[rohrpost] n0name newsletter #39

Matze Schmidt matze.schmidt@n0name.de
Wed, 31 Oct 2001 21:56:55 +0100


n0name newsletter #39 Kreuzberg Fr., 29.10.2001 22:59 CET

<-------------- Breite: 74 Zeichen - Font: Courier New, 10 -------------->

*Inhalt/Contents*

1. Guenther Selichar's _screens, cold_
2. Interview mit Sascha Buettner (Wiesbaden)
3. Nick. _Roman_ (Fortsetzungsroman) Teil 7
4. Sampler
5. Sicherheit, Sauberkeit und Service durch Ueberwachung
   von Thomas Brunst und Juergen Korell

Don't "Go China"? verschoben auf n0name newsletter #40

30 KB, ca. 9 DIN A4-Seiten

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1.=20

Guenther Selichar's _screens, cold_


Die alltaegliche Geschichte der Anzeigen und zeigenden Schirme ist
Fetisch. Ja, ja. nicht nur das Objekt kann Fetisch sein (wie in den=20
70ern die Digitaluhren, die ihren Erfolg sicher den damals neuartigen=20
Displays und damit auch neuen, eckig-stabfoermigen Zeichenformen zu=20
verdanken hatten), auch der bildnerische Diskurs. Aufgeblasen und=20
ge-chiquet - Guenther Selichar's Abzuege wurden mit einer=20
Highgloss-Laminierung gezeigt, was die Bilder spiegelnd-glatt macht -=20
bekommen die Displays der PDAs, die Monitore der Computer und=20
Oszillatoren, Glas- & Plastikscheiben, aus denen Licht emittiert,=20
auratische Zustaende. Nur, sie zum Faktor zu erklaeren, der die Welt=20
zur Scheibe mache, der die Wahrnehmung des Natuerlichen kappen wuerde,=20
wie Ausstellungsmacher Urs Stahel zitiert, grenzt beinah an eine=20
Verlustargumentation, ohne Braunsche Roehre und Fluessigkristalle=20
waere alles natuerlicher, mithin besser zu sehen. Displays=20
verstellten, platonisch, die Welt, =F6ffentlich und privat loesten=20
sich (nach Kamper) auf, anstatt sie sich - die Probleme des real=20
existierenden Ueberwachungstaats 2001 mit den Bildgebenden Verfahren=20
der Biometrie inbegriffen - neu konfigurieren wuerden.=20

Ich sehe kalte Screens, aber kalt heiszt nicht gleich falsch oder=20
unwahr. Ich sehe zuerst minimalisierende Inszenierungen von Screens,=20
die allesamt, mit mikroskopischem Blick, frontal aufgenommen wurden,=20
als waeren sie schon Tafelbilder bevor sie als fotografische=20
Reproduktion an der Wand haengen. Die Groszbildschirm-Industrie wirbt=20
mit genau diesem Tafelbild-Effekt. Der Rekurs auf die angebliche=20
Funktion der Wirklichkeits-Verstellung der Bilder - Was ist ein Bild?=20
fragt Robert C. Morgan - laesst auf eine Skepsis Bildern gegenueber=20
schlieszen, aber auch auf eine heimliche Abwehr, eine vielleicht=20
protestantistische Ablehnung der Bilder als Artefakte? Ihnen soll=20
gefaelligst Wahrheitscharakter zukommen, was sie nicht leisten=20
koennen, weshalb sie falsch seien? Die grundsaetzliche=20
mediatisierende Leistung der Bilder, technischer Bild- und=20
Zeichengenerierungssysteme und grafischen Interfaces wird auch im=20
Text von Hubertus von Amlunxen eher verworfen. Es herrsche eine=20
"Losigkeit", die mit einer medialen Auszehrung des Raums=20
gleichzusetzen sei. Zerstoerte nicht Heinrich Heine's Eisenbahn schon=20
diesen Raum und lies nichts als die Zeit zurueck?=20

Die Losigkeit, von der Amelunxen spricht, ist eine Bildwelt in der=20
alle Referenzen abhanden gekommen sind, die bekannte Position des Endes=20
aller Signifikant-Signifikat-Beziehungen. Wenn die Screens nun in=20
reiner Potenz, naemlich zeichenlos, gezeigt werden, kommt die=20
Abwesenheit von Information zum Vorschein in solcher Analyse dieser=20
Screens, die genaugenommen Screens von Screen sind. Diese Abwesenheit=20
wird nur als A-Material der allgemeinen, geschichtslosen=20
Besinnungslosigkeit interpretiert. Was nichts speichernd zeigt und=20
deshalb wie eine leere Schultafel, aber Welten jenseits des=20
Freudschen Wunderblocks, der Be-Sinnung, einer sinnlichen=20
Selbstvergewisserung entgensteht, ist schlecht.=20

