[rohrpost] Wg: SPIEGEL ONLINE - US-Völkerrechtler: "Dieser Krieg ist illegal"

Matze Schmidt matze.schmidt@n0name.de
Thu, 01 Nov 2001 00:27:32 +0100


Subject: SPIEGEL ONLINE - US-Völkerrechtler: "Dieser Krieg ist illegal"
Date: Wed, 31 Oct 2001 23:18:02 +0200
x-sender: HanneloreL@pop.gmx.li
From: Hannelore Ludewig <HanneloreL@gmx.li>

Subject: SPIEGEL ONLINE - US-Völkerrechtler: "Dieser Krieg ist illegal"

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US-Völkerrechtler: "Dieser Krieg ist illegal"
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Der renommierte amerikanische Völkerrechtler Francis Boyle wirft der
US-Regierung vor, mit den Angriffen auf Afghanistan gegen die
Resolution des Uno-Sicherheitsrates zu verstoßen. Selbst wenn es
Beweise für Bin Ladens Schuld gäbe, müsste Bush nach dem Völkerrecht
mit den Taliban über eine Auslieferung verhandeln, sagt Boyle im
Interview mit SPIEGEL ONLINE.


SPIEGEL ONLINE: Herr Boyle, ist das bestehende Völkerrecht überhaupt
in der Lage, Anschläge wie die auf New York und Washington zu
beurteilen?

Boyle: Auf jeden Fall. Die Angriffe haben eindeutig die
Montreal-Konvention von 1971 zur Bekämpfung widerrechtlicher
Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt verletzt, die
sowohl die USA als auch Afghanistan sowie über 150 andere Staaten
unterzeichnet haben. Dieses Abkommen bietet einen exzellenten
juristischen Rahmen, um auf diese Anschläge zu reagieren.

SPIEGEL ONLINE: Verträge klingen immer gut. Aber brauchen wir nicht
- angesichts dieser neuen Dimension des Terrors - eine internationale
Organisation zu Bekämpfung des Terrorismus?

Boyle: Ich würde nicht von einer neuen Dimension sprechen. Dieses
Problem gibt es seit den sechziger Jahren. Neu ist nur die große Zahl
der Opfer in den USA. Diese Zahl ist ohne Zweifel schrecklich. Aber
das Völkerrecht kommt mit solchen Anschlägen zurecht - vorausgesetzt
die Regierungen stufen sie als terroristische Aktionen ein. Wenn wir
sie dagegen als Kriegsakt bezeichnen, geben wir Kriminellen eine
Würde, die ihnen normalerweise nicht zuteil würde.

SPIEGEL ONLINE: US-Präsident George W. Bush hat die Anschläge als
"Akt des Krieges" bezeichnet und nicht als Terror-Aktion.

Boyle: Das waren eindeutig terroristische Akte, wie sie im
amerikanischen Gesetz definiert sind.

SPIEGEL ONLINE: Was ist denn die Definition eines terroristischen
Aktes?

Boyle: Dabei handelt es sich um nichtstaatliche Akteure, die Gewalt
gegen zivile Objekte oder gegen Zivilisten ausüben mit der Absicht,
die Bevölkerung oder die Regierung in Angst zu versetzen.

SPIEGEL ONLINE: Aber im Völkerrecht gibt es eine solche Definition
nicht.

Boyle: Es gibt keine von allen Seiten akzeptierte Definition. Aber
die internationale Gemeinschaft hat sich darauf verständigt, dass
terroristische Anschläge illegal sind und als kriminelle Handlungen
eingestuft werden sollen. Neben der Montreal-Konvention gibt es zum
Beispiel das "Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des
Terrorismus" von 1999 und die "Konvention gegen Geiselnahme" aus dem
Jahr 1979.

SPIEGEL ONLINE: Warum hat Bush die Anschläge dann als kriegerischen
Akt gewertet?

