[rohrpost]Robert Kurz - Totalitäre Ökonomie und
Paranoia des Terrors
Pit Schultz
rohrpost@mikrolisten.de
Sat, 29 Sep 2001 04:43:16 +0200
[nicht das ich komplett mit stil und inhalt uebereinstimme
aber lesenswert fand ich das folgende schon, weil es ueber
den ueblichen kollumnenweiten kritik oder vernunftbegriff
hinaus geht was die derzeitigen ereignisse angeht..]
Robert Kurz
Totalitäre Ökonomie und Paranoia des Terrors
Der Todestrieb der kapitalistischen Vernunft
Große und symbolische Katastrophen sind in der Geschichte der Menschheit
immer wieder Anlaß zu einer Besinnung gewesen, in der die Mächtigen der Welt
ihre Hybris ablegen, Gesellschaften sich selbst reflektieren und ihre
Grenzen erkennen. Nichts dergleichen ist nach dem Kamikaze-Angriff auf die
Nervenzentren der USA in der kapitalistischen Weltgesellschaft zu
beobachten. Fast scheint es so, als hätte der barbarische Angriff aus dem
Dunkeln der Irrationalität nicht nur das World Trade Center platt gemacht,
sondern auch den letzten Rest von Urteilsvermögen der weltdemokratischen
Öffentlichkeit. Diese Gesellschaft will sich im Spiegel des Terrors nicht
selbst erkennen, sondern sie wird unter dem Eindruck des Grauens sogar noch
selbstgefälliger, bornierter und unreflektierter als zuvor. Je gewaltsamer
sie auf ihre Grenzen hingewiesen wird, desto heftiger pocht sie auf ihre
Macht und desto sturer kultiviert sie ihre Eindimensionalität.
Nach dem Terrorschlag verhalten sich die Funktionseliten, die Medien und das
Fußvolk des globalen Systems von "Marktwirtschaft und Demokratie", als wären
sie allesamt Schauspieler und Statisten in einer Realinszenierung des Films
"Independence Day". Hollywood ahnte ein apokalyptisches Ereignis voraus und
verfilmte es als Darstellung von patriotischem Kitsch und
hinterwäldlerischer Moral. So hat die Kulturindustrie die Wirklichkeit der
Katastrophe banalisiert und entwirklicht, bevor sie überhaupt wirklich
wurde. Die spontane Trauer und Fassungslosigkeit wird überlagert von den
falschen Ritualen eines programmierten Reaktionsmusters, das jedes
Verständnis für den inneren Zusammenhang von Terrorismus und herrschender
Ordnung unmöglich macht.
Die Verhärtung des offiziellen demokratischen Bewußtseins zur wütenden
Besinnungslosigkeit wird deutlich, wenn der Laiendarsteller des
US-Präsidenten einen "monumentalen Kampf des Guten gegen das Böse"
beschwört. Durch dieses naive Weltbild werden die eigenen inneren
Widersprüche nach außen projiziert. Es ist das elementare Schema aller
Ideologie: Statt den Komplex der Zusammenhänge aufzudecken, in die man
selbst verwickelt ist, muß eine fremde Ursache für die Ereignisse gefunden
und ein externer Feind definiert werden. Aber im Unterschied zu den
pubertären Traumwelten Hollywoods wird es in der harten Wirklichkeit der
zerbrechenden Weltgesellschaft kein happy end geben.
In dem Film "Independence Day" sind es sinnigerweise Außerirdische, die
"Gottes eigenes Land" angreifen und natürlich heroisch zurückgeschlagen
werden. Diesen Part des außerweltlichen, außerkapitalistischen und
außervernünftigen Aliens soll nun offenbar der militante Islamismus
übernehmen, als handle es sich um eine soeben entdeckte fremde Kultur, die
sich als finstere Bedrohung entpuppt. Auf der Suche nach dem Ursprung des
Bösen blättert man im Koran, als ließen sich dort die Motive für die sonst
unerklärlichen Taten finden.
Aufgestörte westliche Intellektuelle entblöden sich nicht, den Terrorismus
als Ausdruck eines "vormodernen" Bewußtseins zu bezeichnen, das die Epoche
der Aufklärung verpasst habe und deshalb die wunderbare westliche "Freiheit
zur Selbstbestimmung", den freien Markt, die liberale Ordnung und überhaupt
alles Gute und Schöne der westlichen Zivilisation in Akten des blinden
Hasses "verteufeln" müsse. Als hätte es nie eine intellektuelle Reflexion
über die "Dialektik der Aufklärung" gegeben und als hätte sich der liberale
Begriff des Fortschritts in der katastrophalen Geschichte des 20.
