[rohrpost] Open Content: ein juristischer Computer-Virus

Oliver Gassner fraktal@gmx.de
Fri, 06 Jul 2001 21:58:28 +0200


Open Content: ein juristischer Computer-Virus

Florian Cramer aus Berlin =FCber Copyright im digitalen Zeitalter

Im Internet gibt es alles umsonst. Vor allem: Texte und Musik.
Und Filme und Software. Ist das alles legal? Oder gar gut? Womit
verdienen die Menschen, die diese Inhalte geschaffen haben, Geld?
Was geschieht, wenn einfach jemand diese Arbeiten nimmt und f=FCr
die eigenen ausgibt? Oder kopiert und verkauft? Gilt das
Urheberrecht?=20
Florian Cramer, Literaturwissenschaftler an der Freien
Universit=E4t Berlin, gab bei einem Vortrag in der Stadtb=FCcherei
Stuttgart einen =DCberblick =FCber die Problemfelder des geistigen
Eigentums im Informationszeitalter. Schon das Thema seines
Vortrags war erl=E4uterungsbed=FCrftig: "Open Content". Was ist unter
"Content" zu verstehen und was gar unter "Open"?

Content: Was unterscheidet ein Programm von einem Gedicht?

Es zeigte sich im Vortrag recht schnell, dass eine Abgrenzung
zwischen den Inhalten (Content) z.B. des Internets und Programmen
oder Betriebssystemen nicht einfach ist. Denn wo genau ist die
Grenze zwischen einem als Programmcode - also in Computer-Sprache
- vorliegenden Verfahren (Algorithmus) und der
normal-sprachlichen Beschreibung dieses Verfahrens in einem Text.
Auf das Programm wird in der Regel das Patentrecht angewandt, auf
den Text hingegen das Urheberrecht oder international das
Copyright. Einen Text erwirbt man in Papierform - oder ein Lied
in Form eines Tontr=E4gers - und kann ihn beliebig oft nutzen und
nach Nutzung eventuell auch wieder weiterverkaufen. Als
Bibliothek kann man ein Buch beliebig oft verleihen. F=FCr Software
hingegen werden Lizenzen vergeben. Man erwirbt nicht das
Programm, sondern lediglich eine oft eng gefasste Erlaubnis zu
dessen Nutzung. Verleih oder Wiederverkauf sind oft entweder
unm=F6glich oder an strenge Auflagen gebunden. Allerdings gehen die
Bestrebungen vieler, gerade sehr innovativer, Firmen dahin, auch
auf die Beschreibung von Verfahren das Patentrecht anzuwenden und
Geld aus der Vergabe von Lizenzen f=FCr deren Nutzung einzunehmen.
Die Grenze zwischen Software und Texten, Programmen und Inhalten
(elektrodeutsch: Content) verschwimmt.
Diese Grenzaufl=F6sung legt es nahe zu =FCberpr=FCfen, ob nicht
bestimmte Lizenzformen, die f=FCr Software taugen, nicht auch f=FCr
Inhalte taugen k=F6nnten.

