatur im Netz
2 Welche Auswirkungen haben Computer und Internet auf die Literatur
und den Literaturbetrieb?
2.1 Internet als Distributionskanal und Selbstverlag
2.1.1 Vanity Press
2.1.2 Kommerzielle Publikation
2.2 Internet als Schreibplattform
2.2.1 Null
2.2.2 Trace
2.3 Internet als Textdatenbank
3 Gibt es formal avancierte Netzdichtung?
3.1 Geschichte
3.1.1 Vorläufer
3.1.2 Französische Tradition: Oulipo
3.1.3 Deutschsprachige Tradition: Konkrete Poesie
3.1.4 Anglo-amerikanische Tradition: Postmoderne und
,,Language Poetry``
3.1.5 Kleiner Exkurs zum ,,Hypertext``
3.1.6 Netzdichtung
3.1.7 Computerdichtung
3.2 ASCII Art
4 Resümé
Literatur
Prämissen
1923 veröffentlicht der russische Konstruktivist El Lissitzky ein
Manifest Topographie der Typographie zur Zukunft der Buchkunst. Sein
Schluß lautet:
,,Der gedruckte Bogen, die Unendlichkeit der Bücher, muß
überwunden werden. DIE ELEKTRO-BIBLIOTHEK``. [Lis23]
So visionär Lissitzkys ,,Elektro-Bibliothek`` die Datennetze zu
antizipieren scheint, sie bleibt Utopie. Zwar wird seit mittlerweile
einem halben Jahrzehnt das Internet, vor allem das World Wide Web,
als Massenmedium genutzt. Daß der elektronische Hypertext das Ende
der Bücher bedeute, wie es 1992 der amerikanische Schriftsteller
Robert Coover im New York Times Book Review schrieb [Coo92], hat
sich jedoch nicht bewahrheitet. Im Gegenteil, Bücher sind heute
Schrittmacher des E-Commerce - des elektronischen Versandhandels -
mit seinem Aushängeschild amazon.com http://www.amazon.com. Hier ist
das World Wide Web nicht universelle Elektro-Bibliothek, sondern
Bibliothekskatalog. Viel weniger erfolgreich als die auf Druckwerke
verweisenden Kataloge ist elektronische Dichtung im Internet, zumal
solche, die sich experimentell um netzspezifische Textformen bemüht.
Das Publikumsinteresse an solchen Texten ist abgekühlt, ehemalige
Großprojekte wie der Internet-Literaturpreis der ZEIT und die
Softmoderne-Symposien wurden stillschweigend eingestellt oder in
stark verkleinertem Rahmen fortgeführt. Parallel zeigen
Netzanthologien wie Thomas Hettches Null (siehe 2.2.1) oder die
lyrikline http://www.lyrikline.org der Literaturwerkstatt Berlin
einen Trend der Professionalisierung an, unter dessen Vorzeichen
zunehmend konventionell vom Papier aufs Netz übertragene Textformen
und Editionsmethoden mit ,,Netzliteratur`` identifiziert werden,
,,Dichtung im Netz`` also zur Buch und Dichterlesung flankierenden
Präsentation wird. Dieser Trend wird nicht zuletzt dadurch
befördert, daß Internet-Literatur, die mit ihrem Medium
experimentiert, sich zwar einen vitalen, über E-Mail,
Nachrichtenforen, Websites und Symposien vernetzten Diskurs
geschaffen hat, als Netzdichtung deklarierte Einzelwerke jedoch
zuverlässig dagegen abfallen und, mit raren Ausnahmen, uninteressant
sind für ein Publikum außerhalb dieses Diskurses.2
Wieso also über Literatur im Internet schreiben? Selbst dort, wo das
Internet nur als Bücherkatalog und Distributionsmedium genutzt wird,
verändern sich Rezeption, Vermittlung und somit die
Produktionsbedingungen von Literatur. Zu untersuchen bleibt, ob das
Internet für Literatur mehr sein kann, als nur Katalog und
Vertriebskanal. Die Fragen lauten somit:
1. Ist das Internet ein literarisches Medium?
2. Welche Auswirkungen haben Computer und Internet auf die
Literatur und den Literaturbetrieb?
3. Gibt es, trotz nachlassenden Interesses, eine formal avancierte
Netzdichtung?