Dass Guenther Selichar nur die Displays zeigt, ohne den Kontext der=20
Geraete, wird in die Naehe "virtueller Bildlichkeit" gerueckt (Morgan),=20
Bilder demnach, die moeglich unmoeglich sind, nichtmateriell und ephemer.=20
In mancher ScFi-Geschichte geraet das Raumschiff in Orientierungsnot,=20
weil das Display ausgefallen ist, aber ohne Display wuerde fatalerweise=20
auch nichts gesehen. Selichar's Foto-Screens - ganz direkt seine=20
Arbeiten "Who's Afraid of Blue, Red and Green?" 1996/98 und 2000, eine=20
Barnet Newman-Adaption - funktionieren analog, nur material-technisch=20
gesehen entgegengesetzt, wie die geloecherten Werbeflaechen auf=20
Straszenbahnfensterscheiben, die den Blick zerloechern, zerpixeln und=20
pluren. Indem Selichar Repraesentationsmittel der Fotobildtechnik exessiv=20
zeigt und mit dem Motiv Bildgebender Verfahren abgleicht, deren Praesenz=20
als Objekt ihre Funktion verhuellen soll, verweist er vordergruendig auf=20
keinen Zeichenapparat oder Fundus von Zeichen, sondern nur auf die=20
Apparate, die solche Zeichen herstellen. Allerdings mit dem Impetus der=20
Distanz: Voellig kontr=E4r den Tribalisierungen der Handy-Logos-Szene, die=
=20
piktogrammige Zeichen prosumieren, 'ethnologisiert' der Fotoblick die=20
Displays und zeigt sie objektiviert, so, dass man vielleicht mal ein=20
Messer in sie stuerzt, wie bei Newman geschehen.

Soweit mu=DF man nicht gehen, das Genialische wird ironisch auf der=20
Webpage http://www.lot.at/EXTENS/selichar/ vetrieben, dort konnte=20
eine Angebot von Guenther Selichar genutzt werden (Die interaktive=20
Funktion (JavaApplet) wurde leider im Juli 2000 stillgelegt). Das=20
Prinzip: individuelle Farbbalkenfolgen, Testreihen mit den Farben des=20
Fernsehbildes, "eine freie, unlimitierte und sich staendig veraendernde=20
Edition mitzugestalten", eine verteilte Bildermaschine.

Guenther Selichar. _screens, cold_. Katalog anlaesslich der=20
gleichnahmigen Ausstellung. Wien: Triton Verlag, 2001. DM 33,70

Ali Emas <ali.emas@n0name.de>

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2.=20

Interview mit Sascha Buettner (Wiesbaden)



Matze Schmidt (MS): Sascha, mit deinen Aktivitaeten - Mitorganisation des=20
_boderline_ Kongresses (http://www.octopusweb.org/borderline/),=20
_serverhappening_ (http://www.b0rderline.f2s.com), Vermittlung von=20
Kunstbetrieb und Theoriebetrieb - positionierst du dich sozusagen zwischen=
=20
genuiner Produktion und Aktivismuskritik. Dabei kommen dir, wie aus=20
deinen Aussagen herauszulesen ist, immer wieder 'ethisch-politische'=20
Fragen bezogen auf die Weiterentwicklung digitaler Freiraeume=20
entgegen einer verengenden kapitalistischen Oekonomisierung.=20
Das Thema Politische Kunst ist ein eigenes, denkt man sich; auffaellig=20
ist jedoch, dass es momentan soetwas wie einen Fokus-Wechsel dorthin=20
innerhalb einer bestimmten Generation von Aktiven in Datennetzwerken gibt.=
=20
Wie erklaerst du dir das?