Ausgeschlossen: Dateien d=FCrfen nicht ins Antiquariat

Zun=E4chst behandelte Cramer die lizenzrechtlichen und technischen
Einschr=E4nkungen, die sozusagen "geschlossene" Nutzung.
Es zeichnen sich Tendenzen ab, die Nutzung von Software oder
digitalen Bildern, T=F6nen und Filmen auf einzelne Personen oder
einzelne Ger=E4te zu beschr=E4nken. Neue Versionen des
Betriebssystems Windows sind nur auf dem Computer, mit dem sie
erworben werden, einsetzbar. Zuk=FCnftige Versionen sollen gar
nicht mehr als unbefristete Nutzungs-Lizenz verkauft, sondern
monatsweise gemietet werden k=F6nnen - =E4hnlich dem Pay-TV a la
"Premiere".
Filme, die auf den neuen DVD-Scheiben gespeichert sind, sind gar
mit einem Regio-Code versehen, der daf=FCr sorgt, dass ein in den
USA gekaufter Film auf europ=E4ischen DVD-Abspielger=E4ten nicht
funktioniert und kopieren kann man die Filme erst recht nicht.
Cramer verglich das bildhaft mit einem in den USA gekauften Buch,
dessen Seiten sich beim =DCberqueren des Atlantik in Asche und
Rauch aufl=F6sen.
Der Wissenschaftler skizzierte auch die Ver=E4nderungen, die sich
bei dem Internet-Dienst Napster in den letzen Monaten nach der
=DCbernahme durch Bertelsmann ergeben haben: Waren fr=FCher in der
Musiktauschb=F6rse digitale Popsongs gratis tauschbar, so ist es
heute nur m=F6glich, den Dienst gegen Bezahlung zu abonnieren und
eine Datei zu erhalten, die lediglich auf einem Computer wieder
als Musik anzuh=F6ren ist. Ein =82Brennen' der Lieder auf CD, wie das
fr=FCher m=F6glich war, wird zudem durch einen Kopierschutz
verhindert. Ein Zuh=F6rer nannte das Beispiel, dass einige Lizenzen
f=FCr elektronische B=FCcher sogar das laute Vorlesen verbieten. Wer
also aus dem betreffenden E-Book seinen Kindern die =82Schatzinsel'
vorliest macht sich strafbar. Cramer erl=E4uterte, dass diese
Einschr=E4nkungen unter anderem bedeuten, dass das deutsche
Urheber- und Verwertungsrecht durch freie Vereinbarungen
eingeschr=E4nkt wird, die zum Teil das amerikanische
Copyright oder noch engere Lizenzen auch f=FCr die Nutzung in
Europa in Kraft setzen.

Closed: Wissen unter Ausschluss der =D6ffentlichkeit

F=FCr Privatleute sind die oben aufgef=FChrten Einschr=E4nkungen bei
der Nutzung digitaler Inhalte ja eventuell hinzunehmen. F=FCr
Bibliotheken jedoch bedeuten diese Regelungen und technischen
Ma=DFnahmen, dass sie die entsprechenden Medien oft =FCberhaupt nicht
zur Ausleihe oder auch nur Nutzung in den R=E4umen der Bibliothek
anbieten k=F6nnen. Die Programme, Texte, Lieder, Filme und Bilder
sind also von einem =F6ffentlichen Zugang ausgeschlossen.

Open: Information wants to be free

Wie nun ist dieses Problem zu l=F6sen? Gerade das Nebeneinander von
Bibliotheken, als offene und freie Nutzungsform von Inhalten, und
den Verlagen, Druckereien und dem Buchhandel zeigen, dass eine
=F6ffentliche Nutzung von Inhalten deren kommerziellen Vertrieb
nicht behindern muss sondern vielmehr sinnvoll erg=E4nzt. Florian
Cramer bezeichnete gerade die Bibliothek als Modell f=FCr eine
sinnvolle Regelung von Nutzungsrechten im digitalen Zeitalter.
Und bei der Software zeichnen sich neben den oben skizzierten
Einschr=E4nkungen seit dem Ende der 90-er Alternativen ab: Die
sogenannte Open-Source-Bewegung, deren prominentestes Produkt das
kostenfreie Betriebssystem Linux ist, nutzt eine Lizenzform, die
nicht nur die kostenfreie Nutzung von Programmen erlaubt, sondern
auch erm=F6glicht, dass die Programme modifiziert werden d=FCrfen
oder gar - zu Paketen geschn=FCrt - kommerziell vertrieben werden
k=F6nnen. Das ist, was mit dem Begriff =82open' gemeint ist: Gratis
verf=FCgbar, frei modifizierbar, mit der Erlaubnis der Weitergabe
auch gegen Geb=FChr f=FCr eine Bearbeitung. Wer aber die Software
einmal erworben hat, der darf sie seinerseits wieder unbeschr=E4nkt
weitergeben.=20
Der Trick dabei: Jede Software, die wiederum Programmteile nutzt,
die unter der offenen Lizenz (der sogenannten "GNU Public
License" (GPL) ) stehen, muss zwingend auch unter dieser Lizenz
vertrieben werden, ist also wieder mit offenem Quellcode,
Modifikationserlaubnis und Verbreitungserlaubnis ausgestattet.
Cramer erkl=E4rt: "Das ist praktisch ein juristischer
Computer-Virus, ein Hack des Copyrights."