1 Ist das Internet ein literarisches Medium?
1.1 Das Netz als Literatur
Indem das Internet Telegraph und Textspeicher zugleich ist und
Algorithmen ausführt, vereint es die Funktionen von Buch,
Bibliothek, Salon und poetischer Maschine. ,,Literatur im Internet``
kann deshalb das Internet insgesamt meinen, als Gebilde aus
Buchstaben- und Zahlencodes in Raum und Zeit, als WELTROMAN IN
ECHTZEIT. Das Internet ist das erste neue Medium des zwanzigsten
Jahrhunderts, das auf Schrift basiert. Seine vermeintliche
Multimedialität beruht auf alphanumerischen Codes und schriftlichen
Befehlssequenzen. Das heißt: Auch ein Bild oder ein Ton wird im
Computer als Textcode gespeichert und übertragen, und nur
herkömmlicher Text ist im Internet wirklich recherchierbar. So
leicht es ist, mit einer Suchmaschine das Wort ,,Hand`` im gesamten
World Wide Web oder in einer Datenbank aufzuspüren, so unmöglich ist
es - ohne künstliche Intelligenz - hingegen, digitalisierte Fotos
nach abgebildeten Händen zu durchsuchen.
Liest man das ganze Internet als Literatur, das heißt als
Buchstabenwesen, so richtet sich die Frage seiner Poetizität, nach
Dichtung im Netz, zuerst an den Leser. Ihm obliegt es, den Textfluß
zu verdichten. Die Montage vorgefundenen Sprachmaterials - etwa nach
dem Muster futuristischer und dadaistischer Lyrik, von Joyce und
Döblin - erfordert technisch nur noch ein ,,Cut'n'paste``, ein paar
Mausklicks zwischen Web-Browser und Textverarbeitungsprogramm, und
sie kann sogar durch Algorithmen automatisiert werden.
1.2 Literatur im Netz
Der umgekehrte Weg, herkömmliche Dichtung ins Internet zu stellen
oder als Dichtung deklarierte Texte im Netz zu lesen, ist
problematischer. Unhandlichkeit des Computers, grobauflösende
Bildschirmdarstellung, Gerätelärm, stockende Netzverbindungen,
Programmabstürze und Telefonkosten schaffen eine feindliche Umgebung
fürs konzentrierte Lesen schwieriger Texte. Rechnet man
Zugangsgebühren und die Anschaffungskosten der Hardware hinzu, so
kostet Netzliteratur einen durchschnittlichen Leser wahrscheinlich
mehr Geld als eine gute Taschenbuch-Bibliothek. Daß Inhalte im Netz
kostenlos seien, nur weil die Computer- und
Telekommunikationsindustrie und nicht die Urheber daran verdienen,
ist ein verbreiteter Irrglauben.
Texte im Internet, zumal Dichtungen, müssen gegenüber dem Buchdruck
also einen Mehrwert bieten, um diese Handicaps auszugleichen. Ohne
einen solchen Mehrwert gäbe es keinen einleuchtenden Grund, einen
Text im Internet statt auf Papier zu veröffentlichen.
Wann also lohnt die Online-Publikation? Vier Gründe liegen auf der
Hand:
1. Der Text soll schnell und global möglichst vielen Lesern
verfügbar sein - wie zum Beispiel das Manifest des
,,UNA-Bombers`` Theodore Kaczinsky -, oder er erscheint nicht
auf Papier, weil der Autor keinen Verleger hat, der Verlag sich
keinen Buchdruck leisten kann oder ein Buchveröffentlichung
finanziell nicht lohnt.
Dies betrifft das Internet als Distributionskanal von Literatur.
2. Der Text entsteht, öffentlich oder nicht-öffentlich, in einem
kollaborativen, vernetzten Schreibprozeß.
Dies betrifft das Internet als Schreibplattform.
3. Der Text soll per Suchmaschine recherchierbar sein.
Dies betrifft das Internet als literarische Datenbank.
4. Der Text benötigt eine Software-Benutzeroberfläche oder wird von
nach programmierten Regeln automatisch erzeugt.
Nur hier entsteht, optional in Verbindung mit den ersten drei
Funktionen, genuine Computerliteratur.
2 Welche Auswirkungen haben Computer und Internet auf die Literatur und den
Literaturbetrieb?
Distributionskanal, Schreibplattform und Datenbank zu sein, sind die
zur Zeit wichtigsten Funktionen des Internet im zeitgenössischen
Literaturbetrieb. Oft werden Texte als ,,Netzliteratur`` deklariert,
die nur diese drei Funktionen nutzen oder bloß eine von ihnen.
