[rohrpost] pressemitteilung zur eröffnung von CTRL [SPACE]
rohrpost@mikrolisten.de
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Tue, 02 Oct 2001 21:59:04 +0200 (CEST)
13.10.01–24.02.02
CTRL [SPACE]
Rhetorik der Überwachung von Bentham bis Big Brother
Ausstellung ð Lichthöfe 8 und 9
Kurator: Thomas Y. Levin,
Professor für Kultur- und Medienwissenschaft, Princeton University
Zur Ausstellung erscheint ein ausführlicher Katalog
(hrsg. in Zusammenarbeit mit MIT Press)
Eröffnung: 12.Oktober, 19 Uhr
Im Jahr 1785 machte sich der britische Philosoph Jeremy Bentham (1748-1832), der
Begründer des ethischen Utilitarismus, an den Entwurf eines Gefängnismodells, das
er Panopticon nannte. Das Neue an diesem Bau war, dass sich von einem zentralem
Turm aus alle Insassen beobachten liessen, diese jedoch nicht in den Turm hinein
sehen konnten. Da die Gefangenen deswegen nie mit Sicherheit wissen konnten, ob
sie tatsächlich überwacht werden, wurde hier die tatsächliche Überwachung durch
die Möglichkeit des Überwachtwerdens ersetzt. Als Rationalist hoffte Bentham,
dass die Delinquenten deswegen den Kontrollblick verinnerlichen und so vor
Straftaten zurückschrecken würden. Er verstand das panoptische Prinzip, in dem
Macht sich selbst durch räumliche Struktur ausdrückt, als Beitrag zur Erziehung
der Menschheit im Sinne der Aufklärung.
Das Panopticon galt lange als umstrittenes Thema theoretischer wie politischer
Debatten. 1975 führte der französische Philosoph Michel Foucault es wieder in die
zeitgenössische kultursozioogische Diskussion ein. In seinen Untersuchungen zur
"Disziplinargesellschaft" diente ihm das Panopticon als exemplarisches Modell, um
die Wirkung von Macht zu veranschaulichen und seitdem ist es zum Synonym für das
Arsenal an Überwachungskulturen und -praktiken geworden, die unser heutiges Leben
bestimmen. Wenn wir zögern eine rote Ampel zu überfahren, weil auf der anderen
Seite der Kreuzung ein schwarzer Kasten steht, und wir nicht wissen, ob er eine
Radaranlage enthält, aber die Möglichkeit dessen annehmen müssen, dann verhalten
wir uns genau entsprechend der eben geschilderten panoptischen Logik.
Angeregt durch die beunruhigende und zunehmende Präsenz von Überwachungssystemen
in unserem Alltag, widmet sich die interdisziplinär ausgerichtete Ausstellung
CTRL [SPACE] der ganzen Bandbreite sozialer Kontrollmechanismen, die die
"panoptischen" Künste zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufzubieten haben. Dazu
zählen die eher traditionellen Visualisierungs- und Suchtechnologien ebenso wie
die zumeist unsichtbaren, aber unendlich machtvolleren Techniken, die unter den
Begriff "dataveillance" [Datenüberwachung] fallen. Angesichts der Tatsache, dass
für die Genealogie der Überwachung ein Architekturentwurf zentral ist, liegt das
Augenmerk der Ausstellung auf den komplexen Beziehungen zwischen Konstruktion und
Macht, zwischen Darstellung und Subjektivität, zwischen Archiv und Unterdrückung.
Wenn im 18. Jahrhundert eine Zeichnung zum Modell eines gesamten Machtregimes
werden konnte, dann stellt sich die Frage, in welchem Maße dieses Regime (wenn
überhaupt) durch Veränderungen innerhalb der vorherrschenden
Darstellungspraktiken modifiziert wird. Was geschieht, um es anders zu
formulieren, wenn wir das Panopticon unter Hinweis auf neueste infrarot-, wärme-
oder sa-tel-litengestützte Visualisierungstechnologien überdenken? Worin liegen
die soziologischen und politischen Konsequenzen für eine
Überwachungsgesellschaft, wenn sich die Logik der Datenerfassung und -
akkumulation nicht länger im phänomenalen Bereich abspielt? Kann man von einer
Geschichte der Überwachung sprechen und, falls das so ist, in welcher Weise haben
sich die zeitgenössischen Praktiken, aber auch Haltungen gegenüber der
Überwachung geändert?
