[rohrpost] Die Nomaden des Kapitals
sebastian@rolux.org
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Tue, 22 Jan 2002 17:50:07 +0100
/*
Aus Starship #5 Fr=FChling 2002 <star-ship.org>. Siehe auch "deleuze=
.net not
found" <amsterdam.nettime.org/Lists-Archives/rohrpost-0201/msg00000.=
html>
*/
Die Nomaden des Kapitals
Einf=FChrung in den Abschied von den Umherschweifenden Produzenten<1>
Von Sebastian L=FCtgert
Der "Umherschweifende Produzent"<2> ist in den 90er Jahren zu einer der
popul=E4rsten linken Heldengestalten geworden und gilt noch heute als ein
brauchbares Modell f=FCr die Subversion "beschleunigten" Lebens und
"immaterialisierter" Arbeit im "globalisierten" Kapitalismus. Was dieser =
Figur
ihren vermeintlichen Glamour verleiht, ist neben ihrem Bekenntnis, noch h=
eute
Kommunist zu sein, vor allem die diffuse Aura ihres Bewegungsbegriffs,
demzufolge es sich beim Umherschweifen um ein selbstbestimmt-nichtlineare=
s
Gleiten durch die Strata des sozialen Raums handelt. Diese Bewegung beruf=
t sich
weniger auf Debords Theorie des "d=E9rive"<3>, die ein Driften im Urbanen
beschreibt, das gerade die Zur=FCckweisung jeder Arbeit zum Ausgangspunkt=
hat, als
vielmehr auf Deleuze/Guattaris Konzept der "d=E9territorialisation"<4>, d=
as sich
eher gegen die Gravitationskraft geschlossener R=E4ume wendet als gegen d=
as
Prinzip der Produktivit=E4t. Ganz im Gegenteil: dieses Umherschweifen
"funktioniert", stellt st=E4ndig neue Netze von Zusammenh=E4ngen her und =
arbeitet
dabei mit Verkn=FCpfungsoperationen, die sich von der territorialen Logik=
(von der
die situationistische Psychogeographie sich noch explizit treiben liess)
weitgehend verabschiedet haben. Und so besteht die begriffliche Praxis de=
s
Umherschweifenden Produzenten vor allem in der bei jeder Gelegenheit so o=
der
=E4hnlich wiederholten Behauptung, er gleite auf nomadische Weise auf den=
Plateaus
und Fluchtlinien eines rhizomatischen Kapitalismus entlang - und das ist =
nicht
nur dumm, sondern auch gef=E4hrlich.
Nun geht es weder darum, eine Theoriepolizei zu installieren, die die kor=
rekte
Verwendung von Begriffen kontrolliert, noch darum, die Konzeption von B=FC=
chern
als Wergzeugk=E4sten zu diskretidieren; eher ginge es um die Kritik jenes=
linken
Mythos, der besagt, Werkzeuge m=FCssten partout gegen die Gebrauchsanweis=
ung
benutzt werden. In bestimmten Zusammenh=E4ngen k=F6nnen bestimmte Begriff=
e sich als
unbrauchbar oder sogar kontraproduktiv erweisen, und um das zu verhindern=
, lohnt
es sich oft, die sie umgebenden Texte zumindest kurz zu =FCberfliegen, k=F6=
nnten
diese doch wichtige Hinweise zur jeweiligen Verwendung enthalten. "Jedes
Werkzeug ist eine Waffe", heisst das halbgelesene Eingangszitat von Empir=
e. Mag
sein, dass ich fl=FCchte, denn erst ganzgelesen wird daraus: "Jedes Werkz=
eug ist
eine Waffe, wenn du es richtig h=E4ltst."<5>
Zu den Gefahren der in den 90ern so beliebten deleuzianischen Heimwerkere=
i z=E4hlt
aber nicht nur der "falsche" Einsatz der "richtigen" Tools, sondern auch =
das
Ph=E4nomen der Materialerm=FCdung. Tats=E4chlich hat ein Grossteil jener =
starren
Strukturen, zu deren Demontage die in den 70ern von Deleuze/Guattari entw=
orfenen
Konzepte gedacht waren, mittlerweile unter dem Druck v=F6llig entgegenges=
etzter
Kr=E4fte nachgegeben, zu deren ideologischen Vektoren (das Kapital kennt =
kein
Vaterland, die Produktion keine Grenzen und der Markt seine Minderheiten)=
die
l=E4ngst zu Trampelpfaden breitgetretenen Fluchtlinien der Schizopolitik =
heute
weitgehend parallel und richtungsgleich verlaufen. Insbesondere die digit=
ale
Revolution schafft mitunter sehr seltsame Bettgenossen.
