[rohrpost] für eine theorie der Werkgenese
holger schulze
schulze@hdk-berlin.de
Sun, 25 Nov 2001 13:28:10 +0100
soeben erschienen:
Holger Schulze,
Leichtes Handgepäck.
für eine theorie der Werkgenese,
in: Positionen - Beiträge zur neuen Musik 14 (2001),
H.49, S.4-9
- und anbei die rohe textfassung. vollständige fassung, inkl. fussnoten etc.
unter: http://new.editthispage.com/stories/storyReader$19
viel spaß beim lesen, wünscht:
holger schulze
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Holger Schulze
Leichtes Handgepäck
für eine theorie der Werkgenese
(Dem Text liegt der gleichnamige Vortrag zugrunde, den der Autor in der
Ringvorlesung des Graduiertenkollegs Praxis und Theorie des künstlerischen
Schaffensprozesses am 24. Juni 1999 an der Hochschule der Künste Berlin gehalten
hat.)
I
Schauen wir hoch, sehen Kinder in Schuluniform, die sich wegducken unter dem
Ball, weiter gleitet der Blick, nach rechts - und ebenfalls nach rechts dreht
sich der Schriftzug um die eigene Achse, horizontal. Bleibt im Zentrum des
Bildes, sagt: TAKE THE LOCAL CHAMPIONSHIP. In einem kleinen Wohnzimmer freut
sich die Familie, Fussballweltmeisterschaft, 'Take The World Cup' die Schrift,
Brustbild des Spielers, Schwarzblende.
Radfahrer legen sich in die Kurve, Take first Place, Zieleinlauf einer
Langstrecke, Take last place, Tennisspielerin im gelben Frotteekleid, das Bild
stottert - nocheinmal schlägt sie, take control of the stadium, genauso exakt
übers Netz. Vor Graffitiwand zwei Skater take control of the streets,
Streetballspieler take it seriously, BMX-Rad aus der Halfpipe take very
seriously, Schwimmer starten zu früh, take the last leg, festgekrallt in der
Fankurve, take it easy, my friend, Cheerleaderinnen von Pumpguns bedroht take a
run around in circles. Erwächst ein Ruf aus der Schnittfolge »Right Here - Right
Now!« einpeitschend als der entkräftete Läufer in die letzte Runde geht, take
control of the stadium. Als ein kleiner Junge Fallrückzieher probt im
Kinderzimmer, take your own approach. Musik zieht an, der Bildschirm schwarz -
weiter dreht sich die Schrift, befiehlt: Take what you want!
Zieht Rhythmus zu Beat sich zusammen, nimmt sich sein Recht, Schrift dreht sich
noch. Erscheint ein Zeichen, predigt: forever sports - und Punkt. Right here.
eine Reise
Right now. Bewegen wir uns durch ein Kontinuum von Konstrukten, Maschinen und
Erfindungen, durchqueren Meldungen von Kriegen, Katastrophen, sportlichen
Großereignissen. Nutzen Transportmittel für Bild- und Klangzeichen, Körper,
frische Lebensmittel. Goutieren Theorien, Plakate für neue Filialen,
Speichermedien, Werbefilme: Das alles vibriert durch uns hindurch.
