[rohrpost] Das sündige Mädchen und der Schriftsteller
Ralf Knüfer
ralf.knuefer@snafu.de
Wed, 5 Sep 2001 10:41:49 +0200
Ende der Feigheit: Rainald Goetz, Schriftsteller und Bildschirm-Junkie,
betritt nach zwanzig Jahren wieder ein Studio - als Talkmaster
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Es ist ein ungewöhnliches Gespann, das da durch die schmalen Straßen in
Berlins Mitte geht: der große elegante Fernsehmann im dunkelgrauen Anzug
und der kleine drahtige Schriftsteller in der Bundeswehr-Jacke, der sein
Mountainbike neben sich her schiebt. Zusammen marschieren sie von den
Redaktionsräumen an der Friedrichstraße hinüber in den repräsentativen
Gewerbehof Unter den Linden, wo die Hauptstadtstudios des ZDF liegen.
"Ist ja 'ne richtige Rennmaschine, die Sie da haben." - "Na, eher was,
mit dem man gut durch die Stadt heizen kann."
Die beiden verbindet ein ausgefallenes Fernsehvorhaben. Als "eine Art
historisches Projekt" bezeichnet es der Leiter des "ZDF-nachtstudios",
Volker Panzer, der sich zur Generation der Achtundsechziger zählt. Und
sein Kompagnon Rainald Goetz, der mit Mitte Vierzig immer noch als
Popliterat und Enfant terrible gilt, betrachtet das Ganze als
"ästhetisches Produkt", dessen "experimenteller Charakter in den Bereich
des Künstlerischen führt" - eine Art Fernsehkunstwerk also.
Tatsächlich ist es ein Novum, was die "nachtstudio"-Redaktion für ihre
ersten drei Ausgaben nach der Sommerpause plant. Nach dem Vorbild des
"Literarischen Quartetts" werden vier Journalisten und Autoren über
ausgewählte Sendungen des deutschen Fernsehens debattieren - live. Die
ganze TV-Palette wird in den Gesprächen abgedeckt, vom "heute-journal"
bis zum "Großen IQ-Test", von "Das sündige Mädchen" bis "Kulturzeit". Es
soll erörtert und kritisiert werden, philosophiert und gestritten. Die
Rolle des Marcel Reich-Ranicki übernimmt Goetz selbst. Ausgerechnet
jener umstrittene Schriftsteller, der Medienauftritte meidet wie der
Teufel das Weihwasser. Wie hat Panzer das geschafft? Wie hat er Goetz
ins "nachtstudio" gelockt, dessen zuweilen verblasene Intellektualität
so gar nicht in die marktorientierte Welt des heutigen Fernsehens paßt?
Ein Jahr ist es her, da las Panzer "Dekonspiratione", das jüngste Buch
von Rainald Goetz. Darin fabuliert der Autor von einer Talkshow zur
Fernsehkritik. Panzer nahm Goetz beim Wort, sprach ihn bei einer Lesung
an und schlug ihm vor, die Fiktion Wirklichkeit werden zu lassen - aber
"da wollte er das gar nicht". Wer Goetz dieser Tage in der ZDF-Redaktion
erlebt, begegnet jedoch einem besessenen Fernsehmacher. Er führt das
Wort, rauft sich die Haare und rennt auf und ab, wenn Panzer und sein
fünfköpfiges Team im fensterlosen Sitzungszimmer tagen. Er zerbricht
sich den Kopf über den Sendeablauf und erteilt Anweisungen für die
Kameraführung, ein TV-Maniac, der sich nur durch sein
"Chance-2000"-T-Shirt von den schwarzgewandeten ZDF-Redakteuren
unterscheidet. "Ich sehne mich schon so lange danach", sagt er, "daß
Leute, die ich interessant finde, darüber reden, was sie im Fernsehen
gesehen haben und wie sie das beurteilen." Aber nicht um die Kritik
einzelner Formate geht es ihm. Die ausgewählten Sendungen dienen
vielmehr als Anschauungsmaterial für eine grundsätzliche
phänomenologische Erörterung unserer Wahrnehmung: Was macht das
Fernsehen mit uns? Und wie macht es das? Goetz selbst formuliert es
komplizierter: "Das Thema ist die Frage, inwieweit Kriterien, die
unterschwellig in ganz vielen Urteilsvorgängen präsent sind, explizit
verbalisiert werden können." Panzer ist sich der Paradoxie des Projekts
bewußt. Er, der als Gewährsmann gern Niklas Luhmann anführt, weiß: "Das
Pikante ist natürlich, daß wir es im Fernsehen tun, das ein
selbstreferentielles System ist."