Sascha Buettner (SB): ich glaube nicht an eine akzeptable definition von=20
dem was kunst, was sozial, politisch oder gar ethisch ist, zumal ich das=20
ethische grundsaetzlich ablehne. die bezeichnung FOKUSWECHSEL finde ich=20
angenehm. ich wuerde auch heute nicht mehr von einer art neubeginn einer=20
68ger revolution reden, obwohl ich im gegensatz zu den 80ger, doch eine=20
deutliche konstruktive politische agitation einzelner kuenstler +=20
kuenstlerinnen sehe. ueber diese these sprach ich bereits auf einer=20
tagung vor 5 jahren in breslau. die zeit des kollektiven dekonstruktivismus=
=20
scheint ueberwunden. auch scheint sich luhmans systembeschreibung nicht zu=
=20
bewahrheiten. ueberhaupt scheint alles eher in einer wabernden, putzigen,=20
bewegung zu sein, eine art flusz, in dem auch politische, auch soziale und=
=20
vor allem kuenstlerische stroemungen sich permanent vermischen. das fuehrte=
=20
letztendlich auch zur namensgebung unseres servers "INFLUXUS". die dinge,=20
die keiner klaren benennung beduerfen, da sie sich nur so frei entwickeln=20
koennen.

die verhaltensweisen des kapital sind schwer einzuschaetzen, und vor allem=
=20
nicht wirklich beeinfluszbar. es ist ein anderes, ein antikapitalistisches=
=20
gesamtverstaendiss innerhalb eines breiten bevoelkerungsspektrums noetig.=20
der kapitalmarkt hat sich das internet zu nutze gemacht. dies darf man=20
nicht verkennen. die kommunkationgesellschaft ist ein produkt des=20
derzeitigen superkapitalismus. er hat das internet aus seiner=20
militaerischen rolle in eine kapitalistische ueberfuehrt (nebenbei bemerkt:=
=20
gibt es da einen unterschied? muessen wir nicht wieder vom militaerisch-
industriellen-komplex reden?), nur ist hier etwas seltsames passiert. in=20
seiner ersten phase entwickelte das system "internet" eine "super-
neoliberale" auspraegung, die oft mit einer "anarchistischen nicht-
kontrolliertheit", einer "autonomen zone" verwechselt wurde. ich sehe aber,=
=20
und dies nicht zuletzt vor den juengsten ereignissen, das der faktor der=20
kontrolle (und hier meine ich nicht nur ueberwachung) immer mehr gewicht=20
bekommt.

informationen aus dem netzt sind im kontext immer kapitalistisch gepraegt,=
=20
auch wenn sie das system kritisieren. was ein kuenstler hier leisten kann,=
=20
waere eine form der nicht bestimmung. ein annaehern an eine form der=20
absoluten aufloesung aller vorhandenen kapitalistisch verwertbaren=20
strukturen. malewitsch folgerte bereits 1922, das der sozialismus nur=20
eine zwischenstufe der nachkapitalistischen gesellschaft ist, aber durch=20
viele unterschiedliche versuche immer wieder neu beginnen und scheitern=20
wird. die endphase sah malewitsch in der ueberwindung des sozialismus, weil=
=20
auch dieser nur materielle ziele hat. es geht deshalb primaer um die=20
aufloesung aller materiellen denkstrukturen. diese form hat er bekanntlich=
=20
als suprematismus bezeichnete. ich denke auch das www wird sich in der=20
zukunft suprematistisch entwickeln.


MS: Mit dem von dir veranstalteten _serverhappening_ im September 2001=20
hast du unter der Vorgabe des Potlatsch besonders die Fantasie vom flachen=
=20
Sharing-Raum stark gemacht, die Resonanz war quotentechnisch betrachtet=20
jedoch nicht sehr hoch. Enttaeuschend aber war vielleicht die Tatsache=20
eines Misverstaendnisses seitens der Teilnehmer: es wurde zwar kraeftig=20
hochgeladen, aber wenig Resampling betrieben. Genau dieses Moment des Aus-=
=20
und Tausches wurde etwas verfehlt. Ist die Idee, Open Source-artige=20
Strukturen in zunaechst zweckungebundene Umgebungen zu implantieren=20
illusorisch, oder lagen die Gruende fuer dieses "Verfehlen" in szenischen=20
Grenzen, die auf eine gar nicht so "offene" translokale Internetgemeinde=20
schlieszen lassen?