Wir nehmen es auf, verarbeiten es - oder lassen es verarbeiten - und schicken es
wieder hinaus, verändert. Jeder Tag in dieser Welt ist eine Reise. Weit geöffnet
die Kanäle stehen wir auf dem Bahnsteig, vorm Auto, lassen die Gegenwart rein,
vollgestellt mit Artefakten. Eine Welt, in der alles von Menschen hergestellt
ist, mehr oder weniger absichtsvoll, in der auch wir hier und jetzt, mit voller
Absicht etwas produzieren - In dieser Welt ist jeder Produzent. Ist erfahren in
Text-, Bild- und Klangverarbeitung, bereitet Zeiträume vor für andere, damit
diese sich wohlfühlen können und wohnen bei uns. Party, Symposion, Frühstück
danach. Unsere Aufgabe also: einen Weg durch die Produkte zu finden, das Meer
von künstlichen Gegenständen, das anbrandet in Wellen, Tag für Tag. Darin
unterzugehen oder von den Wellen zu lernen, sich fortzubewegen mit ihnen, sie zu
nutzen und umzulenken in die eigene Arbeit, das ist unsere Entscheidung. Great
Chain of Being. In dieser Welt ist keiner mehr Profi. Sind wir alle nur
Amateure, universale Dilettanten in Homerecording und DSP, Desktop-publishing
und digitaler Bildbearbeitung. Keine Ahnung, wie die Software wirklich
funktioniert - und bringen doch Ausserordentliches hervor.
Was wir also lernen: in jedem Einzelfall neu, unsere eigene Herangehensweise zu
finden, unseren eigenen Weg da hindurch. Machen wir uns also auf die Reise,
durch jeden Tag, auf der Suche nach unserer ureigenen Erfindungskunst, einer
individuellen Heuristik. Aus Produkten um uns herum, ein eigenes zu machen:
Theorie der Werkgenese.
II
Wie entsteht also eine Arbeit? Sechs Werkzeuge möchte ich vorstellen. Utensilien
für die alltägliche Reise, überall schon lange in Gebrauch. Erkundet von den
klassischen Avantgarden, exemplarisch angewendet in den Spätavantgarden und
gängiges Zubehör in Zeiten des Remix. Also: Was pack ich ein, was nehm ich mit?
1. Das Werkrezept
Dieses Utensil erklärt, wie zu jeder Zeit, an jedem Ort etwas Neues entstehen
kann - ganz ohne Absicht. Zum Beispiel so:
now try this take a walk a bus a taxi do a few errands sit down somewhere drink
a coffee watch tv look through the papers now return to your place and write
what you have just seen felt thought with particular attention to precise
intersection points
So ein Rezept kann jeder nachkochen. Entwickelt haben es William S. Burroughs
und Brion Gysin 1978. Und ein Medienkünstler wie Ferdinand Kriwet spielt es mit
folgendem Ergebnis schon in den sechziger Jahren:
Sie wollen z.B. mit dem Autobus einen Bekannten besuchen; an der Haltestelle
sehen sie sich dem Fahrplan, einem Poem aus Zahlen und Ikonen in Augenhöhe
senkrecht gegenüber, während der Busfahrt blicken sie Schilder («Mit dem
Schaffner sprechen verboten!«, »Festen Halt suchen«, »Betätigung dieser Knöpfe
nur durch den Schaffner« etc.) im Businneren an, derweil Reklametafeln,
Neonschriften, Verkehrsschilder draußen für sie an Häuserwänden, auf Bauzäunen,
an Stangen und Masten posieren und ihr Gegenüber liest vielleicht gerade die
Zeitung, welche ihnen ihre Rückseite zuwendet.
Das Werkrezept ist ein aleatorisches Spiel, das alle Avantgarden benutzt haben,
um zufällig zu arbeiten. Ob sie automatisch produziert oder improvisiert haben,
ob sie Programme arbeiten ließen, ohne Rücksicht auf eingelesene Datensätze.
Vielleicht sogar ein maßgebliches Kriterium jeder Avantgarde: zu versuchen, dem
Nullpunkt der Werkentstehung ein Stück näher zu kommen. Als Forschungsgruppe,
auf dem Weg zum absichtslosen Anfang der Kunst. Grundlagenforschung einer
Theorie der Werkgenese, der künstlerischen Arbeit.
