[rohrpost] Mail Art Gespräch
Tilman Baumgaertel
tilman_baumgaertel@csi.com
Mon, 04 Nov 2002 12:52:57 +0100
Hallo!
Das folgende Gespräch über Mail Art im Allgemeinen und Mail Art im
Osteuropa der 70er und 80er Jahre im Besonderen wurde vor etwa einem Jahr
bei der Vorstellung von meinem Buch "net.art 2.0" geführt und ist irgendwie
auf meiner Festplatte liegengeblieben. Interessant ist es aber immer noch,
darum folgt es nun hier.
Gruesse,
Tilman Baumgärtel
---------------------SCHNAPP!----------------------------
Mail Art
Ein Gespräch mit Friedrich Winnes, Lutz Wohlrab, Thomas Schulz, Graf
Haufen, Waling Boers,
"Ich sende Ihnen einen Gedanken zu, bitte denken Sie ihn weiter." Das steht
auf einer Postkarte, die der 1993 verstorbene Ostberliner Künstler Robert
Rehfeld in den 80er Jahren als Teil einer Mail Art Aktion an seine Freunde
schickte. Die Mail Art ist bis heute ein weitgehend übersehenes Thema der
Nachkriegskunst geblieben. Seit Ende der 50er Jahre verschickten - angeregt
von dem New Yorker Künstler Ray Johnson und seiner 'New York School of
Correspondance' - ein rasch wachsender Kreis von Künstlern kleine Arbeiten
mit der Briefpost. Viele ihnen (wie George Brecht, Emmett Williams, Ken
Friedman oder Ben Vautier) gehörten zum Fluxus-Umfeld.
Das Netzwerk, das so entstand, entwickelte sich bis in die Achtziger Jahre
hinein weiter, bezog schnell auch Teilnehmer aus anderen Szenen und Ländern
jenseits der USA und Westeuropas ein. Gerade für die osteuropäischen
Staaten jenseits des "Eisernen Vorhangs" war die Mail Art eine wichtige
Methode, ihre kulturelle Isolation zu überwinden. Indem sich die Mail Art
in den Kreislauf des internationalen Postsystems einklinkte, umgingen sie
aber auch die Vermittlungsinstitutionen des Kunstbetriebs. Durch diese
Praktik ist die Mail Art nicht nur ein Vorläufer der zahlreichen Versuche,
Kunst jenseits der traditionellen Institutionen zu verbreiten, sondern auch
der Internetkunst der Gegenwart.
Im folgenden Gespräch berichten einige Mail-Art-Praktiker über ihre Arbeit
im "Eternal Network": Friedrich Winnes, Lutz Wohlrab, Thomas Schulz, Graf
Haufen und Waling Boers. Das Gespräch fand statt anlässlich der
Veröffentlichung meines Buchs "net.art 2.0. Neue Materialien zur
Netzkunst/New Materials towards Net Art" (Verlag für moderne Kunst,
Nürnberg) in der Buchhandlung pro qm in Berlin statt.
?: Mich würde als erstes interessieren, wie Ihr in das "Eternal Network"
der Mail Art - wie es der französische Künstler Robert Filliou genannt hat
- hineingekommen ist, und warum Ihr Euch diesem Kreis angeschlossen habt.
Friedrich Winnes: Man hat einmal an einem Projekt teilgenommen, und als
Ergebnis hat man dann die Teilnehmerliste zurückbekommen, wenn das Projekt
zuende war. Das Wichtigste war der Adressenteil. Bei solchen Projekten
haben sich oft bis zu 300 Leute beteiligt, und so hat man die Möglichkeit
gehabt, mit diesen Mail Artisten in Kontakt zu treten. Ich habe 1975
Robert Rehfeldt kennen gelernt. Er hatte damals eine Mail-Art-Ausstellung
in Warschau, und ich hatte ein Fotolabor. In der DDR war es damals nicht
möglich, eine Adressenliste zu vervielfältigen. Kopierer gab es nicht, oder
zumindest waren sie für uns nicht zugänglich. Ich habe mit Robert Rehfeldt
angefangen, diese Adressliste mit den Teilnehmern seiner Ausstellung ab zu
fotografieren. Als Schwarz-Weiß-Foto, das muss man sich mal vorstellen, was
für ein Aufwand! Die haben wir dann 100 mal verschickt. Ich habe diese
Adressliste als Einstieg in die Mail Art genutzt.