Boyle: Auf der ersten Pressekonferenz nannte er sie noch
terroristische Akte. Dadurch unterlägen sie der Durchsetzung
nationalen und internationalen Rechts. So wurde auch der Anschlag in
Oklahoma behandelt, den Timothy McVeigh 1995 verübte. Genauso
eingestuft wurden auch die Anschläge auf die beiden US- Botschaften
in Kenia und Tansania. Aber nach Beratung mit Außenminister Powell
entschied Bush, die Anschläge einen "Act of War" zu nennen und mit
militärischen Mitteln zu reagieren.

SPIEGEL ONLINE: Aber der amerikanische Kongress hat dem zugestimmt!

Boyle: Ja, leider. Nachdem Bush seine Rhetorik eskaliert und die
Anschläge mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor im Jahre 1941
gleichgesetzt hatte, schloss sich der Kongress dem Präsidenten an und
autorisierte ihn, militärische Mittel einzusetzen. Diese Resolution
war sogar schlimmer als die Tonkin Gulf Resolution, die Präsident
Johnson 1964 erwirkte, um den Krieg in Vietnam zu führen.

SPIEGEL ONLINE: Auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat
Bush freie Hand gegeben.

Boyle: Das stimmt nicht. Die erste Resolution des Sicherheitsrats
vom 12. September sprach von einem terroristischen Anschlag. Es war
nie die Rede von einem bewaffneten Angriff. Erst dadurch wäre Artikel
51 der Uno-Charta zum Tragen gekommen...

SPIEGEL ONLINE: ...der jedem Staat das Recht auf Selbstverteidigung
einräumt.

Boyle: Bush versuchte die Zustimmung für militärische Gewalt zu
bekommen und scheiterte. Er wollte vom Sicherheitsrat eine ähnliche
Resolution bekommen wie sein Vater im Golfkrieg. Bush senior wurde
damals ermächtigt, zur Vertreibung des Iraks aus Kuweit "alle
notwendigen Mittel" zu benutzen. Am 28. September scheiterte Bush
erneut. Am 7. Oktober schickte dann der amerikanische Botschafter bei
der Uno, John Negroponte, einen Brief an den Sicherheitsrat, der
mitteilte, dass die USA ihr Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch
nehmen. Aber dies ist ganz eindeutig kein Fall von
Selbstverteidigung. Nach den Regeln des Völkerrechts ist dieser Krieg
illegal.

 SPIEGEL ONLINE: Warum nicht?

Boyle: Es gibt keinen Beweis dafür, das die Regierung in Afghanistan
die Anschläge in New York autorisierte oder billigte. Die Angriffe
auf Afghanistan sind bestenfalls Vergeltung.

SPIEGEL ONLINE: Aber es gibt doch wohl Beweise, dass Bin Laden die
Anschläge in Auftrag gegeben hat. Und er handelte schließlich von
afghanischem Territorium aus.

Boyle: Dafür gibt es keinen Beleg. Außenminister Powell versprach
ein so genanntes "White Paper", in dem er die Beweise darlegen würde.
Bush untersagte ihm das. Aber in einem Interview mit der "New York
Times" sagte Powell, dass es gegen Bin Laden nicht einmal Indizien
gebe. Das ist ein Rechtsfall, der nicht einmal vor einem normalen
Strafgericht standhalten würde.

SPIEGEL ONLINE: Aber die Nato-Staaten haben die Unterrichtung durch
den Sondergesandten Taylor als Beweis akzeptiert.

Boyle: Nach Aussage eines westlichen Diplomaten legte Taylor in der
Sitzung des Nato-Rates keinerlei Beweise vor, dass Bin Laden die
Anschläge anordnete oder die Taliban davon wussten. Beweise waren
auch nicht wichtig, weil sich Bush ohnehin schon für den Krieg
entschieden hatte.

SPIEGEL ONLINE: Aber spielt das denn eine Rolle? Der Nato-Rat
akzeptierte den US-Bericht und rief den Bündnisfall aus.