Jahrhunderts nicht längst blamiert, kehrt in der Verwirrung über den
neuartigen Akt des Wahnsinns die ebenso arrogante wie ignorante bürgerliche
Geschichtsphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts als Gespenst zurück. Im
krampfhaften Versuch, die neue Dimension des Terrors einem fremden Wesen
zuzuschreiben, fällt das westlich-demokratische Räsonnement endgültig unter
jedes intellektuelle Niveau.
Aber die Tatsache des inneren Zusammenhangs aller Erscheinungen in der
globalisierten Gesellschaft läßt sich so billig nicht wegdefinieren: Nach
fünfhundert Jahren blutiger Kolonial- und Imperialismusgeschichte, nach
hundert Jahren einer gescheiterten staatsbürokratischen Industrialisierung
und nachholenden Modernisierung, nach fünfzig Jahren destruktiver
Integration in den Weltmarkt und zehn Jahren unter der absurden Herrschaft
des neuen transnationalen Finanzkapitals gibt es in Wahrheit keinen
exotischen orientalischen Raum mehr, den man als fremd und äußerlich
begreifen könnte. Alles, was heute geschieht, ist unmittelbar oder
vermittelt ein Produkt des zwanghaft vereinheitlichten Weltsystems. Die One
World des Kapitals ist selber der Schoß, der den Mega-Terror gebiert. Es war
die militante Ideologie des westlichen ökonomischen Totalitarismus, die den
ebenso militanten neo- ideologischen Wahnvorstellungen den Weg geebnet hat.
Das Ende der staatskapitalistischen Ära und ihrer Ideen wurde zum Anlaß
genommen, die kritische Theorie überhaupt zum Schweigen zu bringen. Die
Widersprüche der kapitalistischen Logik durften nicht mehr zur Sprache
kommen, sie wurden für nicht existent und die Frage der sozialen
Emanzipation jenseits des warenproduzierenden Systems für irrelevant
erklärt. Mit dem vermeintlich endgültigen Sieg des Markt- und
Konkurrenzprinzips begann die intellektuelle Reflexionsfähigkeit der
westlichen Gesellschaften zu erlöschen. Die Menschen dieser Welt sollten
identisch werden mit kapitalistischen Funktionen, obwohl die Mehrheit
bereits als "überflüssig" abgestempelt war.
Während die finanzkapitalistischen Krisenmechanismen des Shareholder Value
Milliarden von Menschen in Armut und Verzweiflung stürzten, sang die
Mehrheit der globalen Intelligentsia wie zum Hohn das Lied des
marktwirtschaftlich- demokratischen Optimismus. Sie haben jetzt die Quittung
bekommen: Wenn die kritische Vernunft verstummt, tritt an ihre Stelle der
mörderische Hass. Die objektive Unhaltbarkeit der herrschenden Produktions-
und Lebensweise macht sich dann nicht mehr auf rationale, sondern auf
irrationale Weise geltend. So folgte auf den Rückzug der kritischen Theorie
der Vormarsch des religiösen und ethno- rassistischen Fundamentalismus.
Solange sich die grundsätzliche emanzipatorische Kapitalismuskritik nicht
neu formiert, werden die Ausbrüche von sozialer und ideologischer Paranoia
zum alleinigen Gradmesser für das Ausmaß, in dem die Widersprüche der
Weltgesellschaft herangereift sind. Unter diesen Bedingungen bedeutet die
neue Qualität des Mega-Terrros in den USA, daß die offiziell ignorierte und
heruntergeredete Krise des globalisierten kapitalistischen Systems eine neue
Dimension angenommen hat.
Was als fremdartige Furie des Terrors erscheint, ist aber nicht nur auf dem
Nährboden der marktwirtschaftlichen One World herangewachsen, sondern auch
von den repressiven Machtapparaten der westlichen Demokratien selber
gezüchtet worden, die jetzt ihre Hände in Unschuld waschen. Es handelt sich
um Irrläufer des Kalten Krieges und der daran anschließenden demokratischen
Weltordnungskriege. Saddam Hussein wurde vom Westen gegen das iranische
Mullah- Regime aufgerüstet, das seinerseits aus der Modernisierungs-Ruine
des Schah- Regimes gekrochen war. Die Taliban wurden von den USA gepäppelt,
geschult und mit effizienten Flugabwehrraketen ausgerüstet, weil damals
alles zum Reich des "Guten" zählte, was gegen die Sowjetunion gerichtet war.