Thomas Schulz: Wenn ich heute zurückblicke, um die Frage nach den Anfängen
meiner Mail Art zu beantworten, muss ich feststellen, dass ich eigentlich
gezwungen war, ein Mail Artist zu werden und zu sein. Nach dem Studium, im
Jahre 1975 war ich 24, schon verheiratet und Vater einer zweijährigen
Tochter. Um eine Arbeit, und was noch wichtiger war, eine Wohnung zu
bekommen, haben wir uns entschieden in die polnische Provinz zu ziehen,
nach Niederschlesien, nach Ladek Zdrój. In der Provinz hat man aber auch
die provinziellen Probleme: wunderschöne Landschaft, aber kein Kultur- und
Kunstleben. Der Himmel war näher als die Museen und Kunstgalerien. In solch
einer Situation bleiben noch Kunstbücher, -alben und -zeitschriften.
Theoretisch zumindest, aber nicht in einem Land, wo die Kunst als
politisches Instrument missbraucht worden ist, wo die Apparatschiks
entschieden, was Kunst ist und was nicht, was man ausstellen darf und was
nicht, was man publizieren kann und was nicht und so weiter. Erst recht
nicht in einem Land, wo jede Schreibmaschine registriert werden musste, wo
Zugriff zu einem Kopierer nur ein Traum war.
Die polnischen Kunstzeitschriften waren nicht schlecht, manchmal sogar gut,
aber sie haben fast nie über die Kunst berichtet, die "meine" war. Und die
westlichen waren sowieso - nicht nur aus finanziellen Gründen - nicht zu
bekommen.
Als ich durch die Vermittlung von Stanislaw Urbanski, Klaus Groh und Robert
Rehfeld die Mail Art für mich entdeckte, wusste ich, dass sie mir das
bietet, was ich suchte - "die zweimillimeteröffnung der tür zur welt" - das
stammt aus einem Gedicht von Reiner Kunze, die direkte Verbindung mit der
alternativen, nichtkommerziellen Kunstwelt. Man darf nicht vergessen: Die
Grenzen zwischen West und Ost, aber auch die zwischen Polen und der DDR
waren damals wirklich Grenzen! Die haben uns damals von der internationalen
Kunstwelt
abgeschnitten. Aber aus meinem Briefkasten ist eine tägliche Kunstgalerie
geworden. Man ist in Ladek Zdrój und man ist in der Welt. Mail Art hat
meine Isolation beseitigt.
Lutz Wohlrab: Ich habe 1985 an einem Projekt teilgenommen, das hieß
Relations. Das wurde von Walter Goes in Putbus auf Rügen in einer
Kulturbundgalerie gezeigt. Ich hatte mich immer besonders für Kunst
interessiert, also für Malerei. Plötzlich zeigten die dort Mail Art, und
alle konnten mitmachen. Dadurch bin ich in das Netzwerk hineingekommen. Ich
habe mich einfach beteiligt, anstatt nur ein Betrachter zu bleiben, der
sich gerne Bilder ansieht. Ich habe mir gedacht: Das kannst du ja auch
machen! Und ich mache mein Zeug nicht für die Schublade, sondern ich
schicke das irgendwo hin und bekomme auch etwas zurück.
Das waren oft sehr persönliche Erlebnisse mit der Mail Art. Es gab
einerseits die Projekte, an denen man sich beteiligte - weil sich das für
einen Mailartisten so gehört. Und dann gab es die persönlichen Begegnungen.
Jeder von uns hatte, glaube ich, andere Freunde, mit denen er sich viel
schrieb und austauschte. Aber wir haben alle miteinander kommuniziert -
allerdings weniger über Sprache, sondern mehr über Bilder. Viele Leute, mit
denen man in der Mail Art zu tun hatte, waren ja "Ausländer". Sie und wir
konnten auch nur wenig Englisch, und viel Text konnte man da gar nicht
machen.
Graf Haufen: Bei mir war der Einstieg die Musik. Dadurch hatten sich schon
solche Netzwerke entwickelt, bei denen man Audiokassetten mit eigener Musik
ausgetauscht hat. Da war dann auch jemand dabei, der im Mail Art Bereich
aktiv war, und mir eine Einladung zu einer Mail Art Ausstellung
mitgeschickt hat. Da stand: das ist das Thema, schickt bitte Eure Arbeiten
da hin, dafür bekommt ihr eine Dokumentation der Ausstellung. Das habe ich
gemacht, und damit war ich im Netzwerk drin. Das funktioniert wie bei einem
Schnellballsystem: wenn man erst mal drin ist, bekommt sehr schnell viel
Material.