Die folgende Typologie Umherschweifender Produzenten erhebt keinerlei Ans=
pruch
auf Vollst=E4ndigkeit. Es fehlt nicht nur der Schizophrene Student (das
Grundstadium fast aller Neodeleuzianer), der Parasit=E4re Poptheoretiker =
(ein
spezifisch deutsches Ph=E4nomen) und der Internationale Internetk=FCnstle=
r (der als
Kategorie schon wieder im Verschwinden begriffen ist); es fehlt auch eine
Antwort auf die Frage, ob es sich bei den Umherschweifenden Produzenten
notwendigerweise und ausschliesslich um jene weissen, westlichen M=E4nner=
handelt,
auf die diese Typologie sich beschr=E4nkt. Dieser Umstand wird im Folgend=
en nicht
mehr explizit benannt; und doch liegt, wer sich den Umherschweifenden
Produzenten als jungen Mann mit Laptop vorstellt, sicher nicht ganz falsc=
h.
I. Der Nomadische Netzwerker
Der Nomadische Netzwerker<6> wirft zwei fundamentale Probleme auf: eins i=
st der
Nomade, eins ist das Netzwerk. Der Legende nach ist er eine Gestalt, die =
auf
verschlungenen Pfaden durch die elektronischen Netze wandert, an deren
Knotenpunkten ganz nach Belieben Verbindungen herstellt oder trennt und v=
on
jeder physischen Territoriali=E4t befreit per Telefon, Kabel und Satellit=
von
Kontinent zu Kontinent driftet. Als mythischer Held des Digitalen mag er =
eine
entfernte Verwandtschaft mit der Figur des Data Dandy<7> aufweisen, doch =
w=E4hrend
letzterer sich explizit auf Punk - also auf einen Materialismus - berief,=
hat
der Nomadische Netzwerker seine Luftwurzeln in der Hippiebewegung. Was ih=
n durch
die Gegend treibt, sind nicht die Dinge, sondern Fragen des Bewusstseins.=
Er
sammelt keine Objekte, er errichtet keine Systeme, und er teilt auch nich=
t den
Hang des Data Dandys zum Narzissmus, denn in seiner Welt gibt es keine Sp=
iegel,
sondern nur das endlose Gleiten entlang der nichtreflektierenden Oberfl=E4=
chen
halbtransparenter Hardware und milchverglaster Sozialmilieus.
Das Lieblingsnetzwerk des Nomadischen Netzwerkers ist nat=FCrlich das Int=
ernet.
Doch selbst wenn, laut Foucault, das gesamte vergangene Jahrhundert eines=
Tages
deleuzianisch gewesen sein wird, bleibt das Internet so deleuzianisch wie=
ein
Kropf. Schon im Goldenen Zeitalter der Netzkritik, jenem "Kurzen Sommer d=
es
Internet"<8>, als die entsprechenden buzzwords =FCberreif von den B=E4ume=
n hingen,
war die euphorische These von den graswurzelhaft-subversiven Mikropolitik=
en des
World Wide Web bestenfalls aus der Luft gegriffen. Mittlerweile hat sich
gezeigt, dass keine dieser Applikationen wirklich funktioniert: Auf die
Deleuzianer des Digitalen, die bis fr=FCh in den Morgen verkehrtgeschlech=
tlich in
den Chatrooms herumhingen, wartete weder das Frau-Werden noch das Ende ih=
rer
vermeintlichen K=F6rper; in den labyrinthischen G=E4rten der Hypertext-Ar=
chive wuchs
kein neues Lesen, Schreiben oder Denken heran; und niemandem ist es gelun=
gen,
sich durch das Internet zu deterritorialisieren. Wir sind alle noch hier.