Denn Werkrezepte zeigen, wie leicht der Anfang ist. Wir wählen Quellen aus -
hier: Verkehrsmittel, öffentliche Orte, Massenmedien. Schalten Selektionsfilter
vor - bei Kriwet »Schriften im öffentlichen Raum«, bei Burroughs und Gysin
dagegen überraschende Parallelen («precise intersection points«), persönliche
Assoziationen. Und legen ein Muster zurecht, nach dem wir die Fundstücke
organisieren; die vorliegenden Rezepte bevorzugen hier eine Übertragung in
Wortzeichen, geordnet zu Zeilen.
Die Grenzen des Zufalls liegen also in Repertoire, Selektion und Organisation,
in Materialquellen, Filterverfahren und Verteilungsmustern - im Alltag von uns
meist unbewußt genutzt. Ein Filterprozess letztlich, der viele Male
hintereinandergeschaltet und angewendet werden kann auf allen Ebenen einer
Arbeit. Vom Pixel und Konsumprodukt bis zum Gesamtwerk, der Produktlinie.
2. Landkarte der Werkgenese
Die Grenzen unserer Arbeit liegen also noch vor dem ersten Anfang fest.
Natürliche Beschränkungen, denen wir nicht entkommen, wie Vorlieben für
bestimmte Materialien, Arbeitsabläufe und -bewegungen, Abneigungen gegen
Werkzeuge oder Arbeitsumgebungen. Absoluten Zufall gibt es da nicht.
Ebensogut aber auch keine Beliebigkeit. Denn selbst, wenn wir zufällig arbeiten
- oder mit Destruktion, Desorganisation, Dekomposition, Dekonstruktion -
überschreiten wir diese Grenzen nicht. Stehen uns doch nur solche Quellen zur
Verfügung, die selbst wieder Artefakte sind und also ebenfalls höchst
absichtsvoll gestaltete Produkte. Mit bestimmten Materialien oder Produkten
wählen wir immer auch die dahinterstehende Intention aus.
Genau aus diesem Grund aber ist es notwendig am Beginn einer Arbeit keine allzu
klare Absicht zu verfolgen. Sondern ziellos herumzuspielen. Wenn wir nur von A
nach X springen, wie es sich ergibt und Materialien sammeln, die uns
unterkommen, haben wir zumindest eine geringe Chance in der Fülle fremder
Artefakte und Intentionen tatsächlich eine ungeahnte und für uns neue Absicht zu
entdecken.
Folgen wir aber nur von vorneherein fixierten Intentionen, Vorabsichten und Prä-
tentionen, können wir nicht mehr erreichen, als ein Ziel, das innerhalb unserer
eigenen Beschränktheit liegt. Von Anfang an also berechenbar, festgelegt und
stark determiniert. Oder wie es Jimmy Cauty und Bill Drummond von KLF
formulierten:
<Verzweifelt nach Originalität suchende Musik-Schöpfende enden gewöhnlich ohne
diese, weil einfach nicht genug Platz gelassen wurde, damit ihr Geist
durchkommen kann.>
Aleatorik ist somit eine Weg, um Platz zu schaffen für entstehende Intentionen.
Uns also selbst zu überlisten, unsere Absichten zu lockern und in Bereiche
abzulenken, die wir ansonsten nie angesteuert hätten. Um hinter Grenzen zu
landen, die wir davor kaum wahrgenommen hätten als solche.
3. Kohäsion
Hinter dieser Grenze, unterhalb des absichtsvollen Handelns liegen Phänomene,
deren Bedeutung in Begriffen schwer zu fassen ist. Die mit Bedeutung auch nichts
zu tun haben, sondern eher mit nichtsprachlichen Eigenschaften eines Materials.