?: Bei vielen Arbeiten, die wir gesehen haben, wurde mit Stempeln, Kopien
und Zeitungsausschnitten gearbeitet. Diese Collagen und die betont
schlechte Bildqualität erinnert mich ein bisschen an die Punkfanzines, oder
an die Cover von Bands wie Sex Pistols und Pop Group. Gibt es da einen
Zusammenhang?
Graf Haufen: Das ist schwer zu sagen. Da ja jeder individuell gearbeitet
hat, gab es auch Leute, die nur Fotokopien und Collagen gemacht haben.
Andere Leute haben nur mit Stempeln oder mit Aufklebern gearbeitet. Da
würde ich nicht so generalisieren, dass das alles von Punk und New Wave
beeinflusst worden ist. Das hat sicher eine Rolle gespielt, aber es hat
nicht für alle gegolten.
Walig Boers: Ich habe Anfang der 70er Jahre, so 72/73, als Witz mit
Freunden einige Sachen gemacht, die an Mail Art erinnern. Wir kannten den
damaligen Kontext von Konzeptkunst, Fluxus, Künstler, die Bücher machten
und für die Text richtig wichtig war. Ich lebte in Utrecht in Holland. Es
gab da einen wunderbaren kleinen Kreis von Exilanten in Amsterdam, aus
Kolumbien und anderen Ländern, die sich an Fluxus und Mail Art
orientierten. Wir fanden diesen Kontext interessant. Wir waren keine
Künstler, sondern Studenten, und haben ein paar Projekte als eine Reflexion
darüber, wie Mail Art und Text in der Kunst benutzt wurde und wie
Kommunikation funktionierte, realisiert. Wir sahen damals schon, dass
eigentlich jeder Kreis seine eigene Art der Kommunikation hatte, Mail Art
und Video und Konzeptkunst hatten alle ihre eigene Art der Übertragung von
Ideen.
Wir waren zu zweit in einer Wohnung, und haben uns Sachen zugeschickt. Wir
haben drei Aktionen gemacht, und damit waren die Fragen "Was ist ein
Objekt? Was ist Interaktion? Wie findet sozialer Austausch statt?"
ausgetestet. Das hatte auch damit was zu tun, was Lucy Lippard in ihrem
Buch "Six Years" beschreibt, die "Dematerialisation of the Art Object". Das
war eigentlich der Kontext, um sich mit Mail Art und mit diesen Prozessen
zu beschäftigen. Ich wollte mich nicht mit Leuten austauschen oder neue
Objekte herstellen. Darum haben wir die Post an uns selbst geschickt oder
Briefe ohne Adresse verschickt, um zu sehen, was damit passiert.
?: Könntest Du ein Beispiel für eine Arbeit nennen?
Boers: Wir hatten einen Hintergarten, und da stand schon seit Jahren so ein
Sessel, den wir auseinandergenommen haben. Den Prozess haben wir
fotografiert, die Bilder in einen Umschlag gesteckt. Das war so ein kleines
Projekt.
?: Du hast gerade gesagt, dass Du kein Künstler bist. Kann man sagen, dass
Mail Art generell etwas für "Seiteneinsteiger-Kunstbewegung" ist? Ist hier
einer der Anwesenden ein "richtiger", an der Kunstakademie ausgebildeter
Künstler?
Wohlrab: Es gibt schon große Namen, die sich nicht schämen würden, wenn man
sie als Mail Artisten bezeichnet würde, Beuys zum Beispiel oder einige
Fluxus-Leute wie Filliou, Vautier oder Andre Tot in Ungarn. Das sind Namen,
die auch in den Lexika stehen. Aber die meisten Mail Art Künstler, zumal
die aus der DDR, waren nicht-professionelle Künstler. Das ist ja auch
eigentlich ein Fluxus-Gedanke: dass man kreativ sein und sich einmischen
kann, auch wenn kein Künstler ist. Für uns war es aber natürlich trotzdem
auch wieder interessant, mit Prominenten zu kommunizieren.
