[rohrpost] Bibliotheken sind nur ein Gleichnis (FAZ von heute)

Tilman Baumgaertel tilman_baumgaertel@csi.com
Tue, 16 Apr 2002 11:02:46 +0200


http://www.faz.net/IN/INtemplates/faznet/default.asp?tpl=3Dfaz/content.asp&r=
ub
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1E520}

FAZ, 16. April 2002

Feuilleton heute



Bibliotheken sind nur ein Gleichnis - Salomos grausame Weisheit
=20
Unser Kulturauftrag ist die Digitalisierung

"Gebt ihr das lebende Kind, nur t=F6tet es nicht." Verzicht aus echter
m=FCtterlicher Liebe und Sorge - jeden Leser der Bibel ergreift die Weisheit
des K=F6nigs Salomo, der den Streit der beiden M=FCtter auf paradoxe Weise s=
ich
selbst entscheiden lie=DF. Denn h=F6chste Staatsklugheit dr=FCckt sich bei=
 ihm in
der Drohung h=F6chsten Staatsversagens aus: in der Drohung, das strittige
Kind mit dem Schwert zu zerteilen, den Streit buchst=E4blich gegenstandslos
zu machen.

Die Computerisierung des Lebens l=E4=DFt uns sp=FCren, wie sehr wir selbst n=
och
archaischen Familienwerten verhaftet sind, statt uns an digitale
Beziehungslosigkeit angepa=DFt zu haben. Beispielhaft f=FCr unsere inneren
K=E4mpfe ist der 92. Deutsche Bibliothekartag, der vergangene Woche in
Augsburg stattfand. Die Bibliothek geh=F6rt zu unseren ehrw=FCrdigsten
Institutionen. Wer mit dem einen oder anderen Bibliothekar gesprochen hat,
wei=DF die Vertreter dieser Institution zu sch=E4tzen: Sie zeichnen sich aus
durch pers=F6nliche Integrit=E4t, Loyalit=E4t gegen=FCber ihrer Institution,
leidenschaftliche Liebe zum Beruf, Verantwortungsgef=FChl gegen=FCber der
Gesellschaft. Diese Eigenschaften dr=FCckten sich auch aus in den
Herausforderungen, die in fast vierzig Themenkreisen und =FCber sechzig
Arbeitssitzungen zur Sprache kamen. Dazu geh=F6rten etwa die
betriebswirtschaftliche Proze=DFoptimierung, der Einsatz moderner Methoden
f=FCr Leistungsmessung, die Ausbildung des Personals und sein effizientester
Einsatz im Interesse der Nutzer und der steuerzahlenden =D6ffentlichkeit.
Dazu geh=F6rte die Verantwortung der Bibliotheken als Vermittler von
Informationskompetenz, als Anbieter mulimedialer Lehr- und Lernmittel sowie
als Verleger elektronischer Publikationen. Im letztgenannten Bereich geht
es darum, zu den kommerziellen Verlagen in bestimmten Bereichen in
Konkurrenz zu treten, um eine Senkung der exorbitant steigenden Preise f=FCr
den Bezug wissenschaftlicher Informationen zu bewirken und die damit
verbundene "Bibliothekskrise" im Interesse der Wissenschaft zu mildern.
Schlie=DFlich dr=FCckt sich das hohe Ethos unserer deutschen Bibliothekare i=
m
Willen zu Selbstkritik und Ver=E4nderung aus, in der Bereitschaft, den
"Spagat" zwischen "Kulturauftrag" und "Informationsmanagement", das
Nebeneinander von Best=E4nden traditionellen, gedruckten Wissens und
moderner, digitaler Informationsh=E4ppchen, die Probleme der sogenannten
"hybriden Bibliothek" zu meistern. Wir k=F6nnen soviel Problembewu=DFtsein n=
ur
bewundern - und m=FCssen den sich darin ausdr=FCckenden Idealismus doch
kritisieren.