Und der jetzt zur mythischen Figur des Bösen aufgeblasene Wirrkopf Usama bin
Laden betrat aus demselben Grund ursprünglich als "baby" der westlichen
Geheimdienste die Weltarena der bewaffneten Paranoia. Der
"Sicherheits"-Imperialismus der NATO, der die vom Kapital nicht mehr
reproduzierbare Menschheit gewaltsam unter Kontrolle halten will, bedient
sich auch aktuell befreundeter Folter-Regimes und diverser Gestalten des
Wahnsinns in der Türkei, in Saudi-Arabien, Marokko, Pakistan, Kolumbien und
anderswo. Aber weil diese Welt aus den Fugen geht, verselbständigt sich ein
Wechselbalg nach dem anderen. Das "baby" von heute ist immer schon das
"unbegreifliche Monster" von morgen.
Die Fürsten des Terrors, die Gotteskrieger und Clan-Milizen sind allerdings
keineswegs nur äußerlich vom Westen instrumentalisierte Kräfte, die ihm nun
zu entgleiten beginnen. Auch ihr Geisteszustand ist nicht "mittelalterlich",
sondern postmodern. Die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen dem Bewußtsein
der marktwirtschaftlichen "Zivilisation" und dem Bewußtsein der islamischen
Terroristen können nicht allzu sehr erstaunen, wenn man bedenkt, daß es sich
bei der Logik des Kapitals um einen irrationalen Selbstzweck handelt, der
nichts anderes als säkularisierte Religion darstellt. Auch der ökonomische
Totalitarismus teilt die Welt in "Gläubige" und "Ungläubige". Die
herrschende "Zivilisation" des Geldes kann die Abkunft des Terrors nicht
rational analysieren, weil sie sonst sich selbst in Frage stellen müßte. So
definiert der angeblich aufgeklärte Westen den Islamismus ebenso als "Werk
des Teufels" wie dieser umgekehrt den Westen. Die irrationalen
dichotomischen Bilder von "Gut" und "Böse" gleichen sich bis zur
Lächerlichkeit.
Was in den Köpfen der Chefterroristen vorgeht, ist seiner Natur nach nicht
bizarrer als die Art und Weise, wie die Chefmanager der globalen
Marktwirtschaft Mensch und Natur unter dem destruktiven Zwang des abstrakten
betriebswirtschaftlichen Kalküls wahrnehmen und zurichten. Der religiöse
Terror schlägt ebenso blind und sinnlos zu wie die "unsichtbare Hand" der
anonymen Konkurrenz, unter deren Regiment permanent Millionen von Kindern
verhungern - um nur ein Beispiel zu nennen, das den angesichts der Opfer von
Manhattan zelebrierten Kult der Betroffenheit in ein seltsames Licht taucht.
Wenn die Medien zwischen den Zeilen eine heimliche Bewunderung für die
ungeahnten technischen und logistischen Fähigkeiten der Terroristen erkennen
lassen, wird auch in dieser Hinsicht die Verwandtschaft der Seelen deutlich:
Beide Seiten gehören gleichermaßen der modernen "instrumentellen Vernunft
an. Denn auf beide trifft zu, was in Melvilles "Moby Dick", dieser großen
Parabel auf die Moderne, der unheimliche Kapitän Ahab sagt: Alle meine
Mittel sind vernünftig, nur mein Zweck ist wahnsinnig. Die Ökonomie des
Terrors entspricht spiegelbildlich dem Terror der Ökonomie. So erweist sich
der Selbstmord-Attentäter als die logische Fortsetzung des einsamen
Individuums in der universellen Konkurrenz unter den Bedingungen der
Aussichtslosigkeit. Was hier zum Vorschein kommt, ist der Todestrieb des
kapitalistischen Subjekts. Daß dieser Todestrieb dem westlichen Bewußtsein
selbst inhärent ist und nicht nur durch die soziale, sondern auch durch die
geistige Trostlosigkeit des totalitären Marktsystems ausgelöst wird,
beweisen die periodischen Amokläufe von Mittelstandskindern in den Schulen
der USA und das Attentat von Oklahoma, das bekanntlich ein authentisches
Produkt des inneren Wahnsinns der USA war. Der auf ökonomische Funktionen
reduzierte Mensch wird ebenso verrückt wie der Mensch, den der
Verwertungsprozeß als "überflüssige Existenz" ausspuckt. Die instrumentelle
Vernunft entläßt ihre Kinder.
