[rohrpost] Schweifende Blicke: Ueber Oliver Whiteheads Video mind's eye
Andreas Broeckmann
Andreas Broeckmann <abroeck@mikro.in-berlin.de>
Fri, 12 Jan 2001 10:10:18 +0200
[dieser text entstand fuer der katalog des internationalen
medienkunstpreises 2000, in dessen video-kategorie die arbeit von Whitehead
sich mit Jonathan Hodgsons Feeling My Way den ersten preis geteilt hat;
mind's eye wird am montag, 5.2. im rahmen des screening programms
'Surviving in a Digital World' (17-19 h) auf der transmediale.01 in berlin
zu sehen sein; abroeck]
Schweifende Blicke
Ueber Oliver Whiteheads Video mind's eye
Andreas Broeckmann
1. Blick aus dem Zugfenster
Sie fahren mit dem Zug durch eine beliebige Vorstadt. Abstellgleise,
Rangierterrains, Boeschungen und Oberleitungen, die mit Daemmen,
Straeuchern und Baeumen vor den Blicken der Stadtbewohner abgeschirmt sind,
bieten sich dem Reisenden in nackter Gleichgueltigkeit dar. Zweifellos sind
diese Strecken ohne jeden Sinn fuer AEsthetik gebaut. Sie sind einer
strengeren Oekonomie unterworfen, die nicht den geringsten Versuch macht,
mehr darzustellen als ihre Funktion: es sind technische Anlagen fuer den
Transport von Guetern und Personen, die durch die industriellen Hinterhoefe
der Staedte fuehren.
Lange Zeit haben sich menschliche Siedlungen den Verkehrswegen, die zu
ihnen fuehrten, zugewandt. Befestigte Kreuzungen, Furten und Flu=DFmuendunge=
n
wurden zu den zentralen Orten staedtischer Zivilisation. Stolz kehrten sich
die Haeuserfassaden mit ihren Arkaden, Schmuckgiebeln und Fenstern den
Verkehrsadern zu. Gleicherma=DFen wurden Landstra=DFen in Hinsicht auf die
Erfahrung der Landschaft gebaut. Der Sinn fuer die Aesthetik der Landschaft
beim Reisens kulminierte in der Mitte des 20. Jahrhunderts in der Anlage
von Autobahnen und Passstra=DFen als Panoramastrecken.
Im Eisenbahnbau dagegen ueberwiegt die Oekonomie der Distanzueberwindung
gegenueber der AEsthetik des touristischen Blicks. Die Einfahrt in groe=DFer=
e
Staedte mit dem Zug zeigt weder ihre Wahrzeichen, noch will sie einen
attraktiven ersten Eindruck vermitteln. Mit den Hochgeschwindigkeitszuegen
schlie=DFlich naehert sich die aesthetische Erfahrung des Zugfahrens
zunehmend derjenigen des Fliegens - sie wird zum Tunnelblick, bei dem die
Au=DFenwelt durch visuelle Redundanz, Geschwindigkeit und Sicht- und
Schallschleusen bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wird. Den Blick des
Reisenden lenkt man dann mit Videomonitoren in den Ruecklehnen der Sitze ab.
2. Minimale Aufmerksamkeit
Oliver Whiteheads Videoarbeit mind's eye (1999) zeigt den Blick aus einem
Zug. Eine blasse und identitaetslose Vorortlandschaft zieht vorbei. Bei
einer Geschwindigkeit von vielleicht 50 km/h lassen sich einzelne
Gegenstaende einen Moment lang fixieren und verfolgen, dann verschwinden
sie am Rande des Blickfeldes. Das Video zeigt in Einzelschnitten eine lange
=46olge solcher Blicke; in Fahrtrichtung vorausschauend, findet die Kamera
ein Objekt, schwenkt gegen die Fahrtrichtung, um es so lange wie moeglich
zu fixieren, und verliert es dann am rueckwaertigen Rand des
=46ensterrahmens.