Die Bibliothekare sorgen sich, wie sie mit so vielen neuen Aufgaben fertig
werden sollen, und rufen nach mehr Geld, um Zeitschriften und B=FCcher
=FCberhaupt noch kaufen, die digitale Infrastruktur ausbauen und das Persona=
l
schulen zu k=F6nnen. Aber sie wollen das Sorgerecht f=FCr ein Kind, das im
Begriff ist, erwachsen und selbst=E4ndig zu werden. Die Bibliotheken werden
wie die echte Mutter in der Geschichte vom weisen K=F6nig Salomo lernen
m=FCssen, ihren Z=F6gling loszulassen, um ihn noch besitzen zu k=F6nnen. Die
Technik selbst ist dabei nur eine von drei Triebkr=E4ften. M=F6glich ist es
heute durch zahlreiche internetgest=FCtzte Informationsangebote, G=FCter und
Dienstleistungen in globalem Ma=DFstab zu vergleichen: Das betrifft alles,
was irgendwie standardisierbar ist, und das ist sehr viel, etwa B=FCcher,
Versicherungs- oder Bankprodukte, Maschinen und Zulieferteile, Rohstoffe
und Handwerksleistungen am Bau. Der =F6ffentliche Sektor ist dem Vergleich
bislang am wenigsten ausgesetzt. Er f=E4llt unter den Generalverdacht
derjenigen, die den Konkurrenzdruck ertragen m=FCssen. Lehrer beispielsweise
gelten pauschal als "faul". Das ist stupid, liegt aber in der Logik der
Sache. Politiker k=FCmmern sich nicht ums Gemeinwohl und sind korrupt - das
ist ebenso stupid, aber der K=F6lner Kl=FCngel zeigt die Notwendigkeit,
Ausschreibungen f=FCr =F6ffentliche Projekte transparent zu machen: das
Internet bietet daf=FCr alle M=F6glichkeiten.

So auch die Bibliotheken. Effizienzmessung und Benchmarking treffen einen
gesellschaftlichen Nerv. Aber solange =F6ffentliche Einrichtungen nicht in
Konkurrenz zu privaten Anbietern treten, wirkt das nur, als lasse man der
=D6ffentlichkeit lediglich die Wahl zwischen rotem und schwarzem Filz. Sogar
die Politiker, die zweite Triebkraft, merken, da=DF sie den Leuten ihre
minderwertige Auslegeware nicht unbegrenzt aufschwatzen k=F6nnen. Andere
Staaten, L=E4nder, Kommunen leisten mehr. Es zeugt f=FCr ihr
Verantwortungsgef=FChl, wenn die Bibliothekare Kinderg=E4rten, Schulen und
Hochschulen Angebote zur Verbesserung der "Informationskompetenz" machen.
Aber das wirkt, als wollte der Lahme dem Blinden beispringen. Politiker
werden an solchen Verzweiflungsakten ihren Handlungsbedarf erkennen, aber
nicht glauben, da=DF ein solches Gespann ans Ziel gelangen kann. Die seit de=
r
Pisa-Vergleichsstudie von den B=FCrgern verst=E4rkt geforderte Bildung von
"Informationskompetenz" geh=F6rt in den Verantwortungsbereich der
Bildungsinstitutionen, nicht der Archive. Politiker werden die Autonomie
der =F6ffentlichen Ausbildungsst=E4tten, gleichzeitig aber auch den Wettbewe=
rb
um die besten Methoden zu f=F6rdern haben: private Kinderg=E4rten, Schulen u=
nd
Hochschulen.