Modell: Freie Wissenschaft

Neben der Open-Source-Bewegung und den Bibliotheken bietet sich
ein weiteres Modell an: Das des Wissenschaftsbetriebs, in dem
nicht nur eine freie Zitierbarkeit herrscht sondern auch die
Patentfreiheit von Wissen:
Einstein hatte eben kein Patent auf die Relativit=E4tstheorie und
kein Forscher musste ihm f=FCr die Nutzung seines Wissens
Lizenzgeb=FChren entrichten.
Gerade Erkenntnisse und Ergebnisse, die unter staatlicher
Finanzierung entst=FCnden, so Cramer, m=FCssten eigentlich unter eine
Open-Content-Lizenz gestellt werden. Es sei nicht
nachvollziehbar, dass staatliche Bibliotheken B=FCcher ankauften,
deren Inhalte ebenfalls vom Staat finanziert worden seien.
Denkbar und sinnvoll sei es zum Beispiel, wenn
eine Forschergruppe ihre Ergebnisse lediglich in elektronischer
Form selbst publiziere und die Druckrechte komplett freigebe.
Gegen eine Verf=E4lschung von Inhalten oder deren Manipulation gebe
es in den bereits vorliegenden Lizenzentw=FCrfen f=FCr "Offene
Inhalte" entsprechende Klauseln, so dass eine Zensur
ausgeschlossen werden k=F6nne.
Gleiches gelte f=FCr die Produktionen des =F6ffentlichen Rundfunks
oder Projekte, die von der deutschen Forschungsgemeinschaft
gef=F6rdert worden seien. Dass die Gesellschaft f=FCr diese Inhalte
ein zweites Mal bezahle sei schwer hinnehmbar. Cramers
pers=F6nliche Konsequenz: "F=FCr mich ist es eine Frage der
wissenschaftlichen Ethik, dass ich meine Doktorarbeit
nach Fertigstellung unter einer Open-Content-Lizenz freigebe."
Am Schluss von Florian Cramers Vortrag stand der Appell: Ein
offener und freier Informationsfluss in einer demokratischen
Gesellschaft sei nur zu gew=E4hrleisten durch offengelegte,
unpatentierte Datenformate, lizenzfreie Verarbeitungs-Verfahren
und gemeinfreie Betriebssysteme und Programme.

Oliver Gassner (og)
www.carpe.com
kontakt@carpe.com

Links:
http://opentheory.org - Open Theory  (dt.)
http://opencontent.org  - Open Content Lizenz (engl.)
http://www.linux.org - Linux Online (engl.)
http://everything2.org - Textcommunity (engl.)
http://nupedia.com - Offene Enzyklop=E4die (engl.)

Copyright (c) 2001 by Oliver Gassner (http://oliver-gassner.de).
This material may be distributed only subject to the terms and
conditions set forth in the Open Publication License, v1.0 or
later (the latest version is presently available at
http://www.opencontent.org/openpub/). Distribution of
substantively modified versions of this document is prohibited
without the explicit permission of the copyright holder.
Distribution of the work or derivative of the work in any
standard (paper) book form is prohibited unless prior permission
is obtained from the copyright holder.

****=20
ca. 7638 Anschl=E4ge (es wird aller Text im Dokument gez=E4hlt, incl.
=DCberschriften etc.)
Zeilen a 40 Anschl=E4ge ca. 191
Zeilen a 60 Anschl=E4ge ca. 127
Normseiten a 1.800 Anschl=E4gen (30 Zeilen a 60) ca. 4,2
(Fehlerquote ca. 0,2 Seiten)

--=20
Oliver Gassner
Literatur Online: http://www.carpe.com
Voice: 07042 978272 -- Fax 07042 940656