Diese und andere Schlüsselfragen, die Überwachung in ihren Praktiken und
Transformationen, aber auch als Erfahrung ansprechen, wurden nicht nur von
SoziologInnen, PolitikwissenschaftlerInnen und PhilosophInnen, sondern auch von
SchriftstellerInnen (man denke nur an Orwells 1984) und besonders von
KünstlerInnen gestellt. Die Liste ist beeindruckend: Beginnend von Vito Acconcis
Verfolgungs-Performances oder Andy Warhols Experimenten mit "Echtzeit" und frühem
Closed-Circuit-Video in den 60er Jahren, Bruce Naumans Videokorridoren, Dan
Grahams "Time Delay Room" und Rem Koolhaas’ "Project for the Renovation of a
Panoptic Prison" in den 70er Jahren, Sophie Calles Dokumentation der beauftragten
Überwachung ihrer eignen Person und Michael Kliers inzwischen klassischer
Kompilation von gefundenem Überwachungsmaterial in seinem Film "Der Riese" in den
80ern, Thomas Ruffs Nachtfotos, verschiedenen Installationen von Diller&Scofidio,
den ironischen Überwachungspraktiken des Bureau of Inverse Technology bis hin zur
Dokumentation öffentlicher Überwachungskameras durch Frank Thiel und dem
systematischen Aufspüren solcher Kameras in Manhatten vom "New York Surveillance
Camera Project" in den 90ern, Laura Kurgans Neuverwendung von
Satellitenaufnahmen, die nicht mehr der Geheimhaltungspflicht unterliegen, oder
dem Internetprojekt "we live in public" von Josh Harris im Jahr 2000 unter den
Bedingungen einer unablässigen Echtzeit-Überwachung. Man erkennt leicht, dass die
Thematik des panoptischen Blicks alles andere als neu ist, auch wenn sie für die
aktuelle kulturelle Produktion in immer stärkerem Maß relevant wird. Umso mehr
fällt auf, dass sich, von einigen kleineren Ausstellungsprojekten abgesehen,
bisher nie ein Museum zu einer systematischen Überblicksausstellung dieser
wichtigen Materie entschlossen hat.
Um die Entwicklungen zu begreifen, die sich im ungebrochenen Soap-Panoptizismus
des globalen TV-Phänomens "Big Brother" oder im Paradigma des sogenanntem
"Reality-TV" mit seiner Emphase auf Echtzeit abbilden, gar nicht zu reden vom
dramatischen Anstieg an Überwachungsszenarien, die als Thema, aber auch als
narrative Struktur eine Vielzahl heutiger Filmproduktionen (beispielsweise "The
Truman Show" oder "Enemy of the State") prägen, ist es notwendig, dass wir uns
der Geschichte des kritischen, kreativen Umgangs mit panoptischen Phänomenen
bewusst werden. Um die wechselnde Beziehung zwischen Überwachungspraktiken und
den jeweils dominanten Logiken der Darstellung zu veranschaulichen, bietet CRTL
[SPACE] sowohl einen aktuellen Überblick über das Phänomen des Panoptizismus in
Architektur, digitaler Kultur, Video, Malerei, Fotografie, Konzeptkunst, Kino,
Installationskunst, Fernsehen, roboter- und satellitengestützten
Visualisierungstechniken wie eine Aufarbeitung der weitgehend unbekannten
Geschichte von Versuchen, diese Logiken kritisch und kreativ zu untersuchen.
Mit einer Ausstellungsstruktur, die sich ihrerseits auf verschiedene Suchsysteme
stützt, verspricht CTRL [SPACE] Erfahrungen zu vermitteln, die zugleich
faszinieren, Befürchtungen wecken und aufklären. Letzteres scheint besonders
wichtig, da das philosophische Projekt der Aufklärung selbst den gleichen Namen
trägt wie die Überwachung aus dem Luftraum.
Künstlerliste
Vito Acconci, Merry Alpern, Lutz Bacher, Lewis Baltz, Denis Beaubois, Jeremy
Bentham, Niels Bonde, Bureau of Inverse Technology (BIT), Paul Bush, Sophie
Calle, Jordan Crandall, Peter Cornwell, Jonas Dahlberg, David Deutsch, Bart
Dijkman, Diller & Scofidio, Harun Farocki, Tom Fürstner, Graft, Dan Graham,
G.R.A.M., Jeff Guess, Harco Haagsma, Jon Haddock, Institute for Applied Autonomy,
Jürgen Klauke, Michael Klier, A.P. Komen, Rem Koolhaas/OMA, Korpys & Löffler,
Laura Kurgan, Langlands & Bell, Ange Leccia, Chip Lord, Jürgen Mayer H, Jenny
Marketou, Michaela Melián, Dan Mihaltianu, Heiner Mühlenbrock, Pat Naldi & Wendy
Kirkup, Bruce Nauman, Yoko Ono/John Lennon, Concha Perez, Chris Petit, Walid
Raad, Daniel Roth, Thomas Ruff, Julia Scher, Cornelia Schleime, Ira Schneider und
Fank Gilette, Stih & Schnock, Ann-Sofi Sidén, Lewis Stein, Surveillance Camera
Players, Frank Thiel, Zoran Todorovic, Visomat Inc., Jamie Wagg, Andy Warhol,
Peter Weibel
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Anke Hoffmann
ZKM Ausstellungen
http://www.zkm.de