SB: es ist doch immer so: der anfang ist voller erwartung und dann...,=20
aber hier ist der zeitpunkt wichtig. es passierte etwas, nun kann darueber=
=20
berichtet und erzaehlt werden. in der fortsetzung werden es weitere=20
personen wahrnehmen und aktiv werden. ich denke vielen fehlte auch der=20
mut aktiv zu intervenieren. es ist ja auch immer das ding mit dem=20
anspruch. es will jeder doch einem solchen gerecht werden. auch mit dem=20
was er tut. im netz (und waehrend des serverhappenings schon gar nicht)
ist niemensch unbeobachtet. es besteht die gefahr mit seinen bildern oder=20
worten enttarnt zu werden. jedes foto, jede beschreibung, ist von=20
unbekannten verifizierbar. ich plane eine fortsetzung in einer=20
abgeaenderten form. ich koennte mir vorstellen, dass texte zerhackt=20
einflieszen koennen, die zwar keinerlei inhalte mehr transportieren,=20
aber sichtbare zeugnisse eines handeln sind. diese waeren dann nur noch=20
von dem eigentlichen autor identifizierbar, verschluesselt und absolut=20
kryptisch. bilder muessten aus dem netz gesaugt und auf den server=20
ausgespuckt werden, meschanisch, ja stakkatoartig, einer=20
maschinengewehrsalve gleich. das waere der rythmus des netzes. ich werde=20
mich vor allem um einen groessere streuung bemuehen und versuchen mehr=20
aktivisten + aktivistinnen zu erreichen.


MS: Du bist in Wiesbaden im BBK-Vorstand, dem als eher konservativistisch=20
geltenden Berufverband Bildender Kuenstler in Deutschland. Siehst du die=20
Chance, die Arbeit innerhalb einer solchen Organisation im Sinn eines=20
breiteren und sozio-aesthetischen Selbstverstaendnisses neu zu=20
definieren? Schliezlich lagert dieser Verband traditionell wichtige=20
kulturpolitische Verknuepfungen, die zur Kritik an kulturellen Formaten=20
in Kopplung mit technischen Formaten genutzt werden koennten.


SB: das gerade ist mein ziel. eine bestehende institution weiterzufuehren.=
=20
zwar empfinden die zumeist ueber 70 jaehrigen mitglieder kaum noch=20
anknuepfungspunkte, aber sie verspueren eine bewegung in eine neue=20
richtung. lob aus diesem personenkreis empfinde ich als besonders=20
bestaetigend. der bbk wird durch meine art der aufmischung in bewegung=20
gesetzt. durch bewegung entsteht waerme, also ein positives element. Was=20
daraus folgt, bleibt offen. der bbk koennte sich so erweitern, dass er=20
die mitglieder ausserhalb der traditionellen formen kuenstlerischen=20
schaffens sucht. die aufnahme von personen aus den geisteswissenschaften=20
oder dem poltisch/sozialen sektor ist sicher in naher zukunft denkbar.=20
auch der rahmen, der die definition der kuenstlerischen festsetzung,=20
also dem, was kunst ist, bestimmt, wird sich veraendern.

der borderline kongress waere nicht mit der vorhandenen bbk struktur=20
durchfuehrbar gewesen. es gelang mir bereits 2000, hier wichtige,=20
ortsansaessige, kulturelle grupierungen anzusprechen. haette ich nicht mit=
=20
der umformung des bbk wiesbaden begonnen, so haetten sich unter umstaenden=
=20
die  verhandlungen mit dem kgb oder dem "atelier bratwurst" oder der=20
"new art activism kooperative" als aeusserst schwierig gestaltet. ich=20
denke, dass diese eher radikalen gruppen mit einem traditionell gefuehrten=
=20
bbk nicht kooperiert haetten. kurz, ich gehe mit meinem engagement im bbk=20
den umgekehrten weg vieler politischer kuenstler: ich nutze die=20
konservative huelle, um mit diesem schutz, radikale veraenderungen=20
voranzutreiben. morgen werde ich im bbk vereinsheim einen altar aufbauen,=20
an dem einmal im monat der tod des autors (und der autorin) gefeiert wird.=
=20
es haben auch schon einige kuenstler und kuenstlerinnen zugesagt, die=20
dafuer noetigen reliquien zu schnitzen und unentgeltlich zur
verfuegung zu stellen. auch opfergaben sind im gespraech. eine=20
weiterfuehrende aktion wird sein: jedem studio-artist einen toten hasen=20
ans gebaelk zu nageln. dem koennen diese kuenstler und kuenstlerinnen=20
dann ihre bilder erklaeren.


