[rohrpost] Li(e)ber Frank
Reinhold Grether
Reinhold Grether <Reinhold.Grether@uni-konstanz.de>
Mon, 21 Feb 2000 12:09:02 +0100
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Rohrpostrezension von:
Frank Hartmann, Medienphilosophie, Wien: WUV 2000
DM 39.80
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Frank Hartmann ist einem groesseren Publikum durch seine
1996 bei Passagen veroeffentlichte "Cyber.Philosophy"
bekannt geworden. Auffaellig war darin die Wiederentdeckung
der Wiener Bildstatistik (spaeter ISOTYPE) Otto Neuraths,
der sein utopisches Potential in die Typisierung einer
klassen- und voelkeruebergreifenden reinen Bildersprache
investierte. Die Bildzeichen der Personenleitsysteme, wie
wir sie von Flughaefen kennen, gehen u.a. auf Neurath
zurueck. Hatte Wien mit der Ringstrasse der realisierten
Utopie des 20. Jahrhunderts, dem Verkehr, ein
unuebersehbares Wahrzeichen gesetzt, brauchte es einen
weiteren Wiener, der die Strassenschilder aufstellte, damit
man mehr als nur "im Kreis herumfahren" (Lauda) konnte.
Neurath ist fuer Hartmann, typologisch gesprochen, der
Typus, der, wie Johannes der Taeufer, auf den ihn
ueberbietenden Antitypus Flusser verweist, der die
"Blase" (Sloterdijk) des neuzeitlichen epistemischen
Raums unwiderruflich platzen liess.
Als einer der ersten deutsch schreibenden Wissenschaftler
besass und, wichtig, pflegte Frank Hartmann eine Homepage
http://mailbox.univie.ac.at/Frank.Hartmann/index.htm
auf der die Linkseite
http://mailbox.univie.ac.at/Frank.Hartmann/Links/index.htm
und die Online-Essays
http://mailbox.univie.ac.at/Frank.Hartmann/Essays/index.htm
einen guten Ueberblick ueber das Interessensspektrum
des Autors bieten. Man erfaehrt weiter, dass Hartmann
"Philosophische Grundlagen kommunikationswissen-
schaftlicher Theorienbildung" am Wiener Publizistik-Institut
lehrt, und ein Vergleich der Vorlesungsseite
http://mailbox.univie.ac.at/Frank.Hartmann/Vorlesung/Inhalt.htm
mit der Medienphilosophie-Seite
http://www.pettauer.net/testarea/phrank/
zeigt, dass Frank Hartmanns juengstes Buch "Medien-
philosophie" auf diese Vorlesungen zurueckgeht. Wer diesen
Links folgt, kann auf der buchbegleitenden Homepage die
Kapitel-Zusammenfassungen nachlesen und sich so ein Bild
des Buchs verschaffen.
Das Buch ist in der relaunchten UTB-Reihe erschienen.
UTB, das waren dichte Textbloecke zwischen knallroten
Abwaschdeckeln. Auf letztere muss man im vergroesserten
Format nicht verzichten, ins Innere sind eine verbesserte
Textnavigation, eine zweispaltige Fussnotenleiste,
Mehrschriftigkeit und eine gefaellige Abbildungsintegration
eingezogen. Das bedeutet nun aber nicht - und das gilt fuer
Form wie Inhalt des Buchs - dass man es hier mit einer
Antwort des Buchs auf die Herausforderung des Netzes -
gewissermassen einer Gegentypologisierung des Antitypus
Internet - zu tun bekaeme. Buchform wie Buchinhalt
reagieren nicht aufs Netz der neunziger, sondern auf die
Text-Bild-Debatte der achtziger Jahre. Wer wissen will,
wie das Buch nach dem Netz aussehen koennte, muss zu
Artur P. Schmidts "Wissensnavigator" (DVA 1999)
http://wissensnavigator.europop.net/frameset.htm
greifen, ein veritabler Buch-Browser, der den Kopf auf
nicht-lineare Weise mit den Wissensgegenstaenden unserer
Zeit verbindet.