2.1 Internet als Distributionskanal und Selbstverlag
2.1.1 Vanity Press
Die Mehrzahl der Texte, die sich im Internet als literarisch
ausweisen, nutzen das Netz als schnellen und preiswerten
Distributionskanal. Das bekannteste Beispiel ist Rainald Goetz'
Tagebuch Abfall für alle, das 1998 kontinuierlich im World Wide Web
erschien und durch die Geschwindigkeit seiner Aktualisierung den
Schreibakt als Performance inszenierte. Politische Aktivisten
publizieren Texte im World Wide Web, deren Druckfassungen zensiert
oder gerichtlich gestoppt wurden, in Deutschland z.B. die
linksextreme Zeitschrift radikal. Die elektronische Publikation
könnte aber auch zur Regel in Schwellenländern mit guter
Netzinfrastruktur werden, zum Beispiel in Osteuropa, Asien und
Südamerika.
Das Internet wird so zum Selbstverlag, je nach Sichtweise zur
weltgrößten ,,vanity press`` oder zum Samizdat-Verteiler. In seinen
Literarischen Spaziergängen im Internet weist Reinhard Kaiser darauf
hin, daß allein das öffentliche Forum rec.arts.poetry mit tausenden
Gedichten pro Monat die herausragende Bedeutung des Netzes als Salon
und Schreibstätte belegt [Kai96]. Neben Selbstdarstellung hat der
elektronische Selbstverlag zwei weitere Funktionen:
1. Die Bildung von Interessengemeinschaften von Schreibern und
Lesern. Besonders erfolgreich ist sie im populärsten Genre der
Netzliteratur, dem pornographischen: Im weltweiten
Diskussionforum alt.sex.stories und seinen Untergruppen wie
alt.sex.stories.gay behauptet sich ein eigener Literaturbetrieb
mit anonymen Autoren, Kritikern, die Erzählungen systematisch
rezensieren, und Lesern, die Geschichten nachfragen. Dieses
Forum operiert nicht nur als Distributionskanal, sondern auch
als Datenbank, weil es eine formelhafte Notation für die in den
Geschichten zentralen Sexualpraktiken entwickelt hat, durch die
Leser ihre bevorzugten Subgenres gezielt herausfiltern können.3
2. Texte erscheinen im Netz, um einen Verleger zu finden. Ein
frühes deutschsprachiges Beispiel ist der Roman Die
Quotenmaschine von Norman Ohler, der ursprünglich im Internet
entstand und 1996 im Zuge der damaligen Netzeuphorie von einem
Großverlag als ,,erster Internet-Roman`` gedruckt und vermarktet
wurde.
So viele Gründe es gibt, einen Text in den elektronischen
Selbstverlag zu geben, als Distributionsmedium für herkömmliche
Literatur ist das Internet nur ein Notbehelf. Ein so publizierter
Text verliert nicht, sondern gewinnt Lesbarkeit, wenn er nach
Empfang ausgedruckt und auf Papier gelesen wird, wie es mit den
meisten Textdateien nach wie vor geschieht. Da viele Klassiker der
Weltliteratur ursprünglich in Selbst- oder Kleinstverlagen
erschienen sind, könnte es einmal Netzpremieren vom Rang eines
Ulysses oder einer Lolita geben, doch wäre das Netz für solche
Literatur nur Zwischenstation und Durchlauferhitzer.
2.1.2 Kommerzielle Publikation
Datennetze können auch zur kommerziellen Distribution von Literatur
verwendet werden. Das Stichwort hierfür heißt ,,publishing on
demand``. Ein ,,publishing on demand``-Verlag liefert keine Auflagen
mehr in Buchhandel aus, sondern druckt jedes Buch lediglich einzeln
auf Bestellung mit einem speziellen Laserdrucker. Die Technik dafür
existiert schon seit Jahren, wird aber jetzt erst (z.B. von libri
http://www.bod.de) systematisch vermarktet. Rentabel ist dieses
Verfahren bei Kleinauflagen. Es entlastet die Verlage von der
Lagerhaltung und erlaubt, auch vergriffene Bücher unbegrenzt im
Sortiment zu halten. Mittelfristig könnten sich die
Laserdruckmaschinen von den Verlagen in die Buchhandlungen
verlagern, langfristig sogar in die Haushalte der Leser.
Es spricht viel dafür, daß ,,publishing on demand`` zur Regel wird
für Lyrikbände und Dissertationen. Der Leser bemerkt bei dieser Form
der elektronischen Publikation keinen Unterschied zum herkömmlichen
Buch; ,,publishing on demand``-Bücher werden wie bisher über den
Buchhandel bestellt und sehen aus wie gewöhnliche Taschenbücher.