Die Kamera sucht die Graffiti, die von Jugendlichen auf Hauswaende,
Brueckenpfeiler, Unterfuehrungen, Wartehaeuschen und Verkehrsschilder
gesprueht worden sind. Ab und an bleibt der Blick an Menschen haften, die
entlang der Bahnstrecke laufen, Spaziergaenger, die ihre Hunde ausfuehren,
Leute, die von der Arbeit, vom Einkaufen, vielleicht von der naechsten
Bahnhaltestelle kommen. Ein drittes wiederkehrendes Motiv sind Antennen und
Satellitenschuesseln, vor allem auf Privathaeusern. Auch sie werden vom Zug
aus nur kurz fixiert und verschwinden mit derselben Unausweichlichkeit aus
dem Blickfeld. Vor allem aber sehen wir Graffitis, Spruehzeichnungen
zwischen Text und Bild, fuer deren Entzifferung keine Zeit bleibt. Sie sind
sowieso meist unlesbar, gelegentlich erkennt man raetselhafte
Buchstabenkombinationen, Namen vielleicht oder eigenwillige Akronyme.
Anfang und Ende des Bandes scheinen arbitraer gewaehlt; nach einigen
Eroeffnungsschnitten mit vorbeifliegenden Felsabbruechen beginnt die Folge
der eiligen Schwenks. Ohne offensichtliche Dramaturgie oder Logik,
allerdings mit einem feinen Sinn fuer den Rhythmus und die Dynamik der
Sequenzen, bricht das Band nach etwa 8 Minuten ab. Dieser Moment ist vom
Ende der Tonspur bestimmt, die die Bilder begleitet: die kuenstliche Stimme
eines Text-zu-Sprache-Computerprogramms traegt Auszuege aus einem
englischsprachigen Thesaurus vor, und zwar zum Wortfeld Kreativitaet
("Formation of ideas, imagination, inspiration, originality, fantasy,
=2E.."). Intentions- und emotionslos verdoppelt dieser gesprochene Text, dem
uebrigens auch der Titel mind's eye entnommen ist, den gleichgueltigen
Rhythmus der Bilder und reflektiert zugleich auf die idiosynkratischen
Ausdrucksformen, in denen sich die Graffiti verdichten.
3. Die Haut der Stadt
Graffiti gehoeren zu den auffaelligsten Elementen im Bild der
post-industriellen Stadt. Mitte der 70er Jahre beschreibt Jean Baudrillard
in einem Aufsatz das damals junge Phaenomen als strategische Intervention
in die urbane Struktur ("Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen", 1975)
und liefert interessante Hinweise fuer die Interpretation der Videoarbeit
von Oliver Whitehead. Die Stadt ist, so Baudrillard, nicht laenger bestimmt
von einer Zeichenmatrix der Arbeit und des Handels. Stattdessen ist sie
fast ausschlie=DFlich codiert mit den Zeichen des Konsums, die vornehmlich
von den Bild- und Textmaschinen der Medien produziert werden, die aber auch
in die Architektur und urbanistischen Anlagen der Staedte eingeschrieben
sind.
Anders als die politischen und poetischen Wandlosungen der 50er und 60er
Jahre setzen Graffiti hiergegen nicht die Passion des ausdruecklichen
Widerstands, sondern leere Signifikanten, die sich der Lesbarkeit und
Deutbarkeit bewusst entziehen. Es geht um die Einschreibung in eine
bedeutungsneutrale, suburbane Landschaft und um die Besetzung
nicht-signifikanter Oberflaechen der Stadt mit Zeichen, die den decodierten
urbanen Raum als kollektives Territorium bestimmen (Baudrillard). Wo
normalerweise eine vollstaendige Neutralisierung des Sichtbaren stattfindet
- eben an jenen Rueckseiten der Stadt, durch die die Strecken der
Vorortzuege geschnitten sind -, wird der Stadt ein Koerper gegeben und ihre
neutrale Flaechen zu erogenisierten Zonen umgewandelt. Die Graffiti in
Oliver Whiteheads Video sind fuer diejenigen Leute gemacht, die im Zug
vorbeifahren, die also den oeffentlichen Nahverkehr nutzen statt des
automobilen Individualverkehrs. Mit dieser Kollektivitaet des Fahrens ist
unmittelbar die Kollektivitaet der Zeichenwahrnehmung verbunden. "Indem sie
die Waende taetowieren, befreien SUPERSEX und SUPERCOOL sie von der
Architektur und machen sie wieder zu einer lebendigen, immer noch sozialen
Materie, zum beweglichen Koerper der Stadt vor seiner funktionalen und
institutionellen Markierung." (Baudrillard)
4. Wovon auch Baudrillard 1975 noch nichts wu=DFte
Whitehead weicht vom Prinzip semiotischer Redundanz nur an einer Stelle ab.