Hartmann legt eine Achse durch den neuzeitlichen
epistemischen Raum, auf der die Perlen seiner Analyse
eine Erfolgsgeschichte unaufhaltsamer Multimedialisierung
glaubhaft machen. Reagiert Descartes, mit dem das zu
Flusser fuehrende Buch einsetzt, auf die europaeischen
Religionskriege mit der Konstruktion eines friedenstiftenden
rein denkenden Gegenstandes - friedenstiftend, weil fuer
alle gleich -, so haengt die Konstruktion und mit ihr die
Kriegsvermeidung am seidenen Faden der Publizistik,
die eine nonmediale 1:1-Uebersetzung von bereinigter
Subjektivitaet in beliebige Sprachformen zu leisten haette.
Man braeuchte gewissermassen einen Abdruck des
Unbezweifelbaren, und Hartmann zeigt sehr schoen, wie
die real existierende Technologie des Buchdrucks mit
diesem Anspruch belegt wird und trotz ihres Vermoegens
zu identischer Reproduktion daran scheitert. Wie schon
die Publizistik der Offenbarung, so fuehrt auch die
Publizistik der Vernunft den Buergerkrieg deshalb wieder
ein, weil Dornbusch und Selbstzweifel nicht rein, sondern
nur in kulturellen Versionen und medialen Brechungen
mitgeteilt werden koennen. Was den Buergerkrieg, in der
subkutanen Relektuere Hartmanns, jedoch verzoegern und
vielleicht fuer immer verschieben koennte, waere, um es netzig
zu sagen, mehr Bandbreite, also die Wiedereinfuehrung jener
Elemente der Faszination des Ereignisses bzw. der Klarheit,
die im Druck nicht erscheinen und in der fortschreitenden
Multimedialisierung publizistisch gewissermassen nachgereicht
werden. Wer die Triumphgeschichte des Wiedereinzugs des
Medialen in den europaeischen Denkraum entlang der
Geistesriesen Descartes, Kant, Herder, Humboldt, Hamann,
Peirce, Frege, Neurath, Husserl, Heidegger - Warburg und
Cassirer fehlen -, Benjamin, Anders, Innis, McLuhan
und Flusser nachvollziehen will, erhaelt mit Hartmanns
"Medienphilosophie" einen aufschlussreichen, eigenwilligen
und gut lesbaren Leitfaden.
Bekanntlich linearisiert niemand mehr als der emphatische
Entlinearisierer. Flusser war auf diesem Gebiet geradezu
der Blinde unter den Einaeugigen. Die gesamte
Mediengeschichte konnte er glaubhaft auf ein knappes
Ablaufschema verkuerzen. Sein Buch "Die Schrift" stellte
er am 5. 2. 1987 in meinem Seminar "Neuerscheinungen
im Spannungsfeld Bild-Schrift-Text" einem ueberwaeltigten
Publikum vor. Es war das erste deutschsprachige Buch,
das gleichzeitig in Buch- und Diskettenform erschien. Den
Endlosausdruck hatte ich in Einzelblaetter zerlegt und
jedem Besucher der oeffentlichen Veranstaltung ein anderes
Blatt in die siebenseitige Tischvorlage eingeheftet. Eingeladen
wurde mit Fotoabzuegen des vom Monitor abfotografierten
Bildschirmtextes. Flussers Botschaft war die Delinearisierung,
die er in der Ueberstrenge seines Geschichtslinearismus
kommunizieren musste. Wer die Botschaft "annahm", konnte
die Leiter wegwerfen.
Ein nachflussersches leiterloses Nach-Buch hat Hartmann
nicht geschrieben. Er bleibt es uns schuldig.
Reinhold Grether
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Die Weltrevolution nach Flusser
http://www.snafu.de/~klinger/flusser/
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