Diese Bindekräfte und Auffälligkeiten sind nicht mehr durch Zufall zu erklären;
und sind dennoch nicht absichtsvoll konstruiert. Es sind maschinell messbare,
quantifizierbare Eigenschaften an der Oberfläche eines Materials. Diese
Texturen, Rhythmen, Stofflichkeiten sind Kristallisationspunkte jeder
Werkgenese. Wenn Gertrude Stein etwa - im Rahmen eines eng begrenzten
Sprachrepertoires - den Klangähnlichkeiten, rhythmischen und repetitiven Mustern
folgt und einen Roman schreibt wie The Making of Americans (1903-11); wenn
Ferdinand Kriwet in Poem-Paintings der 60er Jahre Buchstaben vergrößert,
verzerrt, zerschneidet zu Logos fremdartiger Unternehmen.
Oder wenn Heiner Goebbels einen Text von Heiner Müller inszeniert (Der Auftrag;
1979) - dann wurde er bei seiner Arbeit an dem Text erst,
<als die englische Übersetzung dieses Heiner-Müller Textes kopfüber vor mir auf
dem Schreibtisch lag, auf die vielen großen Is aufmerksam («Ich« als
Satzanfang), die im englischen kleingeschriebenen Schriftbild auf besondere
Weise herausfallen; woraus ich dann die hervorhebenden Zeilenanfänge in der
ersten Person komponiert habe, die für die anfängliche Sequenz diese Hörstücks
und szenischen Konzerts charakteristisch sind>
Die »I«s oder Ichs stachen optisch hervor - nicht als bedeutungstragende
Zeichen; als visuelle Trenner, die alle Sätze rastern, zerhacken, rhythmisieren.
Strukturen, die erst dann erkennbar wurden, als der Text nicht mehr semantisch,
also auf Inhalt lesbar war - sondern nur die Oberfläche sichtbar war, die Optik
und der Klang.
Die Textlinguistik hat für solche Phänomene einen anschaulichen Begriff. Sie
bezeichnet diese nichtsemantischen, strukturellen Eigenschaften und Bindekräfte
eines Materials als Kohäsion: als Oberflächenspannung oder Anziehungskraft im
Gegensatz zum inhaltlichen Zusammenhang, der inneren Kohärenz. Die Kohäsion
eines Textes umfasst Seitenaufteilung, Druckbild, Buchstaben- und
Klangwiederholungen. Die Kohäsion einer Skulptur dagegen eher die Textur der
Materialien, Farben, vielleicht auch der Geräusche, die entstehen. In der
Photographie finden sich Körnung, Farbintensität und Kontrast. Und in Musik die
materiellen Spannungen von Sound, Dynamik, Klangraum und Rhythmus.
Wenn wir diesen Anziehungskräften folgen, was passiert dann? Lassen wir die
Maschinen laufen ... und schauen, was kommt -
4. Medienprotokolle
Die Wirklichkeit wird Materialgenerator. Wir schließen uns an und nehmen alles
auf, dreidimensionale Objekte, flüchtige Geschenke der Medien und bewegen uns in
einem weiteren Genre der Avantgarde: Das Medienprotokoll ist ein vollkommen
maschineller, also von unmittelbar menschlicher Intervention freier
Werkgenerator. Vorformen waren die Schlagzeilen-Collagen der Surrealisten,
Dadaisten oder Futuristen. Komplexer schon die Imaginary Landscape IV, ein
Stück, in dem John Cage 12 Radioapparate von 24 Musikern bedienen ließ - das
aktuelle Radioprogramm bei jeder Aufführung neu abmischend in einen
Gegenwartsklangraum. Und souverän nutzte Andy Warhol das Medienprotokoll, wenn
er tägliche »letters, invitations, gifts, and magazines« in Pappkartons
abfüllte, in sogenannte Time Capsules, die mit ihrem Datum versehen, bis heute
aufbewahrt und ausgestellt werden.