In der Mitte des Bandes sind mehrere Graffiti zu sehen, die deutlich als
"Virus" und "HIV" zu lesen sind. Kaum ein Zufall, ist diese kurze Serie
jedoch nicht eindeutig zu interpretieren. Hinweis auf ein schwarzes Loch in
der Haut der Stadt? HIV als ein irreduzibles Zeichen, das sich gegen das
postmoderne Treiben der Bedeutungen straeubt? Assoziation des
Graffiti-Spruehens mit einer viralen Taetigkeit, die im Sinne von Burroughs
"language is a virus" in den Koerper der Stadt eindringt und sein
Immunsystem schwaecht?
5. 'Derive' des Auges
Das Gegenbild zu den a-signifikanten Graffiti sind im Video die Antennen
und Satellitenschuesseln, die den koerperlosen und individualisierten
Empfang medialisierter Konsumbotschaften ermoeglichen. Zwischen beiden
Zeichensystemen, zwischen Graffiti und Antennen, entspinnt sich das Gewirr
der Wege, auf denen Menschen allein und gemeinsam durch die Stadt streifen,
zu Fu=DF und in Zuegen. Diese Semiotik der Stadt ist bestimmt von
unsichtbaren Zeichnern, schattenhaften Medienkonsumenten und anonymen
Pendlern.
Auffaelligerweise ist die Stadt in mind's eye eine Stadt ohne Autos, eine
Stadt der Fu=DFgaenger und Bahnfahrer. Sie erinnert an die utopische Stadt
des Situationismus, deren Psychogeografie mit Hilfe von nicht-funktionalen,
nicht-signifikanten Markierungen im Umherschweifen erfahren und
kartografiert wird. Das 'Derive' (Umherschweifen) von Whiteheads Kamera ist
freilich nicht dem Zufall oder der Intuition des situationistischen
Urbanisten ueberlassen, sondern ist der unausweichlichen Bewegung des Zuges
unterworfen. So ist die Oekonomie von Raum und Begehren hier auch weit
weniger romantisch bestimmt als die der Situationisten, sondern sie wei=DF
sich in direkter Abhaengigkeit von der technischen Logik der Fortbewegung.
6. Schule des unaufmerksamen Blicks
Am Anfang seines Buches zur Landschaftswahrnehmung im Frankreich des 19.
Jahrhunderts, The Spectacle of Nature (1990), beschreibt der englische
Kulturwissenschaftler Nicholas Green den Blick aus dem Fenster eines Zuges
und nimmt dies als Ausgangssituation fuer eine Reflexion ueber die
Konstruiertheit des modernen Naturbildes. Im gleichen Duktus lae=DFt sich an
mind's eye ueber den puren Realismus der Darstellung hinaus ablesen, wie
die Darstellung und ihre Technologien zur Konstruktion sozialer
Wirklichkeit beitragen; hier also: wie die Videoarbeit ein Bild der
"urbanen Bedingung" entwirft, die das ziellose Durchkreuzen der Vorstaedte
im Zug mit dem schweifenden Blick verbindet, der die neue Semiotik der
Stadt "scannt", oder einliest, und mit einem ironischen, maschinisierten
Vortrag ueber kreatives Handeln konterkariert. Das grobkoernige Videobild
und die verfremdete Stimme des Computers schaffen dabei eine Distanz zum
Dargestellten, als betrachte man aus der Perspektive einer au=DFerirdischen
Maschine die Archaeologie der menschlichen Kreativitaet am Ende des 20.
Jahrhunderts.
Was aussieht wie die Aneinanderreihung leerer Blicke in ein sinnlos
voruebertreibendes Wirklichkeitskino - wir sind unweigerlich erinnert an
den Klassiker des Ambient TV, die Reihe "Deutschlands schoenste
Bahnstrecken", in der eine festinstallierte Kamera an der Lokomotive eines
Zuges ueber Stunden den Blick in die vorbeiziehende Landschaft zeigt -, ist
die sehr bewu=DFte Inszenierung einer Wahrnehmung, die den Blick fuer die
Zeichen einer unauffaelligen Urbanitaet im Takt ihres Auftauchens und
Verschwindens schult.
=46uer Nick Green, einen weiteren Pendler.
(Berlin, August 2000)
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