2.2 Internet als Schreibplattform
Auch wenn das Internet sich Lesern zunächst als vanity press
darstellt und deshalb außerhalb des etablierten Literaturbetriebs zu
stehen scheint, verändert es die Arbeitsweisen hinter den Kulissen.
Autoren, Übersetzer und Lektoren können über E-Mail Textkorrekturen
austauschen, ohne daß Manuskripte wiederholt abgeschrieben werden
müssen. (So bestürzend banal dieser Hinweis im Jahr 1999 auch
klingen mag, im deutschen Literaturbetrieb muß das analphabetische
Faxgerät seine Dominanz über literatere Technologien noch einbüßen.)
Software-Programmierer und Autoren technischer Handbücher bedienen
sich bereits differenzierterer Techniken wie dem Concurrent
Versioning System (CVS), einer frei erhältlichen Internet-Software,
die einen asynchronen Versions- und Variantenabgleich von kollektiv
geschriebenem Programmcode, aber auch von Textmanuskripten erlaubt
[Ced99]. Darüberhinaus memoriert es alle Revisionen eines Dokuments
und kann jede Bearbeitungsstufe wiederherstellen. Solch ein System
bietet praktische Vorzüge für die Verlags- und Redaktionsarbeit,
ermöglicht aber auch kollektive Schreibexperimente im Stil der
surrealistischen cadavres exquises.
2.2.1 Null
Ein aktuelles Beispiel eines solchen Schreibexperiments im
deutschsprachigen Raum ist die ,,Online-Anthologie`` Null
http://www.dumontverlag.de/null/, die Thomas Hettche für den
DuMont-Verlag betreut. Jüngere deutsche Autoren, unter ihnen Helmut
Krausser, Steffen Kopetzky, Thomas Meinecke, Alban Nicolai Herbst
und John von Dueffel, schreiben auf Null tagebuchartige Notizen, die
auf der Startseite des Projekts zu einem Sternhimmel ikonifiziert
sind. Texte, die auf andere Texte antworten, erzeugen Sternbilder,
ohne allerdings dabei die bildtextliche Komplexität
barock-kombinatorischer Coelum-Gedichte, von Mallarmés Coup de dés
oder den sprichwörtlichen Konstellationen der konkreten Poesie im
Sinn zu haben. Die Prosaminiaturen, die hier entstehen, sind auf
Internet und Computer als Lesemedien nicht angewiesen, ihre
Endfassungen werden folgerichtig in einer gedruckten Anthologie
erscheinen. Ähnlich wie bei Rainald Goetz' Abfall ist der
,,Mehrwert`` gegenüber papierner Publizistik, der den Netzauftritt
von Null begründet, das Prozessuale, das Ausstellen der
Schreibperformance.
2.2.2 Trace
Als ,,Online Writing Community`` bezeichnet sich das Projekt Trace
http://trace.ntu.ac.uk. Es ist an einer englischen Universität
angesiedelt, vergibt Stipendien an Online-Autoren und veranstaltet
Literaturwettbewerbe, zuletzt in Zusammenarbeit mit Robert Coover
[tra]. So verkörpert Trace eine angloamerikanische Tradition der
Hypertext-Dichtung oder ,,Hyperfiction``, die in 3.1.4 genauer
skizziert werden soll.