Das Netzwerk ist kein Rhizom, sondern viel eher, und zwar w=F6rtlich,
"Netzarbeit": die neue Organisationsform der Produktion in den
Kontrollgesellschaften. Das Internet ist heute auf dem besten Weg, s=E4mt=
liche
neuen Formen elektronischer Arbeit und Freizeit restlos miteinander zu ve=
rbinden
und computerisierte Freude, Verschwendung, Knappheit, Sklaverei und Paran=
oia zu
einem weltweiten 24st=FCndigen Arbeitstag zusammenzusetzen: zu jenem digi=
talen
Kontinuum, das vielen von uns bereits mehr oder weniger vertraut ist als =
die
sich vollendende Einheit von Spass und Terror der Neuen =D6konomie. Jedes
induviduelle Leben im Netz ist eine digitalisierte, kapitalistische Mini-=
Krise,
ein Desaster, das deine IP-Nummer tr=E4gt. Oder, um Netscape Messenger zu
zitieren: "Sie haben 247 neue Mails."
Das zweite Problem ist der Nomade, also das romantische Konzept einer Bew=
egung
ohne Richtung, ohne Ziel, ohne Grenze und ohne Widerstand. Denn entgegen =
der
landl=E4ufigen =DCberzeugung handelt es sich bei den Nomaden gerade um je=
ne Leute,
die bis zuletzt versuchen werden, zu bleiben wo sie sind (und selbst in d=
en
Tausend Plateaus wird auf diesen Umstand mehrfach expizit hingewiesen<9>)=
, die
sich nur im =E4ussersten Notfall von der Stelle bewegen, und denen angesi=
chts der
drohenden Segmentierungen ihres lokalen Territoriums jeder Gedanke an das
Gleiten auf globalen Oberfl=E4chen fremd ist. Das nomadische Konzept des =
Raums ist
das genaue Gegenteil dessen, was wir gemeinhin als "Mobilit=E4t" bezeichn=
en, und
es ist schwer zu begreifen, wie man das eine mit dem anderen fortw=E4hren=
d
verwechseln kann.
Im Falle des Nomadischen Netzwerkers ist die Lage allerdings noch ernster=
,
beharrt er doch auch noch auf dem obsz=F6nen Irrglauben, ausgerechnet sei=
n Hang
zum Surfen auf den elektronischen Wellen der digitalen Netze qualifiziere=
ihn
als Nomaden. Nichts liegt ihm ferner als die Idee, dass der Nomade gerade
deshalb W=FCsten und Steppen bewohnt, weil er dort, wenn =FCberhaupt, am =
langsamsten
vorankommt, und die Eigenheiten des Gel=E4ndes ihn zudem davor bewahren, =
von den
Protagonisten der neuen (vom sp=E4ten Deleuze zurecht als genuin
kontrollgesellschaftlich gedissten<10>) Sportarten - Springern, Gleitern =
und
eben Surfern - heimgesucht zu werden.
Die Bewohner der W=FCsten sind schlecht vorbereitet auf das Regime von ro=
aming und
production. Wer den Nomaden angreift, wird erleben, wie er sich bewegt, u=
nd wer
den Nomaden in ein Flugzeug steckt, wird sogar erleben, wie er reist. Doc=
h
selbst dann noch wird der Nomade es ablehnen zu surfen, und wer ihn =FCbe=
r dem
Ozean abwirft, wird bloss mit ansehen k=F6nnen, wie er untergeht. Ein Bli=
ck in die
Geschichte zeigt, dass der Nomade zwar immer wieder auf unvorhergesehene =
Weise
von seinen zahlreichen Feinden in die Flucht geschlagen, nie zuvor jedoch=
so
schlamlos durch die Gegend gezerrt wurde wie in den Deleuzianischen 90ern=
des
Internet, deren Ende noch immer nicht in Sicht ist, so dass man den Nomad=
en auch
weiterhin vor allem vor seinen Freunden in Schutz nehmen muss.
