[rohrpost] FYI: Sieben Thesen zur Lage

Florian Cramer cantsin@zedat.fu-berlin.de
Sun, 16 Sep 2001 19:30:05 +0200


Am Fri, 14.Sep.2001 um 22:44:02 +0200 schrieb jule brander:
 
> Warum???  Und wenn, dann hätte ich schon gern mal definiert 1. wo bei
> einem Anschlag die Grenze zu einem Krieg überschritten wird (ab 10,
> 15, 1000 Toten oder nur wenn CNN & Co. Tag und Nacht berichtet?) 

Natürlich ist diese Grenze nicht objektivierbar. Interessanterweise hat
der Terrorismus ja selbst versucht, sie zu verundeutlichen, um sich
darüber zu legitimieren. Man denke an Namen wie "Stadtguerilla", "Rote
Armee Fraktion", "Brigade Rosse", "Irish Republican Army" oder die
amerikanischen "militias". 

Wenn bei dem Angriff letzte Woche mehr Amerikaner gestorben sind als
G.I.s im zweiten Weltkrieg, scheinen mir Vergleiche mit herkömmlichen
Bombenattentaten nicht mehr angemessen. Meine Arbeitsdefinition eines
kriegerischen Angriffs wäre:

1. Er wird von einer professionell formierten politischen Organisation
ausgeführt, nicht von einem Einzeltäter; fast immer sind auch andere
Regierungen bzw. Geheimdienste involviert (als Mitwisser oder direkte
Helfer);

Diese Definition schlösse die meisten linksextremen Attentäter (RAF
und andere) ein und die meisten rechtsextremen Täter (McVeigh, den
österreichischen Briefbombenbauer u.a.) aus.

2. Ziel ist die Zerstörung eines Territoriums bzw. seiner Infrastruktur,
weniger eine genau ausgewählte Person oder Personengruppe. Tausende
Tote in der Zivilbevölkerung werden in Kauf genommen oder sogar
beabsichtigt.

Diese Definition hingegen schlösse die meisten linksextremen Attentäter
aus und in die meisten rechtsextremen ein. 

Da mir kein anderer terroristischer Anschlag außer dem von New York
bekannt ist, auf den sowohl Merkmal 1 und 2 zutreffen, scheint es mir
hier nicht vermessen, von einem kriegerischen Angriff (und nicht bloß
von einem Attentat) zu sprechen.

> sagen?) und 2a. ab wann genau man einen souveränen Staat ohne
> Kriegserklärung für Terroristenunterstützung angreifen darf
> (jederzeit,  jeder Staat jeden, der das so definiert, oder nur die
> "zivilisierten Staaten" die unzivilisierten?)?

Die Schwäche der USA ist, daß sie auf einen - vermutlich - nicht
nationalstaatlichen Gegner jetzt so reagiert wie auf einen
Nationalstaat. Die Mobilisierung der Reservisten finde auch ich, bei
aller Sympathie für Amerika, irrational und paranoid. Wenn die
bisherigen Indizien einer international verteilten (vermutlich
islamistischen) Organisation halbautonom operierender, redundanter
Zellen von "Schläfern" stimmen, ist die Ausschaltung dieser Organisation
weitaus komplexer, als sich das einer emotionalisierten Öffentlichkeit
verkaufen läßt, die gerne einfache und schnelle Lösungen sähe. 

Allerdings gehe ich jede Wette ein, daß auch solch ein postmoderner,
globalisiert agierender Zellen/Schläfer-Krieg nicht ohne
nationalstaatliche Unterstützer operiert. Das lehrt z.B. die Geschichte
Querverbindungen von Geheimdiensten und Terrorismus im kalten Krieg der
70er Jahre. 

> multinationale Truppe bin Ladens). Infoge dieser Unterstützung kam es
> zu einem Putsch mit Tausenden von Toten. Frage also: wenn Allende den
> Putsch abgewehrt hätte, hätte ihm dann  das Recht zugestanden die
> Anstifter "falls sie über eine militärische Infrastruktur und
> politische Rückendeckung verfügen" militärisch anzugreifen, kurz CIA,
> Kissinger und die ganze US Regierung zusammenzubomben?

Interessante Frage, in der Tat! Zumindest hätte er die US-Regierung vor
ein internationales Gericht zitieren können und wäre zweifellos auch
dazu legitimiert gewesen, ihre Auslieferung mit militärischer Gewalt zu
erzwingen.

Florian

-- 
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