Sascha Buettner <saschabuettner@influxus.net>
"sascha buettner" ist ein "multiple name".
mehr informationen dazu unter
www.identitaetsmaschine.org und www.influxus.net/praxis/idmtool/index.htm

Matze Schmidt <matze.schmidt@n0name.de>

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multifiction://intershop
im, mit oder gegen den strom?
streaming media im www - zwischen kunst, kulturindustrie und kommerz

Fachtagung in der Reihe interfiction
im Rahmen des 18. Kasseler Dokumentarfilm und Videofests
Kassel, 14.11.-18.11.2001

http://www.interfiction.net

u.a. mit Sascha Buettner, Marlena Corcoran, Reinhold Grether,
Monika Halkort, Mario Hergueta, Karin Hinterleitner,
Ralf Homann & pingfm.org, indymedia, Verena Kuni,
Anders Turge Lehr, Ulf Schleth, Matze Schmidt, Anne Schreiber,=20
Florian Thalhofer

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3.=20

Nick. _Roman_ (Fortsetzungsroman) Teil 7

Der Mythos eines ungebaendigten krautigen Etwas umschlosz ihn. Dann
entschloss er sich mit dem Laser Schneisen da rein zu schlagen.=20
"Zzzsosch".
Und "Zzzsosch".

Teil 8 im n0name newsletter #40

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4.=20

"Migration is globalisation from below."

"Globalisation" is bullshit. It is euphemism.

fibreculture is no globalisation It is Migration.=20

where too?=20

to afghanistan? where there is pain

to usa? where there is rain

Sample(r) your life

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5.

*Sicherheit, Sauberkeit und Service durch UEberwachung*
von Thomas Brunst und Juergen Korell


Bereits 1997 warb der Bundesgrenzschutz (BGS) im Mainzer Hauptbahnhof mit=20
einem Plakat der Gewerkschaft der Polizei bei Bahnreisenden mit "groszen=20
und kleinen Problemen", die der BGS noch bevor etwas passierte durch=20
zuegiges Handeln loesen wollte.1

Offenbar war dieses Konzept nicht von Erfolg gekroent, denn die Deutsche=20
Bahn AG entwickelte nun das 3-S-Konzept ein "Wohlfuehlprogramm". 3-S=20
steht fuer Sicherheit, Sauberkeit und Service. Es verbirgt eine=20
lueckenlose UEberwachung der Bahnhoefe.2 Fuer das 3-S-Konzept erhielt die
Bahn AG den Big-Brother-Award Deutschland 2000 in der Kategorie Behoerden=20
und Verwaltungen.3 Nachdem das Konzept in den Bahnhoefen von Frankfurt am=20
Main und Hamburg getestet worden war, soll es auf die Bahnhoefe von=20
Berlin-Zoo, Hannover, Dresden und Neustadt ausgeweitet werden.4

Bahnchef Mehdorn kuendigte darueber hinaus ein haerteres Vorgehen gegen=20
Randalierer, aggressive Bettler, zudringliche Dealer und Drogensuechtige=20
an. Doch nur die boesen Randstaendigen sollen nach dem Ermessen der=20
Sicherheitskraefte verjagt und gegebenenfalls angezeigt werden. Der brave,
demutsvolle und ruhige Bettler darf im Bahnhof bleiben.5 Schlieszlich=20
soll der gut betuchte Bahnkunde nicht nur sein Geld in den Laeden der=20
Bahnhoefe ausgeben duerfen, sondern auch den Armen das ueberfluessige=20
Kleingeld in den Hut werfen koennen.=20

Sonderstreifen der Bahn Schutz und Service GmbH (BSG), ausgestattet mit=20
Cargohosen, rotem Barett und "Mehrzweck-Rettungsstock", wie der in=20
ungeuebten Haenden zum Totschlaeger mutierte Tonfa genannt wird,=20
patrouillieren 24 Stunden lang ueber das Bahnhofsgelaende. Die Bahn=20
steigert ihre Ausgaben dafuer um zwei auf insgesamt 52 Millionen Mark.6=20
Durch Milliardeninvestitionen in die Sanierung sollen die Bahnhoefe ihr=20
Schmuddelimage verlieren. Zur schnelleren Beseitigung von Graffiti und=20
Spuren von Vandalismus steigert die Bahn die Ausgaben von 100 auf 170=20
Millionen Mark. Auszerdem sollen mehr UEberwachungskameras und=20
Notrufsaeulen installiert sowie der Informations-Austausch mit Polizei,=20
Bundesgrenzschutz und Kommunen, aber auch mit den Bahnhofsmissionen und=20
Tiefgaragenbesitzern verstaerkt werden.7=20