Und was die Medien vom Februar 1989 bis zum Oktober 1990 zu sagen hatten, das
schrieb Rainald Goetz mit, auf unschuldig-beharrliche Weise: 1.600 Seiten voll
von Ansagen, Zwischenmoderationen, Off-Kommentaren, verwirrten Korrespondenten,
Reden, Prognosen und Rückblicken. Das Medienprotokoll 1989. Dessen knappe
Sprachsamples und die schiere Quantität des Kanalwechselns uns zurückversetzen
in die Medienkonstelltion jener Epoche: als Kabelfernsehen noch kaum verbreitet
war, die elektronischen Netzwerke nur was für Spezialisten, und Remixmusik ein
vorübergehender Trend für viele.
Medienprotokolle speichern mehr als Archive. Nicht nur Sendungen oder Produkte,
sondern die historisch jeweils einzigartige Weise des Verknüpfens und Mischens
kursierender Artefakte, die spezifische Medienpraxis. Womit wir angelangt wären
beim vorletzten Zubehör für unser Handgepäck:
5. Der Remix
Wenn jeder Gegenstand also Angebot ist, ihn weiterzuverarbeiten, dann hilft uns
der Remix, die Verarbeitung zu beginnen. Spätavantgarden und Postmodernisten ist
er als Work in progress bekannt oder Opera aperta. Was Remix aber wirklich ist?
Hören wir noch einmal die KLF:
<Mixen. Das ist ein Wort, das jeder ständig benutzt, ohne zu wissen, was es
wirklich bedeutet. Falls wir es noch nicht erwähnt haben sollten, Mixen heißt,
das zu nehmen, was auf dem Mehrspurband drauf ist, und zu bestimmen, welche
Teile in welche Reihenfolge gesetzt werden, während man ständig den Sound
optimiert und jede Menge Entscheidungen treffen muß und dann alles, was übrig
bleibt, auf ein Zweispur Stereo Mastertape aufnimmt. Von dieser Vorlage wird die
Platte gepreßt.>
Ein Filterprozess auch hier: Quellen sind vorliegende Aufnahmen, neue Samples.
Wir »bestimmen, welche Teile in welche Reihenfolge gesetzt werden«, wählen also
Elemente aus, die wir zu neuen Mustern ordnen. Wenn wir 'den Sound optimieren',
bedeutet dies die Angleichung oder Differenzierung der Kohäsionen unserer
Elemente durch Filterung, Deformation, Verkettung, Rhythmisierung. Was nicht
mehr ohne Absichten geschieht, sondern »jede Menge Entscheidungen« fordert.
Entscheidungen, die auch Kurt Schwitters treffen musste, wenn er Raoul Hausmanns
Plakatgedicht fmsbw remixte und über Jahre hinweg weiterspielte zur Sonate in
Urlauten. Oder auch John Cage, wenn er 42 Jazzplatten zu einer Ballettmusik
mischte (Imaginary Landscape V, 1952) oder 600 Magnettonbänder zu einem Williams
Mix (1952). Filtern und Rhythmisieren folgen hier zwar einer anderen Kohäsion.
Doch ein verbindlicher Sound und gelegentlich gar Beat muss auch hier den Mix
zusammenhalten, über alle Zufalls-Samples hinweg. Oder wie KLF empfehlen:
Du darfst den Beat niemals stoppen. Du darfst den Beat niemals verlieren. Du
darfst den Beat niemals mißhandeln. [...] Trau Dich, praktisch alles
wegzulassen. Bete am Altar der urmütterlichen Göttin des Grooves.
Ob Beat oder Groove, Flow oder Fluss, Lockerheit, Lässigkeit, Verschlepptheit
oder Funk: all das sind nur hilflose Metaphern für Phänomene der Kohäsion - für
die fundamentale Bindekraft rein äusserlicher, quantifizierbarer
Materialeigenschaften.
Kohäsion als Kategorie kann das Nichtsprachliche und Nichtsemantische an einer
Arbeit also positiv beschreiben. Nicht nur als Mangel oder Entzug von Sinn,
vielmehr als überdeutliche Anwesenheit eines Körpers! Mit Eigenschaften, die
nicht nur technisch bestimmbar sind, sondern von jedem physisch wahrnehmbar.