Weil der irrationale Kern seiner Ideologie dem islamischen Fundamentalismus
gleicht wie ein Ei dem anderen, kann der Kapitalismus nur noch zum Kreuzzug
aufrufen, zum "heiligen Krieg" der westlichen "Zivilisation". Allein solche
Opfer, die Star-Kolumnistinnen der USA, Broker in Manhattan und Bürger der
westlichen Freiheit sind, gelten als wirkliche Opfer und werden in
Gedenkgottesdiensten beweint. Der Tod von irakischen Zivilisten und
serbischen Kinder dagegen, die von Bomben aus zehn Kilometer Höhe zerfetzt
wurden, weil die kostbare Haut der US-Piloten nicht geritzt werden durfte,
erschienen nicht als Menschenopfer, sondern als "Kollateralschaden". Sogar
vor den Toten macht die globale Apartheid nicht halt. Der westliche Begriff
der Menschenrechte enthält als stumme Voraussetzung die Verkäuflichkeit der
Person und die Zahlungsfähigkeit. Wer diese Kriterien nicht erfüllen kann,
ist eigentlich kein Mensch mehr, sondern ein Stück Biomasse. So teilt der
westliche Fundamentalismus die Welt auf in das angeblich zivilisierte
"Reich" einerseits und die "neuen Barbaren" andererseits, wie der
französische Publizist Jean Rufin schon Anfang der 90er Jahre feststellte.
Das Imperium wankt. Innerhalb weniger Monate hat sich der Mythos der
ökonomischen Unverwundbarkeit durch den Zusammenbruch der "New Economy"
blamiert. Jetzt ist der Mythos der militärischen Unverwundbarkeit zusammen
mit dem Pentagon in Flammen aufgegangen. Das utilitaristische Denken der
Funktionseliten versucht sogar aus dieser Katastrophe noch Nutzen zu
schlagen. Denn mitten im Absturz der Finanzmärkte hat man plötzlich den
Stoff für eine Dolchstoßlegende: Nicht die herrschende Ordnung ist obsolet,
wenn weitere Finanzblasen platzen und womöglich die Weltmarktwirtschaft
kollabiert, sondern der "externe Schock" des Terrorschlags soll dann die
Ursache gewesen sein - so Wim Duisenberg, Präsident der Europäischen
Zentralbank (EZB). Das Systemversagen wird in die externe Bosheit der
fremdartigen "Ungläubigen" umdefiniert, aber dadurch nicht ungeschehen
gemacht.
Gleichzeitig rollt eine Welle der ebenso hysterischen wie schmalzigen
Kriegspropaganda, als schrieben wir den August 1914. Überall melden sich
zuhauf Freiwillige, mitten im Crash steigen die Aktien der
Rüstungsindustrie, fast schon macht sich Hoffnung auf eine
Kreuzzugs-Konjunktur breit. Aber klandestine Gruppen von Männern, die mit
Messern und Teppichschneidern bewaffnet sind, fordern nicht die
Massenmobilisierung und Bündelung aller gesellschaftlichen Kräfte heraus.
Der Terror stellt kein äußeres Gegenimperium auf derselben Ebene von
Staatlichkeit und Kriegswirtschaft dar. Er ist die innere Nemesis des
globalisierten Kapitals selbst. Deshalb kann er keinen neuen Rüstungsboom
hervorrufen. Auch militärisch wird der Kreuzzug ins Leere gehen. Ob mögliche
"Vergeltungsschläge" der USA wie gehabt aus zehn Kilometern Höhe irgendeine
Zivilbevölkerung dezimieren oder ob Bodentruppen unter hohen Verlusten durch
entlegene Bergregionen irren, wie es die Armee der Sowjetunion in
Afghanistan erfahren mußte: Aus dem Pseudo-Krieg gegen die von ihm selbst
hervorgebrachten Dämonen der Weltkrise wird der Kapitalismus keine Nahrung
für sein Fortleben mehr saugen können.
Es sind auch Stimmen der Vernunft zu hören, von Feuerwehrleuten in New York
bis zu einzelnen Journalisten und Politikern, die wenigstens sagen, daß ein
Krieg völlig sinnlos wäre. Aber diese Vernunft droht hilflos zu bleiben und
von der Welle der Irrationalität weggeschwemmt zu werden, wenn sie nicht zu
einer Analyse der Krisenverhältnisse findet. Es gibt nur einen Weg, dem
Terror wirklich den Nährboden zu entziehen: die emanzipatorische Kritik am
globalen Totalitarismus der Ökonomie.
no copyright 2001 textz.com - no rights reserved