Bundesinnenminister Schily als Dienstherr des BGS vereinbarte mit dem=20
Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn AG, Hartmut Mehdorn, eine=20
Ordnungspartnerschaft. Sichere, saubere und ordentliche Bahnhoefe=20
erforderten eine enge Verzahnung bahnpolizeilicher Masznahmen und der=20
Sicherheitsvorsorge der Deutschen Bahn, liesz Schily die OEffentlichkeit=20
wissen. Der bahneigene Sicherheitsdienst BSG solle daher zusammen mit=20
BGS-BeamtInnen auftreten. Die Bundespolizei BGS wird bei der=20
Zusammenarbeit mit den privaten Diensten durch deren Wahrnehmung des=20
Hausrechts unterstuetzt. Gleichzeitig soll der Informationsaustausch=20
zwischen den Fuehrungsebenen des BGS und der Bahn intensiviert werden.=20
Aus gemeinsamen Lagebildern sollen entsprechende Masznahmen abgeleitet=20
werden, bei denen der BGS die Einsatzleitung zu uebernehmen hat. Man=20
fuehrt gemeinsame UEbungen durch und unterstuetzt sich gegenseitig bei=20
der Fortbildung der MitarbeiterInnen, um fuer Ad-hoc-Lagen und=20
Schwerpunkteinsaetze gewappnet zu sein.8=20

Die gemeinsamen Einsaetze erfolgen nach unterschiedlichen Modellen:=20
Sie reichen von der oertlichen und zeitlichen Abstimmung der jeweiligen=20
uniformierten Streifen von BGS und BSG in einem Einsatzraum bis zu=20
gemischten Streifengaengen. Auf diese Art verbinden sich das=20
kostentraechtige Know-how der Polizei mit der Wirtschaftlichkeit des=20
privaten Sicherheitsunternehmens. Die Vereinbarungen werden von einer=20
Koordinierungsgruppe ueberprueft. Bei der Security der Bahn AG ist ein=20
Verbindungsbeamter des BGS eingesetzt.9=20

Die Grenzschutzpraesidien wussten aufgrund ihrer ersten Erfahrungen dem=20
Innenministerium von einem effektiven Personaleinsatz bei einem=20
gleichzeitig gesteigerten Sicherheitsniveau aufgrund der Vereinbarungen=20
zwischen Bundesinnenministerium und der Deutschen Bahn AG zu berichten.=20
Eine Anfrage bei dem Bundesbeauftragten fuer den Datenschutz sollte=20
klaeren, ob durch die gemeinsamen Streifen von BGS und BSG=20
personenbezogene Daten dem privaten Sicherheitsmann unbefugt zur=20
Kenntnis gelangen koennen.

Das Bundesinnenministerium vertritt dazu die Auffassung, dass bei der=20
Durchfuehrung gemeinsamer Streifengaenge eine gemeinsame Datenerhebung=20
nicht stattfindet. "Bei lageabhaengig auftretenden gemischten Streifen=20
werde eine mit polizeilichem Handeln einhergehende dienstliche=20
Taetigkeit ausschlieszlich von Polizeibeamten des Bundesgrenzschutzes=20
durchgefuehrt, wobei sichergestellt sei, dass personenbezogene Daten=20
im Bereich des BGS verblieben und die Persoenlichkeitsrechte des=20
Einzelnen gewahrt wurden. Diese geschehe praktisch dadurch, dass=20
aktuelle Personenfahndungen vorher angekuendigt werden und der=20
Polizeivollzugsbeamte so die Moeglichkeit hat, sich fuer den Austausch=20
personenbezogener Daten auszer Hoer- bzw. Sichtweite des privaten=20
Sicherheitsunternehmens zu begeben. Soweit dies aufgrund erheblichen=20
Publikumsverkehrs nicht moeglich ist, sollen Hoer-/Sprechgarnituren=20
eingesetzt werden. Im uebrigen sehe die Ordnungspartnerschaft vor,=20
mindestens zwei derartige Streifen oertlich und zeitlich, so=20
einzusetzen, dass jederzeit schnellstmoegliche gegenseitige=20
Unterstuetzung gewaehrleistet ist. Damit sei insbesondere auch=20
sichergestellt, dass bestimmte Einsatzmasznahmen von vornherein=20
ausschlieszlich von BGS-Beamten durchgefuehrt werden koennen."10