II. Der Rhizomatische Risikokapitalist
Die mentale Landkarte des Rhizomatischen Risikokapitalisten<11> ist berei=
ts 1995
von Richard Barbrook und Andy Cameron in ihrem gleichermassen sch=F6nen w=
ie
grunds=E4tzlichen Aufsatz "The Californian Ideology"<12> nachgezeichnet w=
orden.
Dort beschreiben sie nicht nur das bizarre theoretische Patchwork, auf de=
ssen
Grundlage diese Figur schon bald die diskursive Vorherrschaft im Internet
=FCbernehmen sollte, sondern verfolgen auch die kulturellen Herkunftslini=
en der
neuen unternehmerischen Strategien und Tugenden zur=FCck, die bis heute d=
ie
Managementseminare beherrschen. Der Rhizomatische Risikokapitalist ist Sl=
acker
und Techno-Optimist zugleich: ein direkter Nachfahre der Hippies der
amerikanischen Westk=FCste, deren Vorstellung von Liberalismus sich seit =
den 60ern
von der Utopie einer radikal befreiten Gesellschaft in die Feier eines ra=
dikal
befreiten Marktes verwandelt hat und noch vor zwei Jahren nicht selten in=
der
mittlerweile widerrufenen Prophezeihung gipfelte, beim Boom des Nasdaq ha=
ndele
es sich um die Vorstufe des Cyber-Kommunismus.
Was dem Rhizomatischen Risikokapitalisten an Deleuze so gut gef=E4llt, is=
t neben
der grob verk=FCrzten These, die Funktion des Kapitals bestehe haupts=E4c=
hlich
darin, fortw=E4hrend Grenzen zu verschieben und niederzureissen, insbeson=
dere der
(bei Deleuze vor allem von Nietzsche her in den Text str=F6mende) Vitalis=
mus, der
sich in Richtung einer biologistischen =DCber-Metaphorik verschieben l=E4=
sst, in
deren Begriffen fortan das Funktionieren =F6konomischer und sozialer Syst=
eme
beschrieben werden soll. In Reinform l=E4sst sich dieses Denken in "Out o=
f
Control"<13>, dem Hauptwerk des ehemaligen Wired-Herausgebers Kevin Kelly=
,
bestaunen. Der n=E4mlich erkl=E4rt kurzerhand das Kapital zur Natur, den
Kapitalismus zur Biosph=E4re und das Zirkulieren von Geld, Menschen und I=
deen um
den Globus zum nat=FCrlichen Flottieren von Schw=E4rmen, Herden und Welle=
n im
organischen Ganzen eines =F6kologisch selbstregulierten Freien Marktes - =
mit dem
Treppenwitz, dass noch das Platzen der "Spekulationsblase" sich als final=
e
Ankunft des organlosen K=F6rpers deuten l=E4sst.
Der Rhizomatische Risikokapitalist ist aber nicht nur Deleuzianer, sonder=
n vor
allem Darwinist, und so setzen sich in seiner Welt nur die besten Ideen d=
urch,
und nur wer an denen die Rechte besitzt, kommt zum einem Teil des Geldes.=
Doch
weil er weiss, dass allein die grenzenlose Weisheit des Kapitals =FCber E=
rfolg und
Misserfolg entscheidet, kann er sich zur=FCcklehnen und das Funktionieren=
der
planetaren Marktmaschine geniessen. "Change is Good"<14>, hat Wired 1998
getitelt, und zwar, weil diese Formen von Ver=E4nderung niemand mehr disk=
utieren,
infragestellen oder rechtfertigen muss, denn hier ver=E4ndert die Welt si=
ch nicht
mehr aufgrund der Interessen bestimmter Akteure, sondern ganz von allein.=
Und
die Killerapplikation, um es mit Wired zu sagen, ist nat=FCrlich der hype=
rkomplexe
Netzwerkroboter, der sich selbst reparieren kann: der globale Kapitalismu=
s.