2.3 Internet als Textdatenbank
Die eingangs gestellte Frage, welche Auswirkungen Computer und
Internet auf die Literatur und den Literaturbetrieb haben, ist noch
nicht ganz beantwortet. Vom Internet als Distributions- und
Schreibmedium war bereits die Rede, als Literaturdatenbank gewinnt
das Internet jedoch nicht minder Bedeutung. Hiervon profitieren
zunächst Kritiker und Philologen. Bibliothekskataloge, die vom
Zettelkasten in die Computernetze gewandert sind, vereinfachen zwar
Titel- und Stichwortsuchen, vergegenwärtigen ihren Benutzern aber
penetrant, wieviel befriedigender es wäre, wenn nicht nur die Titel
der Bücher im Computer abgerufen werden könnten, sondern - wie von
El Lissitzky imaginiert - auch ihr vollständiger Inhalt. Nach
internationalem Urheberrecht kann jedes Buch frei kopiert und
öffentlich in Datennetzen gestellt werden, dessen Autor vor mehr als
siebzig Jahren gestorben ist. Sinnvoll wäre solch eine
Volltextarchivierung aber auch für neu erscheinende Bücher, die
primär Sachwissen vermitteln und keinen wirtschaftlichen Gewinn
abwerfen wie zum Beispiel akademische Arbeiten. Im Zeitalter
sinkender Universitäts- und Bibliotheksbudgets könnte die
Kostenexplosion akademischer Literatur bald erzwingen, daß die
gesamte Wissenschaftspublizistik vom Buch auf Datennetze umgestellt
wird und akademische Titel nur noch dann im Druck erscheinen, wenn
sie über ihr Fachpublikum hinaus Leser ansprechen. Wandern
traditionelle Publikationszweige ins Internet, so wird dies sehr
bald ein radikales Neudenken von Urheberrecht und intellektuellem
Eigentum nötig machen, das zumindest für Fachliteratur das Ende des
heutigen, an den Erfordernissen des Buchdrucks ausgerichteten
Urheberrechts bedeuten könnte. Modellhaft für eine radikale
Neudefinition von Urheberrecht und intellektuellem Eigentum steht
das Copyleft Freier Software wie GNU/Linux [Fre]. Es reflektiert die
Erfahrungen einer Netzkultur, die der von Schriftstellern und
Medienkünstlern zwei Jahrzehnte Erfahrung voraushat und deren
Protagonisten - Unix-Hacker - die eigentliche Avantgarde des
Schreibens in Computernetzen bilden.4
Von der Rechtsproblematik abgesehen wäre die Digitalisierung der
Bibliotheken eine kulturelle Jahrhundertaufgabe. Würden ganze
Schriftgattungen auf elektronisches Publizieren umgestellt, so müßte
sich grundlegend auch die Form ändern, in der Texte am Computer
erfaßt werden. Textverarbeitungsprogramme wie Microsoft Word und
Word Perfect imitieren die Funktion elektrischer Schreibmaschinen
und erzeugen optisch strukturierte Dokumente zum Ausdrucken, statt
Auskunft über die interne logische Strukturierung einer Datei zu
geben, also z.B. Zitate als Zitate und Kapitelüberschriften als
Kapitelüberschriften mit allgemeingültigen Codes kenntlich zu
machen. Logisch strukturierte Textformate auf der Basis der
Codierungsstandards SGML und XML sind heute schon Norm für die
Erfassung kritischer elektronischer Werkausgaben und technischer
Dokumentationen.
Welche Auswirkungen hätte dies auf belletristische
Gegenwartsliteratur? Wohl geringe; daß Textverarbeitungsprogramme
der freien Typographie Vorrang gegenüber der Datenbank-Tauglichkeit
von Texten einräumen, kommt gerade den Bedürfnissen von Lyrikern
entgegen. Allerdings weist der russisch-amerikanische
Medientheoretiker Lev Manovich in einem Aufsatz Database as Symbolic
Form darauf hin, daß Datenbank- Strukturen charakteristisch für
postmoderne Kunstwerke seien, zum Beispiel für die Filme von Peter
Greenaway [Man98]; und, so ließe sich ergänzen, für serielle Musik
und Romane wie Georges Perecs Das Leben - Gebrauchsanweisung oder
Italo Calvinos Unsichtbare Städte. Daß sich ein Datenbank-artiger
Erzähltext ins elektronische Medium übertragen läßt, demonstriert
überzeugend der ELEX, eine intermediale CD-ROM-Fassung des
Lexikonromans des österreichischen Schriftstellers Andreas Okopenko
[Lib98]. Dieser 1970 erstmals erschienene Lexikonroman einer
sentimentalen Reise zum Exporteurstreffen in Druden, so der
vollständige Titel, erzählt keine Geschichte von Anfang bis Ende,
sondern gliedert sich alphabetisch in kurze Kapitel mit
Überschriften wie ,,bunte Stühle``, ,,Hundstage`` und
,,Ultraviolett``, die sich durch zahlreiche Querverweise miteinander
verknüpfen.5 Im ELEX mutiert Okopenkos Roman zu einem elektronischen
Nachschlagewerk, das neben dem alphabetischen auch einen
topographischen Zugriff auf den Text erlaubt und von einer
computergenerierten Lexikon-Sonate des Komponisten Karlheinz Essl
komplementiert wird.
Leider kann ELEX nicht im Internet gelesen werden und ist nur auf
Macintosh-Computern lauffähig. Wer im Netz interessante
elektronische Dichtung sucht, stellt fest, daß dies keine Ausnahme
ist, sondern oft die Regel.
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