[rohrpost] Chlebnikov: Lebedija der Zukunft (1915)

Inke Arns inke@snafu.de
Sat, 23 Jun 2001 11:34:39 +0200


[Neben seinem Text "Radio der Zukunft" von 1921 (hat den jemand digital
vorliegen?) ist dieser Text von Chlebnikov aus dem Jahr 1915 wohl einer der
interessantesten / seltsamsten / vision=E4rsten. Gruss, IA]

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Velimir Chlebnikov (1885-1922)


Lebedija der Zukunft (1915)

Himmelsb=FCcher

Auf den Pl=E4tzen in der N=E4he der G=E4rten, in denen die Arbeiter oder,=
 wie sie
sich nannten, Schaffenden der Ruhe pflegten, ragten hohe, weisse Mauern
empor, die an grosse, am schwarzen Himmel aufgeschlagene B=FCcher erinnerten=
.
Davor standen, dicht gedr=E4ngt, die Scharen des Volkes, w=E4hrend die
Gemeinschaft der Schaffenden in Schattenschrift die neuesten Nachrichten in
die Schattenb=FCcher druckte, indem sie mit dem leuchtenden Auge einer
Laterne Schattenbuchstaben an die W=E4nde warf. Neuigkeiten vom Erdball, das
Geschehen in den Vereinigten Staaten von Asien, diesem m=E4chtigen Bund aus
Schaffensgemeinschaften, Gedichte, die pl=F6tzliche Eingebung eines
Mitglieds, wissenschaftliche Neuigkeiten, Nachrichten von lieben
Anverwandten, Verordnungen der Ratsversammlung. So mancher zog sich,
befl=FCgelt von den Aufschriften an den Schattenw=E4nden, f=FCr eine Weile
zur=FCck, um seine Eingebungen zu notieren, worauf diese eine halbe Stunde
sp=E4ter, durch ein Lichtglas geworfen, in Schattenworten an einer der W=E4n=
de
aufleuchteten. Bei tr=FCbem Wetter ben=FCtzte man die Wolken zum Abdruck der
neuesten Nachrichten. Einige baten, sterbend, man m=F6ge die Nachricht von
ihrem Tod in die Wolken schreiben. An Festtagen wurde ein =91Malen mit
Gewehrsalven=92 veranstaltet. Geschosse mit verschiedenfarbigem Rauch wurden
an verschiedene Punkte des Himmels abgefeuert. Etwa, die Augen =96 ein Blitz
aus blauem Rauch, die Lippen =96 ein Schuss aus blutrotem Rauch, die Haare =
=96
Silbernebel. Ein pl=F6tzlich am wolkenlosen Blau des Himmels erscheinendes,
vertrautes Gesicht brachte die Ehrerbietung der Bev=F6lkerung f=FCr ihren
F=FChrer zum Ausdruck.


Ackerbau. Der Pfl=FCger in den Wolken

Im Fr=FChling konnte man beobachten, wie zwei Wolkeng=E4nger wie Fliegen die
vertr=E4umten Wangen einer Wolke entlangkrochen und, eine Egge hinter sich
herziehend, eifrig die Felder pfl=FCgten. Von Zeit zu Zeit waren die
Wolkeng=E4nger verschwunden; wenn eine Wolke sie den Blicken entzog, schien
es, als w=FCrde die eifrige Wolke, wie Ochsen in ein Joch gespannt, die Egge
hinter sich herziehen. Sp=E4ter kamen, hinter Wolken verborgen, majest=E4tis=
che
Gie=DFkannen geflogen, wie Himmelsflieger, um das gepfl=FCgte Land mit
k=FCnstlichem Regen zu besprengen und ganze Str=F6me von Samen =FCber das La=
nd
auszugiessen. Der Pfl=FCger war in die Wolken umgezogen und konnte von dort
mehrere Felder, den ganzen Boden seiner Sippschaft, auf einmal bestellen.
Ein einzelner Pfl=FCger, hinter Fr=FChlingswolken verborgen, konnte die Feld=
er
mehrere Familien bebaun.


Verbindungswege. Funkbriefe

An einigen Stellen verbanden Unterwasserwege mit gl=E4sernen W=E4nden die
beiden Ufer der Volga. Die Steppe bekam noch mehr =C4hnlichkeit mit einem
Meer. Im Sommer zogen Schiffe am Trockenen, mittels Wind und einem Segel,
auf R=E4dern =FCber die endlose Steppe. Donnerw=E4gen, Schlittschuhe und
Segelschlitten verbanden sie D=F6rfer untereinander. Jede J=E4gersiedlung ha=
tte
sich mit einem Feld zum Start von Luftk=E4hnen sowie einem eigenen
Aufnahmeger=E4t f=FCr Strahlengespr=E4che mit dem Erdball ausger=FCstet. Die
empfangenen Funkstimmen vom anderen Ende der Welt waren augenblicklich im
Druck auf den Schattenb=FCchern zu lesen.


Heilung durch Augen

Die Fr=FChlingsaussaat durch die Wolken, die Schattenb=FCcher, die den Plane=
ten
zu einer wissenschaftlichen Gemeinschaft verbanden, die Segel der Schiffe
am Trockenen, die die Steppe wie ein Meer durchzogen, die Mauern der
Pl=E4tze, jene gro=DFen Lehrer der Jugend, hatten das Aussehen Lebedijas bin=
nen
zwei Jahren merklich ver=E4ndert. In Schattenleses=E4len lasen Kinder
gleichzeitig in ein und demselben Buch, das Seite f=FCr Seite vor ihnen, von
einem Mann hinter ihnen, umgebl=E4ttert wurde ... Pflanzen, V=F6gel und
Schildkr=F6ten erhielten das Recht, auf einem umz=E4unten St=FCck Land zu le=
ben,
zu sterben und zu wachsen. Es wurde zur Regel erhoben, dass kein einziges
Tier abhanden kommen d=FCrfe. Ber=FChmte =C4rzte hatten entdeckt, dass die A=
ugen
lebendiger Tiere besondere Strahlen mit heilender Wirkung f=FCr seelisch
ersch=FCtterte Menschen aussandten. Zur Seelenheilung verschrieben die =C4rz=
te
das blosse Betrachten von Tieraugen, waren es nun die sanften, untert=E4nige=
n
Augen der Kr=F6te, der starre Blick der Schlange oder der mutige des L=F6wen=
 =96
und ma=DFen dem ebensolche Bedeutung bei, wie sie ein Stimmer f=FCr verstimm=
te
Saiten hat. Die Heilung durch Blicke wurde ebenso verbreitet wie heutzutage
die Heilung durch ein bestimmtes Wasser.
Das Dorf verwandelte sich in eine wissenschaftliche, von einem
Wolkenpfl=FCger gelenkte Zadruga. Mit festem Schritt n=E4herte sich der
gefl=FCgelte Schaffende nicht nur der Gemeinschaft aller Menschen =FCberhaup=
t,
sondern der Gemeinschaft aller Lebewesen des Erdballs.
Und an seiner T=FCr vernahm er das Klopfen einer winzigen Affenfaust.

(=DCbersetzung: Rosemarie Ziegler)


(*Lebedija* =96 im Altertum Name des gesamten Steppenlandes zwischen Don und
Wolga. *Zadruga* =96 Genossenschaft, Verband. Ein slawisches Wort, im
Serbischen z.B. bis heute gel=E4ufig, im Russischen verloren)


[Chlebnikov, Velimir: Lebedija [1915/1928]. In: Ders.: Werke. Poesie Prosa
Schriften Briefe. Hrsg. v. Peter Urban. Reinbek 1985, S. 243-245]



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