Selbstverst=E4ndlich gibt es noch eine F=FClle von Unterkategorien des
Rhizomatischen Risikokapitalisten, allen voran der Pragmatische Praktikan=
t<15>,
mit dem sich vor allem die Zeitschrift The Baffler<16> sehr gr=FCndlich
besch=E4ftigt hat. Der Pragmatische Praktikant glaubt an die =D6konomie d=
es
Geschenks und der Aufmerksamkeit und damit an den praktischen Nutzen unbe=
zahlter
Arbeit. So bewegt er sich von Praktikum zu Praktikum, ist heute ein K=FCn=
stler,
morgen ein Programmierer, =FCbermorgen ein Tourist und n=E4chste Woche
Gesch=E4ftsf=FChrer seines eigenen Unternehmens, fest davon =FCberzeugt, =
in diesem
Umherschweifen durch die Sph=E4ren der Produktion k=E4me einzig und allei=
n sein
eigener Nonkonformismus zum Ausdruck. Der Gedanke, dass seine Subjektivit=
=E4t von
denselben Kr=E4ften strukturiert sein k=F6nnte, die auch die Neue =D6kono=
mie, die ihn
umgibt, am Laufen halten, ist ihm genauso fremd wie die Idee, dass auch e=
ine
deregulierte Arbeitswelt noch Gegen=FCber kennt, gegen die es sich zu org=
anisieren
m=F6glich bleibt.
Schliesslich d=FCrfte sogar das Modell der Kommunikationsguerrilla Teil d=
es
Rhizomatischen Risikokapitalismus sein, arbeitet diese doch mit =E4hnlich=
em
Enthusiasmus auf demselben Feld von Netzwerk=F6konomie und Zielgruppenkap=
italismus
und teilt jede seiner spezifischen Blindheiten. Was die Kommunikationsgue=
rrilla
sich von Deleuze borgt, ist insbesondere die vage Vorstellung, der Kapita=
lismus
sei nicht zuletzt oder gar vor allem ein Zeichensystem, und im Zentrum ih=
res
theoretischen Ansatzes steht nicht viel mehr als die v=F6llig unbegr=FCnd=
ete
Hoffnung, dieses System geriete ins Wanken, wenn man nur ein paar seiner
tragenden Signifikanten zum Fliessen br=E4chte. In erster Linie aber ist =
der
Begriff der Kommunikationsguerrilla eine permanente Beleidigung der reale=
n
Guerrillas, auf die er rekurriert, da er von den realen Kriegen, die dies=
e
gef=FChrt haben, und den realen Gegnern, die ihnen gegen=FCberstanden, bl=
oss noch
den symbolischen Mehrwert =FCbrig l=E4sst. Wenn die tats=E4chlichen Guerr=
illas eine
Entsprechung im "Virtuellen" haben, dann sind das sicher keine Gruppen, d=
ie von
morgens bis abends kommunizieren und gegenkommunizieren, und wenn der
vielzitierte info war tats=E4chlich stattfindet, dann ist das der Krieg g=
egen die
Information als solche - ein Krieg, der kaum erst begonnen und gewiss noc=
h keine
Genealogie heldenhafter Anf=FChrer hervorgebracht hat (die zudem, wenn si=
e denn
eines Tages erscheint, sicher nicht als Ausstellungskatalog ver=F6ffentli=
cht
werden wird).
III. Der Eingeflogene Experte
Der Eingeflogene Experte<17>, Speerspitze einer kritischen Avantgarde
vielfliegender Akademiker, die die Business-Lounges unseres Planeten bev=F6=
lkert,
ist vermutlich das traurigste Exemplar all dieser Umherschweifenden Produ=
zenten.
Seine Bewegung im Raum ist die endlose Reise von Kongress zu Kongress: Ma=
n
trifft ihn auf einem Dachgarten in Istanbul, tags darauf auf der Suche na=
ch
amerikanischen Zeitschriften in einer Buchhandlung in Venedig, und eine W=
oche
sp=E4ter im exotischen Ambiente einer Dinner-Party in den H=FCgeln von Ri=
o de
Janeiro.