Winnes: Bei Mail Art steht der Austausch im Mittelpunkt, es geht vor allem
um die Aktivität. Man muss natürlich auch dazu sagen, dass es in der DDR
schwierig war, auf eine Kunsthochschule aufgenommen zu werden und in dem
System als Künstler zu leben. Das hieß damals ja, im Künstlerverband sein.
Dafür musste man gewisse Aufnahmekriterien erfüllen, die letztlich auch
politisch waren. Das hat eigentlich kaum jemand von uns angestrebt.
?: Was war Eurer Ansicht nach bei den Mail Art Projekten wichtiger? Das,
was herumgeschickt worden ist, oder dass überhaupt etwas herumgeschickt
worden ist? War es wichtiger, sich ein Netzwerk aufzubauen, oder ging es um
den "Content", wie man heute sagen würde, also der Inhalt, der in diesem
Netzwerk verbreitet wurde?
Winnes: Also für mich hatte der Kontakt absoluten Vorrang.
Schulz: Für mich auch. Was geschickt wurde, war vielleicht für die "Sender"
wichtig.
Aber dass wir Kontakt hatten, war enorm relevant. Unwichtig war für mich ob
jemand ein "professioneller Künstler" war. Ich habe nie meine Partner
gefragt: Hast Du Kunst studiert? Friedrich Winnes ist ein sehr guter
Fotograf. Ob er Fotografie studiert hat, weiß ich nicht. Aber seine Fotos
und seine Fotocollagen, die ich per Post bekam, waren klasse. Sie haben auf
die Zeit und auch auf die damalige politische Situation reagiert. Wir haben
uns blendend verstanden.
Zwischen den Mail Artisten gab es eine ganz starke Solidarität. Das haben
wir um 1980 gespürt. Die Situation in Polen war schrecklich, alle
Lebensmittelläden waren leer, es gab nur ein paar Flaschen Essig und
eventuell Senf, das war alles. Um ein Stück Brot zu kaufen, habe ich
manchmal zwei, drei Stunden angestanden. Meine Kinder waren damals klein,
die Tochter war sieben, der Sohn zwei Jahre alt. In dieser wirklich
schlimmen Zeit habe ich die Solidarität der Mail Art Szene erlebt. Ich habe
unzählige Pakete mit Bekleidung, Schuhen und Lebensmittel bekommen, vor
allem aus der Bundesrepublik und der DDR. Das war das wichtige, dass wir
eine gemeinsame Familie bildeten. Nach 1989 war das Thema Mail Art für mich
eigentlich abgeschlossen. Meine Dämonen waren weg. Und darauf, irgendwelche
schönen Bildchen zu machen und die zu verschicken, hatte ich keine Lust.
?: Gerade in Berlin hat es in der Zeit des Kalten Kriegs zwischen der
offiziellen Kunstszene in West und Ost wenig Austausch gegeben. Kann man
sagen, dass die Mail Art die Mauer ein Stück weit unterwandert hat?
Graf Haufen: Ja, aber der Austausch zwischen Ost und West war natürlich
auch in der Mail Art Szene mit Schwierigkeiten verbunden. Ich erinnere mich
daran, dass ich einmal versucht habe, ein leeres Poesiealbum von
West-Berlin nach Ost-Berlin mitzunehmen. An der Grenze haben mich die
Zöllner gefragt, ob dieses Poesiealbum zum Verbleib in der DDR bestimmt
sei. Ich habe dann versucht zu erklären, dass das für ein Kunstprojekt ist
und dass das zum Verbleib bei mir bestimmt sei. Daraufhin fand ich mich in
einem kleinen Zimmer wieder, während der Zoll darüber entschied, ob ich das
Buch mitnehmen darf oder nicht. Sie haben es untersucht, ob es vielleicht
mit Geheimtinte vollgeschrieben sein und so weiter, und mir letztlich
wieder mitgegeben.
?: Ist da über die Mail Art ein Kontakt hergestellt worden, der später
durch Besuche und Treffen vertieft worden ist?
Graf Haufen: Das hat sich beides ergänzt. Wenn man drüben, also in
Ost-Berlin, war, hat man ja auch immer neue Leute kennen gelernt, Adressen
ausgetauscht, sich geschrieben, Kunst ausgetauscht.
?: Ein wichtiger Mitspieler bei der Mail Art in der DDR war ja die Stasi,
die die Post kontrolliert hat. Wie hat sich das für die Produktion
ausgewirkt?