Boyle: Die Nato tut stets, was die USA von ihr verlangen. Die
Allianz wurde gegründet, um Europa gegen einen Angriff der
Sowjetunion zu verteidigen. Mit dem Kollaps des Warschauer Paktes war
die Existenzgrundlage der Nato verschwunden. Bush senior brachte den
Nato-Rat dazu, zwei neuen Legitimationsgründen für die Nato
zuzustimmen. Sie sollte einerseits als eine Art Polizei in Osteuropa
dienen. Andererseits sollte sie als Interventions-Truppe im Nahen
Osten fungieren, um Ölreserven zu schützen.

SPIEGEL ONLINE: Aber beim Washingtoner Gipfel 1999 schlossen die
Nato-Mitgliedsländer auch den Kampf gegen den Terrorismus in ihre
Ziele ein.

Boyle: Der Nato-Vertrag wurde niemals um dieses Ziel erweitert. Der
Vertrag wurde ursprünglich auf Basis von Artikel 51 der Uno-Charta
geschlossen. Also kann der Bündnisfall nur eintreten im Falle eines
bewaffneten Angriffs eines Staates auf ein Nato-Mitglied. Deshalb
hatte die Nato auch kein Recht, Jugoslawien zu bombardieren, weil
Serbien die Nato vorher nicht angegriffen hatte.

SPIEGEL ONLINE: Wie hätte denn die US-Regierung reagieren sollen?

Boyle: Sie hätten auf der Basis der Montreal Sabotage Convention
Verhandlungen eröffnen sollen. Das passierte zum Beispiel mit Libyen
im Lockerbie-Fall. Vor dem 11. September hat die US-Regierung ja auch
mit den Taliban über eine Auslieferung Bin Ladens verhandelt wegen
der Anschläge auf die US-Botschaften in Afrika und wegen der
inhaftierten Shelter-Now-Mitarbeiter. Die Taliban waren damals
bereit, Bin Laden an ein islamisches Land auszuliefern und auf Basis
der islamischen Scharia anzuklagen. Nach dem 11. September machten
sie weitere Konzessionen: Bin Laden könnte an ein neutrales Land
ausgeliefert werden. Sie bestanden nicht mehr länger auf einem
islamischen Gerichtsverfahren, forderten aber Beweise. Die Taliban
haben sich an die Anforderungen des internationalen Rechts gehalten,
Bush leider nicht.

SPIEGEL ONLINE: Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass die Angebote
der Taliban ernst gemeint waren?

Boyle: Wie gesagt: Vor dem 11. September haben die USA auch mit den
Taliban verhandelt. Und 1996 schickte Präsident Bill Clinton einen
Diplomaten nach Afghanistan um über die Anerkennung der
Taliban-Regierung zu verhandeln.

SPIEGEL ONLINE: Wenn das Völkerrecht so eindeutig ist - warum
ignorieren die Vereinigten Staaten es dann?

Boyle: Ich glaube, dass sich die US-Regierung bereits vor dem 11.
September für einen Krieg gegen Afghanistan entschieden hatte.

SPIEGEL ONLINE: Aber mit welchem Ziel?

Boyle: Die Öl- und Erdgasreserven in Zentralasien sind die
zweitgrößten nach denen im Persischen Golf. Nach dem Kollaps der
Sowjetunion nahm die US-Regierung sofort diplomatische Beziehungen zu
den zentralasiatischen Staaten auf. Politiker wie der ehemalige
Verteidigungsminister Caspar Weinberger sagten, dass die Ölfelder
Zentralasiens zum vitalen Interesse der Vereinigten Staaten
gehören...

SPIEGEL ONLINE: ...und die amerikanische Ölgesellschaft Unocal
verhandelte mit den Taliban über eine Pipeline aus Zentralasien durch
Afghanistan nach Pakistan...

Boyle: Die US-Regierung wollte nicht, dass irgendeine Pipeline durch
Russland oder Iran laufen würde. Die billigste und einfachste Route
läuft durch Afghanistan. Außerdem gibt es dort selbst auch
Ölreserven. Öl und Gas sind die wahren Interessen der US-Regierung,
nicht Bin Laden.

 Das Interview führte Christoph Schult . 

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