Der Eingeflogene Experte ist ein entschiedener Kritiker jenes Ph=E4nomens=
, das er
als Globalisierung bezeichnet, und zugleich einer ihrer prominentesten
Vertreter. Sein Blick auf die globalen Metropolen ist die halbvertikale
Perspektive des landenden Passagiers, die Aussicht auf die schlecht
zusammengesetzte, elektrisch beleuchtete Karte der Stadt und das wie die =
Credits
eines Spielfilms unter ihm ins Bild rollende suburbane Raster. Dieser Bli=
ck hat
etwas Beunruhigt-Verst=F6rtes, denn nat=FCrlich startet, fliegt und lande=
t der
Eingeflogene Experte nicht wirklich gern, und letzteres schl=E4gt ihm sch=
on
deshalb auf den Magen, weil er ja bereits eine Vorahnung davon hat, was i=
hn am
Boden erwartet. Hat er n=E4mlich erst einmal festen Grund unter den F=FCs=
sen, wird
er Teil eben jener Klasse, f=FCr deren Feind er sich h=E4lt: einer Elite =
globaler
Vielflieger, die im Verlauf der letzten zwanzig Jahre zahllose St=E4dte v=
on Zonen
urbanen Lebens in blosse Interfaces f=FCr transkontinentale Gesch=E4ftsre=
isende
verwandelt hat.
Einem weit verbreiteten Glauben zufolge handelt es sich bei international=
en
Kongressen um Orte lebendiger theoretischer Auseinandersetzung, was mit d=
er
Realit=E4t allerdings nur wenig zu tun hat. Fast nirgendwo gibt es ein lo=
kales
Publikum, abgesehen von den offensichtlichen Journalisten, von denen ein =
bis
zwei gen=FCgen, um eine =F6ffentliche Diskussion in eine Pressekonferenz =
zu
verwandeln, und denen sogar betretenes Schweigen meist noch zu einer fruc=
htbaren
Debatte umzul=FCgen gelingt. Im besten Fall ist der Eingeflogene Experte =
unter
sich. Das heisst, er hat sich zu horrenden Preisen um den halben Globus
transportieren lassen, um Ideen vorzustellen, die ihm lange vorher zu Hau=
se
eingefallen sind, und sich dann Ideen anderer Eingeflogener Experten anzu=
h=F6ren,
die ihm meist nicht nur bereits bekannt sind, sondern l=E4ngst zum Halse
heraush=E4ngen, handelt es sich doch nicht um die erste Konferenz, zu der=
man
gemeinsam eingeladen worden ist. Dann m=FCssen alle sehr schnell zum Flug=
hafen,
und anstelle einer Diskussion findet bloss eine hastige Verabschiedung st=
att:
"Sch=F6n dich gesehen zu haben!" - "Ja, haben wir uns nicht letztes Jahr =
in
Helsinki getroffen?" - "Nein, die hatten mich zwar eingeladen, aber ich k=
onnte
nicht kommen."
Internationale Kongresse sind Theoriemessen, und die generelle Abwesenhei=
t eines
auch nur irgendwie theoretischen Interesses sagt eine Menge =FCber den St=
and der
Dinge im Kongressgesch=E4ft. Was sich dort pr=E4sentiert, ist immer h=E4u=
figer eine
globale DJ-Culture des Denkens - ein Denken, das in entsprechend loungige=
m
Ambiente vor allem um die Frage kreist, wie sch=F6n es ist, dass es sich =
=FCberall
zu Hause f=FChlt. Der Sinn solcher Kongresse liegt in ihrer Funktion als =
Event,
das heisst als Kulminationspunkt des Stadtmarketings. (So auch die Konfer=
enz,
anl=E4sslich derer dieser Text enstanden ist, und die ansonsten nat=FCrli=
ch eine der
gleichermassen raren wie wunderbaren Ausnahmen darstellt. Die Stadt M=FCn=
chen
braucht so dringend einen internationalen Internetkongress, dass sie soga=
r
bereit ist, einen =FCber Migration und offene Grenzen zu bezahlen, was pa=
radox
erscheinen mag, vom Standpunkt des Stadtmarketings aus aber immer noch Si=
nn
macht. Hunderte von Leuten in Flugzeugen sind Tourismus, und es kommt nic=
ht
darauf an, ob sie kritische Ideen im Handgep=E4ck haben oder nicht.)