Goetz hat die kritische Distanz immer gewahrt. Von Anfang an hat er in
seinen Büchern über Medien geschrieben, sich aber selbst von ihnen
ferngehalten. Seit seinem Auftritt beim Klagenfurter Bachmann-Preis
1983, als er sich vor laufenden Kameras in die Stirn schnitt, hat er nie
wieder ein Fernsehstudio betreten. Er verfolgt das Weltgeschehen aus der
Position des zurückgezogenen Beobachters, der Presse und Fernsehen zum
Dauergegenstand seiner literarischen Observation macht. "Was wir über
die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir aus den Massenmedien",
schreibt Niklas Luhmann - ein Satz, der für Goetz im wörtlichen Sinn
Programm ist: tägliches Fernsehprogramm. "Ich sehe wirklich so viel und
so ununterbrochen fern, wie ich kann - und da ich natürlich
hauptsächlich an anderen Dingen arbeite, kann ich es oft gar nicht
genügend tun, so wie früher. Da hab' ich zum Teil ganze Tage
ferngesehen."
So schrieb Goetz über ein Jahr lang vor dem Fernseher die Ereignisse des
Jahres 1989 mit, um sie als dreibändige O-Ton-Sammlung auf 1600 Seiten
zu veröffentlichen. Und schon seit seinen ersten Texten fotografiert er
den Fernsehschirm ab, preist die "unvergleichlich schönen Bilder" und
die "herrliche Aktualität des Fernsehens". Schon "Dekonspiratione"
jedoch dokumentiert, daß dem Autor die ungetrübte Begeisterung abhanden
gekommen ist. Von einer Schreibkrise ist dort die Rede, die auf einer
Fernsehkrise beruhe. Die Berichterstattung über den Bosnien-Krieg geriet
in Goetz' Augen zur medialen Apokalypse: "Es war wirklich das
Schlimmste, was ich in meinem erwachsenen Leben an politischer
Emotionalität und Totalität erlebt habe."
Goetz' erster Talkshow-Auftritt ist Teil seines Werkes und sucht eine
Antwort auf die heutige mediale Situation. Der Autor, der keine Distanz
mehr zum Medium einnehmen kann, geht ins Fernsehen, um die Bilder wieder
zum Sprechen zu bringen. Und Volker Panzer stellt ihm dafür, wie er
sagt, "die Experimentierbühne ,nachtstudio'" zur Verfügung - für drei
volle Sendungen. Die Entschlossenheit des ZDF-Mannes überzeugte Goetz
endgültig. Bei der Pressekonferenz sitzen beide den versammelten
Journalisten gegenüber und geben sich gegenseitig Rückendeckung. "Was
passiert, ist offen", sagt Panzer. "Wir gehen beide ein Risiko ein, auch
ich. Kann durchaus sein, daß wir unsere Klientel verlieren." Und Goetz
fügt hinzu: "Es geht darum, nicht zu feig zu sein, das, wovon man
intellektuell träumt, in der Realität durchzuprobieren - auch wenn man
mehr von seiner Persönlichkeit hergibt, als man es je über die Schrift
tun würde."
In Goetz' Buch wird die Talkshow-Idee am Ende verworfen, weil die
Fernsehsender nicht mutig genug seien. Das "nachtstudio" hat die
Herausforderung angenommen, die dem Medium selbst gilt. Außer Panzer und
Goetz wird in jeder Sendung der Journalist und Theaterautor Moritz von
Uslar mit von der Partie sein, dazu als wechselnde Gäste die
Schriftstellerinnen und Fernsehkritikerinnen Alexa Hennig von Lange,
Klaudia Brunst und Barbara Sichtermann. Die Frage, die sie zusammen zu
beantworten haben, ist weniger, ob das eine oder andere TV-Format
gelungen ist. Sie lautet vielmehr, wo das Fernsehen heute steht, ob es
mehr ist als ein Apparat der Emotionserzeugung: ein Medium, das sich
selbst zu reflektieren, zu erkennen vermag.
NORBERT KRON
Das erste "nachtstudio" mit Rainald Goetz läuft heute nacht von 0 Uhr an
im ZDF. Zu Gast ist Alexa Hennig von Lange, besprochen werden die
Sendungen "Kulturzeit" (3sat, vom Montag), "TV total" (Pro Sieben,
gestern), "Das sündige Mädchen" (RTL, vom Samstag), "Gestrandet" (RTL 2,
vom Sonntag) und "Abenteuer Wissen" (ZDF, von heute). Die zweite Ausgabe
des "nachtstudios" sendet das ZDF am 12. September um 0.30 Uhr, die
dritte am 19. September um 0 Uhr.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.09.2001, Nr. 206 / Seite 55