Anfang einer neuen, einer positiven Ästhetik - einer neuen Poetik: Theorie der
Werkgenese.
Wenn all das uns dann aber doch zu oberflächlich wird? Wir dennoch einen
größeren Zusammenhang suchen? Dann greifen wir zum sechsten und letzten Zubehör
unseres Handgepäcks.
6. Die Heuristische Fiktion
Anfang der neunziger Jahre machte Brian Eno einen Selbstversuch, von dem er
begeistert berichtet. Unterwegs im Hyde Park führte er einen DAT-Recorder mit
sich and »recorded a period of whatever sound was there: cars going by, dogs,
people«. Aus diesem Zufallsband schnitt er eine Passage von der Länge einer
Single heraus und kopierte sie immer wieder hintereinander. Diesen Hyde-Park-
Lärm hörte er bei der Arbeit am Computer, tagelang und immer wieder.
Und plötzlich war da ein Zusammenhang. Nicht mehr zufällige Folgen von
Klangereignissen, sondern eine sinnvolle, gar erzählerische Abfolge von
Handlungen. Ein Auto beschleunigt; ihm folgt exakt ein Hundegebell; das klingt
aus im Rauschen von Tauben.
Something that is as completely arbitrary and disconnected as that, with
sufficient listenings, becomes highly connected. You can really imagine that
this thing was constructed somehow
Die Aufnahme war kein Artefakt. Doch halten es wir nicht lange aus, von etwas
umgeben zu sein, das buchstäblich keine Bedeutung hat und durch Zufall
entstanden ist. Wir vergessen die aleatorische Entstehung und geraten in ein
Gedankenspiel, in eine heuristische Fiktion.
Plötzlich erscheinen uns Zufallsprodukte als Werk eines Komponisten, ein Live-
Hörspiel vielleicht, ohne unser Wissen im Hyde Park aufgeführt? Titel kommen uns
in den Sinn wie Reservebrautkleid, Futuristische Archaik, oder Bruno Labbadia.
Oder sind die Geräusche nur Vorlauf zu einem Lied, das gleich beginnt? Erfunden
von einer Kultur, zehntausend Jahre älter als unsere? Gespielt vielleicht von
Kreaturen, die ahnen, dass ihr Körper und ihr Denken genauso synthetisch
generiert sind wie diese Musik? Oder ist das alles, was wir deuten als Musik,
vielleicht nur die Skizze, die akustisch abgespeicherte Zeichnung, wie einer
seine Wohnung möblieren will?
Jede dieser Fiktionen holt ein bestimmtes Element nach vorne, schiebt andere in
den Hintergrund. Verändert unseren Fokus jedesmal, die Deutung des Gefüges
ändert sich, 'bedeutungslos' wird 'neue Bedeutung'. Die Ordnung möglicher
Bedeutungen verschiebt sich. Lässt Hierarchien variieren, dass eben noch
Zentrales unwichtig wird und neuer Inhalt hoch ins Zentrum steigt. Diese
Fiktionen umschreiben unsere Intention. Die Wahl des Materials bleibt dadurch
nicht nur Zufall, kohäsionsgesteuert - sie wird absichtsvoll im nachhinein,
durch unsere Fiktion bestimmt. Im Einzelfall je eine andre.
III
Das Handgepäck ist zusammengestellt, wir sind schon unterwegs und treffen nun,
im Flugzeug, Auto, en passant, auf etwas, das uns fasziniert. Ein Fundstück, vom
Himmel gefallen, ausserirdisch. Und trotzdem ein von Menschen hergestellter
Artefakt. Woher also unsere Begeisterung? Wissen wir nicht und sind dennoch
verwandelt, beglückt davon, erhoben, angeregt zur eigenen Arbeit. Wie schafft es
dieses Ding, die fremde Lebensform, uns Glück zu bringen, zu manipulieren?