Nat=FCrlich gef=E4llt dem Eingeflogenen Experten dies alles ganz und gar =
nicht. Wenn
er das Podium betritt, ist er gestresst, gejetlagged und unkonzentriert, =
und
h=E4ufigt kommt es vor, dass er sich unterwegs auch noch eine seltene Kra=
nkheit
eingefangen hat. Eine der hellsichtigsten =C4usserungen des sp=E4ten Dele=
uze ist in
diesem Zusammenhang die Feststellung, dass das stundenlange Eingesperrtse=
in in
modernen Z=FCgen und Flugzeugen eine unertr=E4gliche Erfahrung ist.<18> U=
nd wer
Deleuze nicht glaubt, m=F6ge eine Rockband =FCber ihre letzte Tournee bef=
ragen, um
zu begreifen, dass Reisen Teil des Problems und nicht Teil der L=F6sung i=
st. Der
Eingeflogene Experte weiss das nur zu genau, aber er kann nicht entkommen=
: er
ist bereits f=FCr die kommende Woche in Sao Paulo gebucht, muss von dort =
direkt zu
einem Antiglobalisierungs-Treffen nach Br=FCssel, um im Anschluss seine K=
ritik
spektakul=E4rer Simulationen des Urbanen in Kuala Lumpur zu pr=E4sentiere=
n.
Der Eingeflogene Experte ist vermutlich Grenze und Ende all dieser
Umherschweifenden Produzenten, denn er ist selbstreflexiv und doch in ein=
em
geschlossenen Kreislauf gefangen. Theorien des Raumes gedeihen schlecht i=
n
Schalterhallen, Transitbereichen und Nichtraucherzonen, und Theorien der =
Zeit
pflegen zu misslingen, wenn gerade Zeit von vornherein schon =FCberzogen =
oder
abgelaufen ist. Am Ende wird aus dem Eingeflogenen Experten der
Pauschaltouristische Panelist, der in einem Zustand permanenten Konsums -=
einem
Raum-Zeit-Kontinuum namens Restaurant-Taxi-Hotel - vollst=E4ndig eingesch=
lossen
ist. In seinem Endstadium ger=E4t er in einen Zustand, der sich nicht ein=
mal mit
dem Schlusskapitel der Tausend Plateaus mehr erkl=E4ren, geschweige denn
rechtfertigen l=E4sst. Und so ist der Eingeflogene Experte m=F6glicherwei=
se gar kein
Deleuze-Guattarianer mehr, sondern vielleicht l=E4ngst ein Negri-Hardist,=
vor
dessen Augen sich an jedem Ort der Welt nur noch die Totalit=E4t des Empi=
re
materialisiert.
* * *
So oder =E4hnlich sieht sie also aus, die angebliche Leichtigkeit und Fre=
ude, noch
heute Kommunist zu sein. Und doch geht der grundlegende Einwand gegen den
Umherschweifenden Produzenten =FCber den blossen Vorwurf, dass er als fas=
hion
victim linker Theorie selbst in weniger grobgemusterten Stoffen noch die
unvermeidlichen Platit=FCden findet und nach aussen kehrt, weit hinaus. D=
enn die
Verheerungen, die er auf dem Feld der Bewegungslehre anrichtet, sind ja n=
icht
etwa ideologischer, sondern ganz und gar praktischer Natur.
Der Umherschweifende Produzent ist eine Figur, in der sich die Verh=E4ltn=
isse, die
sie zu subvertieren glaubt, erst realisieren. Was er an jedem Ort, an dem=
er
inneh=E4lt, einf=FChrt und etabliert, ist nicht nur das Regime der Produk=
tion, in
dessen Kritik die meisten von uns ge=FCbt sind, sondern auch das Regime d=
es
Umherschweifens, das von freiwiller Reiserei =FCber halb-freiwillige Zeit=
arbeit
bis zu nicht-freiwilliger Migration reicht und das nachzuzeichnen wir ers=
t noch
lernen m=FCssen. Wer die Romantisierung der Freiheiten des Freelancer-Das=
eins
ablehnt, der sollte auch jede Nostalgie f=FCr nomadische Fl=FCchtlinge be=
graben.