Die Praxis lehrt allerdings, dass bei gemeinsamen Streifen, jeder=20
Streifenteilnehmer aktiv wird. Jede andere Annahme ist fern der Praxis.=20
Es wird ein persoenliches Verhaeltnis aufgebaut, an dessen Ende es den=20
Beteiligten egal ist, aus welchen Bereichen sie stammen. Sie tauschen=20
sich aus und tauschen dementsprechend auch personenbezogene Daten aus,=20
weil sie letztendlich aufeinander angewiesen sind. Theoretisch ist die=20
Einhaltung des Datenschutzes zwar anzuweisen und darum hat der=20
Bundesdatenschutzbeauftragte das Bundesinnenministerium auch gebeten,=20
doch praktisch ist der Datenschutz nicht zu gewaehrleisten. Das muessten=20
die Verantwortlichen eigentlich wissen. Sie koennen sich aber wieder=20
einmal aufgrund entsprechender Anordnungslagen aus der Verantwortung=20
ziehen. So wusste die taz Hamburg von einer Kontrolle einer gemischten=20
Streife von BGS und BSG im Hamburger Hauptbahnhof zu berichten: "UEber=20
Funk werden die Daten abgeglichen. "Ist das auch die Adresse, wo sie=20
gemeldet sind?", fragt der BGSler, und der BSG-Mann hakt notierend nach:
"Dort wohnen sie wirklich?"11=20

Auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) befuerchtet eine Vermischung=20
hoheitsrechtlicher und privatrechtlicher Aufgaben. Obwohl die GdP den=20
Ordnungspartnerschaften aufgeschlossen gegenuebersteht, wuerde sie lieber
getrennte Doppelstreifen von BGS und BSG sehen. Der Bahnsicherheitschef,=20
Jens Petersen favorisiert weiterhin das Modell der gemischten Streifen.=20
Schlieszlich sei es seinem Verhandlungsgeschick zu verdanken, dass das=20
Modell vertraglich verankert worden sei. Er sehe nun keine Moeglichkeit=20
mehr, den Vertrag mit dem Innenminister zu aendern.12=20

Die Befuerchtung, dass Private Sicherheitsbedienstete Polizeiaufgaben=20
uebernehmen, scheint sich durch einen Vorfall in der Hamburger S-Bahn-
Wache zu bestaetigen. Auf dem Hamburger Bahnsteig Jungfernstieg wurde bei=20
einem 15-jaehriger Jugendlichen aus Sierra Leone eine Fahrkartenkontrolle=20
durch Angestellte der Fa. Securitas durchgefuehrt. Obwohl der Jugendliche=20
die entsprechenden Karten vorzeigen konnte, wurde nach seinem Ausweis=20
verlangt, den er mit dem Hinweis verweigerte, dass es sich nicht um=20
Polizei handele. Daraufhin sei der Jugendliche geschlagen, zur Wache=20
gebracht und weiter geschlagen worden. Nach Darstellung der Securitas-
Maenner habe der Junge die Maenner angegriffen. Einer erstattete=20
Strafanzeige wegen Koerperverletzung, die andern fungieren als Zeugen.=20
Nach Angaben des BGS habe sich der Junge "koerperlich betaetigt" als ihn=20
die Sicherheitsmaenner am Schlucken "rauschgiftaehnlicher Substanz"=20
hindern wollten.13 Hier zeigt sich sehr wohl die Gefahr, dass Private=20
Sicherheitsangestellte sehr gerne Polizeiaufgaben uebernehmen, die sich=20
aus deren Aufgabenstellung von ganz alleine ergibt.=20

Derzeit werden 42 Bahnhoefe in ganz Deutschland videoueberwacht. Allein=20
in dem sanierten und modernisierten Leipziger Hauptbahnhof sind 140=20
Videokameras installiert und sorgen in den 130 Geschaeften fuer ein=20
sicheres Einkaufserlebnis. UEberwacht werden die Kameras in trauter=20
Gemeinsamkeit von der BSG und dem BGS. Innerhalb von drei Minuten muss=20
eine Sicherheitsstreife eingreifen koennen, was eine entsprechende=20
Konzentration im Bereich der Videokameras voraussetzt.=20

Gegenueber den 140 Kameras im Leipziger Vorzeige-Bahnhof ueberwachen=20
drei Kameras der Leipziger Polizei die kriminalitaetsgeografischen=20
Brennpunkte vor dem Bahnhof und in der Innenstadt. Angeblich habe die=20
Videoueberwachung zu einem drastischen Rueckgang bei Einbruchs- und=20
Taschendiebstaehlen gefuehrt, wobei der Drogenhandel weiterhin=20
floriere.14 Mit den neuesten Modellen der verdeckten Videokameras sollen=20
die datenschutzrechtlichen Bedenken zerstreut werden. Die Kameras=20
koennen so programmiert werden, dass sie zur
Wahrung der Privatsphaere Sperrbalken ueber das Videobild legen. So kann=20
der bahnreisende Geschaeftsmann beim Betreten eines Sexshops unerkannt=20
bleiben. Die Industrie weisz zudem wie trotz eines vermehrten Einsatzes=20
von Videokameras Personal eingespart werden kann. Computer koennen die=20
UEberwachung der Kameras uebernehmen, indem sie bei bestimmten=20
Feststellungen Alarm schlagen.15