Greifen wir zu unserem Handgepäck und beginnen mit dem:
Praxistest
Ein Film, gedreht von Mike Mills, für adidas im Auftrag der Agentur 180,
Amsterdam. Bilder, Schriften, Töne sehen wir, hören und lesen und kreisen dabei
um 14 Räume, 14 Sportarten in 60 Sekunden.
Auf einem dunkelgrauen Bolzplatz kommen wir an, im ersten Bild. Wir wechseln in
ein Wohnzimmer in hellem Gelb, die Familie in rosa, mint, pastell gekleidet, ein
Spieler dort im Fernseher trägt ein dunkelblaues Trikot: die erste nicht-blasse,
kräftige Farbe. Im nächsten Bild übernommen von roten und gelben Trikots, die
Radfahrer tragen - nur Fans und Begleiter sind farblos. Und rot sind die
Helfer, blauweiss die Läufer gekleidet beim Zieleinlauf im nächsten Bild. Ein
Tenniskleid in Gelb, Skater blassblau, ein gelbes Hemd vor mattem Palmenhimmel.
Staffettenlauf die Reise der künstlich gesteigerten, künstlich entsättigten
Farben. Mal wird die Spannung gehalten, dann wieder kurz gelöst - die
gesteigerten Farben tragen uns weiter, Kohäsion und Bindung über jeden Schnitt
hinweg, über jeden Mangel an inhaltlicher Kohärenz. Dazu Mike Mills, der
Regisseur:
<Ich will die asphaltierten Freeways. Ich liebe Dinge, die offen daliegen, flach
sind, sauber. Ich interessiere mich nicht mehr für die Kanten der Dinge.
So bewegt uns durch den Film ein kreisender Übergang: Im Zentrum der Bilder
kreisen Imperative (»take the world cup«, »take last place«, »take control of
the street«, »take it seriously«, »take a run around in circles«, »take what you
want«) von links nach rechts, gewohnte Leserichtung, der ohne Widerstand wir
folgen. Beruhigend geleitet durch jede Szene schwenken wir mit der Kamera, zwar
nur paar Grad, doch der drehende Text vollendet die Reise. Geht uns voraus,
nimmt Tempo mit, wieder von links nach rechts.>
Dem Schriftpropeller wird jede Szene angepasst: Ist sie zu lang, wird Überlänge
rausgeschnitten, Bilder springen. Ist sie zu kurz, wird einfach wiederholt, ein
Loop entsteht. Die kreisenden Zeilen geben das Tempo vor, der Textrotor ist
Motor der Reise. Ohne Rührung kreisen die Texte - ob Räume wechseln,
Schwarzblenden trennen - und gleiches gilt für das Sample der Tonspur, right
here, right now, kehrt kreisend wieder, »Right here - Right now!« von Fatboy
Slim. Fordert auf als Mantra, zu nehmen, was auch immer, what you want, »take
what you want«. Was für Szenen sind das also, was für Lieder, Texte? Zu welcher
Fiktion führt das uns hin? Führt uns das wohin?
Der Schwenk der Kamera führt jede Einstellung zu einer neuen Person im Bild, in
neuer Farbkombination und einem Blick dem Schwenk entgegen. Schaut uns an, als
wär all das nicht komponiert, nicht Artefakt, sondern Liveaufnahme eines
Sportkanals, der Entscheidungsmomente aufnimmt. Pseudo-Dokumentation entsteht,
Präsenz des Live-Dabeiseins, des lebhaft Miterlebten: Direkte Übertragung
intimer Momente, Fiction of 'Live'. Fiktion, die Regisseur Mike Mills benutzt
hat auch für »All I Need«, ein Clip für Air. Ein Pärchen, Skater beide, filmt er
dort beim Allltag. Lässt beide erzählen - über die Musik gelegt! - wie sie sich
kennenlernten, was sie aneinander mögen und was sie nicht verstehen am andern.