Technik treibt nicht nur Politik, sondern auch Wirtschaft an. Die zum Buch
gebundene Einheit von Medium und Inhalt ist durch digitale Technik
aufgel=F6st. Es gibt das =F6ffentliche Gut "Informationsinfrastruktur" und d=
as
private Gut "Information". F=FCr bestimmte Teile des Informationsmarktes
werden Intermedi=E4re wie Buchh=E4ndler und Bibliotheken =FCberfl=FCssig.=
 Dies gilt
vor allem f=FCr den Bereich naturwissenschaftlicher, medizinischer und
technischer Literatur. Dieser Bereich ist teuer und ineffizient, weil zwei
Funktionen miteinander vermischt sind. Zum einen geht es um die Versorgung
mit Informationen dar=FCber, was die Wissenschaft bereits geleistet hat und
was nicht ein zweites Mal erarbeitet werden mu=DF. Zum anderen geht es darum
zu wissen: Wer hat was geleistet, wer wird auf seinem Fachgebiet k=FCnftig
Herausragendes leisten. Es geht um Vergangenheit und um karriererelevantes
Prestige. Gemessen wird das daran, wie oft jemand in Zeitschriften mit
hoher Reputation ver=F6ffentlicht und wie h=E4ufig er zitiert wird. Diese
doppelte Nachfrage treibt die Preise f=FCr wissenschaftliche Zeitschriften.
In diesem System gegenseitiger Beg=FCnstigung dienen die Bibliotheken nur
noch als Parkpl=E4tze, auf denen Geldkoffer den Besitzer wechseln - wobei un=
s
die Parkplatzw=E4chter weismachen wollen, die Koffer seien zu klein. Ein Tei=
l
der L=F6sung wird im Direktbezug einzelner Aufs=E4tze oder Informationen
liegen, unter mehr oder weniger gro=DFer finanzieller Selbstbeteiligung der
Wissenschaftler. Die Bibliothekare werden =FCberfl=FCssig wie
Versicherungsmakler, sobald die Kunden ihre Versicherungen per Internet
direkt abschlie=DFen.

Die strukturell bedingte Korruption jedoch wird erst beendet sein, wenn das
System der Informationsversorgung vom System der Prestigemessung getrennt
sein wird. Die Herausgeber und Gutachter der wissenschaftlichen
Zeitschriften, au=DFerdem die =FCbrigen Fachgelehrten und lesenden
Wissensarbeiter sollten ihre Bewertungen von prestigeheischenden Beitr=E4gen
deshalb direkt in eine zentrale nationale oder besser internationale
Datenbank eingeben, deren Inhalt =F6ffentlich einsehbar ist und Auswertungen
gestattet, beispielsweise wenn Stellen zu besetzen sind. Der
Internetbuchh=E4ndler Amazon liefert mit seinen Leserbewertungen ein
primitives Modell, das man beliebig verfeinern k=F6nnte.

Und die Geisteswissenschaften? Bleiben sie nicht auf der Strecke, ebenso
wie die Bibliotheken und ihr sogenannter "Kulturauftrag"? Am Beispiel der
Bibliotheken zeigt sich vielmehr, da=DF wir die Digitalisierung der
Gesellschaft, ihre Differenzierung nach funktionalen Gesichtspunkten selbst
als unseren Kulturauftrag betrachten m=FCssen.

Einer k=FCnftigen Differenzierung in stark verschulte Lehramts- und
"Bachelor"-Studieng=E4nge einerseits und wissenschaftliche Master- und
Promotionsstudieng=E4nge andererseits entspr=E4che eine Einteilung in m=F6gl=
ichst
virtualisierte Lehrstoffsammlungen und spezialisierte, um Archive oder
Themenschwerpunkte herum organisierte Pr=E4senzbibliotheken. Ihren tiefer al=
s
bisher verstandenen Kulturauftrag f=E4nden Bibliotheken - pathetisch
gesprochen - als Friedh=F6fe des Geistes, als Mausoleen identit=E4tstiftende=
r
Kulturdenkm=E4ler, mit der Wissenschaft als begleitendem Totenamt. Wer liegt
nicht lieber auf dem P=E8re-Lachaise als auf dem Stadtfriedhof von Vechta?
Das Internet k=F6nnte also bei der nationalen Reorganisation und
Konzentration der geisteswissenschaftlichen Forschungsbibliotheken als
B=F6rse dienen, in der Dauerleihgaben getauscht und zu zeitlich begrenzten
Sammlungen zusammengef=FChrt werden k=F6nnen. Die Bibliothekare m=FC=DFten j=
edoch
auch hier ihre Fixierung auf stets wachsende Best=E4nde l=F6sen und die
Differenz von unver=E4u=DFerlichem Eigentum und befristetem Besitz - der
"Nutzung" - lernen.

In der Bibel steht nicht, was mit der Mutter und ihrem Kind weiter geschah.
Sicher ist nur, da=DF sie nicht heimgingen, um gemeinsam eine "hybride
Bibliothek" oder andere Ungeheuer auszubr=FCten, an die sogar der weise
Wissenschaftsrat glaubt.

CHRISTOPH ALBRECHT

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.04.2002, Nr. 88 / Seite 43