Denn der Kampf f=FCr freedom of movement, an dem der Umherschweifende Pro=
duzent
sich beteiligt glaubt, hat keinen Begriff von Bewegungsfreiheit, wenn die=
se
nicht die Freiheit einschliesst, jede Bewegung zu verweigern und an einem
beliebiegen Ort f=FCr eine beliebig lange Zeit auch zu bleiben. Genausowe=
nig ist
er Teil des Kampfes f=FCr die Migrierenden und deren Migrationen, wenn da=
s allein
der Kampf f=FCr die Beseitigung der letzten Barrieren sein soll, die auch=
heute
noch die Leute daran hindern, in perfekter Kongruenz mit den Fluchtlinien=
des
Kapitals um den Globus zu zirkulieren. Selbst wenn die Grenzen des Kapita=
lismus
gegen Null gehen, bleibt ein Begehren, das v=F6llig andere R=E4ume und Be=
wegungen
besetzt.
Eine dieser Bewegungen ist =FCberhaupt keine Bewegung, und die hat, auch =
wenn sie
ihren Ort h=E4lt, weder eine Heimat zu verteidigen noch auch nur irgendei=
ne
Affinit=E4t zur =D6konomie der Regionalpartnerschaften und Familienbetrie=
be, die
rechte wie linke Kritiker der "Globalisierung" heute wieder als
antikapitalistisches Gegenmodell stark machen - als w=E4ren Region und Fa=
milie
nicht gerade jene Modi des Zuhausebleibens, in denen sich die
deterritorialisierenden (und damit zwangsl=E4ufig zugleich
reterritorialisierenden) Kr=E4fte des Neoliberalismus erst verwirklichen.=
Die
Bewegung, die keine Bewegung ist, w=E4re die Bewegung all jener, deren An=
twort auf
den kategorischen Imperativ des globalen Kapitals und seiner Gegner, mobi=
l zu
bleiben und sich unter Gleichen zu vernetzen, auch weiterhin lautet: Ich =
m=F6chte
lieber nicht.
Anmerkungen
1. Aus dem Englischen <noborder.org/webjournal/sun_item.php?id=3D34> =FCb=
ersetzter
und erweiterter Vortrag <195.88.128.119:8080/ramgen/muffat/mw/c7/c7.smi>,
gehalten auf dem Kongress "make world - border=3D0 location=3Dyes" <make-=
world.org>
im Oktober 2001 in M=FCnchen. Eine weitere Version erscheint im Januar 20=
02 in der
Zeitschrift Subtropen <jungle-world.com/_2002/02/sub06a.htm>
2. Thomas Atzert (Hg.), Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit=
und
Subversion, Berlin [ID-Verlag] 1998 <txt.de/id-verlag/books/Produzenten.h=
tm>
3. Guy Debord, Th=E9orie de la d=E9rive, in: Internationale Situationnist=
e #2, Paris
1958 <textz.com/index.php3?text=3Ddebord+la+derive>
4. Gilles Deleuze / F=E9lix Guattari, Anti-=D6dipus. Kapitalismus und Sch=
izophrenie
I, Frankfurt [Suhrkamp] 1977
5. Michael Hardt / Antonio Negri, Empire, Cambridge / London [Harvard Uni=
versity
Press] 2000 <textz.com/index.php3?text=3Dhardt+negri+empire>
6. im Original: The Networking Nomad
7. Agentur Bilwet, Der Datendandy, Bensheim [Bollmann] 1994
<textz.com/index.php3?text=3Dbilwet+datendandy>
8. <google.com/search?q=3D%22the+short+summer+of+the+internet%22>
9. Gilles Deleuze / F=E9lix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und
Schizophrenie, Berlin [Merve] 1992, S. 524
10. Gilles Deleuze, Postskriptum =FCber die Kontrollgesellschaften, in:
Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt am Main [Suhrkamp] 1993
<textz.com/index.php3?text=3Ddeleuze+postskriptum>
11. im Original: The Ecstatic Entrepreneur
12. Richard Barbrook / Andy Cameron, The Californian Ideology, London 199=
5
<textz.com/index.php3?text=3Dcalifornian+ideology>
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