Und wieder die Fiktion von 'Live'. Fiktion, die unsern Clip zusammenhält.
Spürbar überdeutlich im ersten Remix, der daraus entstand. Wir sehen hier
zunächst die Bilder, die wir kennen, 30 Sekunden lang; durch andere Auswahl der
Kohäsion aber verändert: auf höherem Spannungsniveau beginnend, ausschließlich
fast Primärfarben satt - und auch die Tonspur startet höher angespannt. Viel
schneller setzt der Beat ein, unabweisbar drängt es uns in 'Live'-Fiktion,
'Präsenz'-Fiktion: Wir sind hier - and now!
In der zuerst gesendeten Variante, dem sogenannten Original, beginnt Bild, Musik
bei deutlich flacher Kohäsion, viel früher. Lange Dauer bis Frequenzen lauter
werden, sich zusammendrängen, lange bleibt der Loop, verharrt in Wiederholung,
Dauer: eine Ewigkeit. Bereitet sie Fiktion von Anwesenheit und Live lang vor als
Fiktion der langen Dauer, langen Atems, 'Eternity'. Ein weiteres Element in den
Filmen Mike Mills': »die Architektur Kaliforniens in ihrer ganzen monumentalen
Mittelmäßigkeit - die Ästhetik, mit der ich aufgewachsen bin«, zum Beispiel
»Shopping Malls, Parkplätze, Diners und natürlich Skate-Parks.« Umgebung, die
Geduld verlangt, wie ewig schon gebaut und nie verändert. Braucht zähe
Annäherung, ungestörte Zielstrebigkeit, bis es uns gelingt, Momente
geistesgegenwärtig zu erleben: Handeln in Präsenz.
Diese Geistesgegenwart, als Live-Ausbruch aus langer Dauer umrahmt Mike Mills
mit Text in jeder Szene: take first place um die Kurve / take control Ball im
Flug / it very seriously selber in der Luft / your own approach ein Fuss, der
zutritt. Besingt die Schrift, befiehlt und kommentiert präsente Handlung,
Loblied der Lebendigkeit, aus langer Arbeit erwachsen an sich selbst - aus
Training, Lehre, Studium. Wie Mills seine eigene Lehre beschreibt:
»Skateboardfahren plus akademische Bildung.« Das - ist die Gesamtfiktion.
Der zweite Mix verlegt sich denn auch ganz auf die Fiktion von Ewigkeit und
Dauer - Tonspur hier das »Memory Gospel«, Gedächtnislied, von Moby. Zwei neue
Szenen eingefügt, die alles ändern: die nicht mehr im Dämmerlicht geschehen -
wie noch im ersten Mix - ganz unklar morgens früh, ob abends, Kunstlicht, Sonne
oder Wolkenbruch im Anzug, sondern strahlen in leuchtend weissen Farben,
sonnenumglänzt im zweiten Mix. Diese dominante Kohäsion verbindet Bild, Musik,
da liegende, dauernde Frequenz - die Fatboy Slims Stück auch hat, nur verdrängt
ganz schnell vom Beat - hier überdauert die Zeit, ganz blass und fliessend. Von
Ferne nur ein Beat; schwach wie drei Straßen weiter.
In der letzten Runde, die Läufer im hohen Mittagslicht - zwei Frauen am Taxi
vorbei, take a run around the block - Cheerleadermädchen run around in circles -
zwei Fechter take the bronze, the silver, gold - ein Fallrückzieher wird geprobt
to take your own approach - deine ureigene Herangehensweise! Fliegen wir aus der
Halfpipe and take it very seriously. Tricksen einander aus and don't take it
seriously at all. Take what you want - nimm alles was du willst, ist hier. Die
Spannung ganz gelöst, den Druck gelockert - um jetzt, für immer, den Beat ganz
auf der 1 zu halten. Fiktion von Ewigkeit.
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