Der hessische Revolutionaer und Dichter Georg Buechner, prophezeite:=20
=BBWer das Schwert erhebt gegen das Volk, der wird durch das Schwert des=20
Volkes umkommen.=AB16 Mit anderen Worten ausgedrueckt: Auf Dauer laesst=20
sich die Gesellschaft nicht staendig und ueberall ueberwachen. Ebenso=20
wenig lassen sich die gesellschaftlichen Auszenseiter und=20
Wohlstandsverlierer staendig vertreiben. Auch dann nicht, wenn es=20
demokratisch legitimiert erscheint, weil damit Ausgrenzung und=20
Unterdrueckung verbunden ist.
_____
1 Das Modell New York: Kriminalpraevention durch Zero Tolerance, Hrsg.:=20
  Dreher, Gunther/Feltes Thomas, Holzkirchen/Obb. 1997, S. 143
2 Die Zeit 48/2000
3 Die Zeit 48/2000 [http://www.bigbrotherawards.de/2000/.gov/index.
  html , n0name Redaktion]
4 Heilbronner Stimme v. 6.8.2001
5 Allgemeine Zeitung v. 2.8.2001
6 Wiesbadener Kurier v. 2.8.2001
7 ebd.
8 Cilip 68, S. 70
9 ebd.
10 Schreiben des Bundesbeauftragten f=FCr Datenschutz v. 17.7.2001
11 taz Hamburg v. 23.7.2001
12 Deutsche Polizei 7/2001
13 taz Hamburg v. 19.6.01
14 ebd.
15 ebd.
16 Jungle World 33/2001

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Sicherheits- und Ordnungspolitik]

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---- End of n0name newsletter #39 Kreuzberg Fr., 29.10.2001 22:59 CET ----

Karl Marx


Das Kapital


Kritik der politischen =D6konomie



Karl Marx


Das Kapital


Kritik der politischen =D6konomie

Erster Band:
Der Produktionsproze=DF des Kapitals

Gewidmet
meinem unverge=DFlichen Freunde,
dem k=FChnen, treuen, edlen Vork=E4mpfer
des Proletariats
WILHELM WOLFF
Geb. zu Tarnau, 21. Juni 1809.
Gest im Exil zu Manchester 9. Mai 1864

Vor- und Nachworte

Vorwort zur ersten Auflage

    Das Werk, dessen ersten Band ich dem Publikum=20
=FCbergebe, bildet die Fortsetzung meiner 1859 ver=F6f-
fentlichten Schrift; =BBZur Kritik der Politischen Oeko-
nomie=AB. Die lange Pause zwischen Anfang und Fort-
setzung ist einer langj=E4hrigen Krankheit geschuldet,=20
die meine Arbeit wieder und wieder unterbrach.
    Der Inhalt jener fr=FCheren Schrift ist res=FCmiert im=20
ersten Kapitel dieses Bandes. Es geschah dies nicht=20
nur des Zusammenhangs und der Vollst=E4ndigkeit=20
wegen. Die Darstellung ist verbessert. Soweit es der=20
Sachverhalt irgendwie erlaubte, sind viele fr=FCher nur=20
angedeuteten Punkte hier weiter entwickelt, w=E4hrend=20
umgekehrt dort ausf=FChrlich Entwickeltes hier nur an-
gedeutet wird. Die Abschnitte =FCber die Geschichte der
Wert- und Geldtheorie fallen jetzt nat=FCrlich ganz weg.
Jedoch findet der Leser der fr=FCheren Schritt in den=20
Noten zum ersten Kapitel neue Quellen zur Geschich-
te jener Theorie er=F6ffnet.
    Aller Anfang ist schwer, gilt in jeder Wissenschaft.
Das Verst=E4ndnis des ersten Kapitels, namentlich des=20
Abschnitts, der die Analyse der Ware enth=E4lt, wird=20
daher die meiste Schwierigkeit machen. Was nun=20