Winnes: Als ich 1991 Akteneinsicht bekommen habe, musste ich feststellen,
dass fast alles kontrolliert worden ist, besonders in Zeiten, die für die
DDR politisch prekär waren. Ich hatte viel Kontakt nach Polen, da wurde zur
Zeit der Solidarnosc ganz stark kontrolliert.
Wohlrab: Es wurde nicht nur kontrolliert und dokumentiert, es wurde auch
einbehalten. Da hat man dann die Original in den Akten. Friedrich Winnes
hat Thomas Schulz am 28.9. 1980 einen Brief mit zwei Fotocollagen
geschickt, und dieser Brief wurde zum Anlass genommen, ein Verfahren wegen
Paragraph 220 einzuleiten, das war die sogenannte "öffentliche
Herabwürdigung". Das konnte bis zu drei Jahren Haft bedeuten.
?: Was waren das für Collagen?
Winnes: Ein Foto von meiner gerade geborenen Tochter mit dem Orden "Banner
der Arbeit". Das andere war eine Schießscheibe, auf der mit Rot etwas Blut
simuliert worden war. Das war eine Antwort, die ja nun leider nie
angekommen ist, auf Thomas Schulz "Redymades". Er hatte eine sehr gute
Postkarte gemacht zum Thema Rot und Osteuropa. Die Scheibe war von einem
Schießwettbewerb der FJD, auf die ich meinen Kommentar geschrieben habe.
Das hätte mich beinahe ins Gefängnis gebracht.
Wohlrab: Jürgen Gottschalk ist etwas später unter dem selben Paragrafen
eingesperrt und dann ausgetauscht worden. Zwei von uns sind wegen ihrer
Mail Art in der DDR ins Gefängnis gegangen.
Boers: War diese Arbeit mit der Schießscheibe eine bewusste Provokation?
Winnes: Nein, nein, das habe ich nicht bewusst gemacht. Wer möchte schon
freiwillig ins Gefängnis? Das war meine Antwort, meine Gedanken zu diesem
Thema. Ich persönlich habe mir schon Grenzen gesetzt. Ich wusste, dass ich
mit dieser Karte ziemlich weit gegangen war. Das war vielleicht eine
"Grenzüberschreitung". Die Selbstzensur sah bei mir so aus, dass ich die
meisten Sachen nicht offen, sondern in einem Umschlag verschickt habe. Wir
wussten zwar, dass sie keine Scheu haben würden, Umschläge zu öffnen. Aber
ich dachte mir, und jetzt, nachdem ich meine Stasi-Akten studiert habe,
weiß ich, dass sie schon anders reagiert haben, wenn man eine offene Karte
verschickt hat. Diese Provokation empfanden sie als noch ungehöriger und
noch dreister...
Frage aus dem Publikum: Auf vielen Mail Art Arbeiten gibt es Stempel der
Künstler, und dann gibt es diese ganzen Kontrollstempel von der Post und
offenbar auch von der Stasi. Man hätte ja theoretisch leere Postkarten
schicken können, und diese Kontrollstempel wären die Arbeit gewesen. Da
passiert ja etwas komisches, da gibt es eine Kommunikation der Zeichen auf
diesem Blatt.
Winnes: Das ist sicher zum Teil auch unwillkürlich entstanden. Dass die
Post so streng kontrolliert wurde, sind natürlich Erkenntnisse, die wir
erst im Nachhinein haben. Der Kontrollstempel wurde erst auf dem Weg zum
Adressaten aufgestempelt, den habe ich ja nie gesehen. Den hat ja nur der
gesehen, der den Brief bekommen hat.
?: Zu sagen, dass die Stasi sich auch an den Mail Art Projekten beteiligt
hat, würde also ein bisschen weit gehen...
Winnes: Na ja, wir haben ja in den 90er Jahren eine Dokumentation über Mail
Art in der DDR herausgegeben, und in der haben wir dann auf solche Sachen
Bezug genommen: die Kontrollstempel, das, was zurückgeschickt worden ist,
und solche Sachen eben. Das passt schon dazu und könnte mit eingebaut werden.
?: Kontrollen und Geheimdienste gab es nicht nur in der DDR. Graf Haufen,
hast Du auch Erfahrungen mit Postzensur gemacht.
Graf Haufen: Nein.
Florian Cramer (im Publikum): Pauline Smith wäre vielleicht ein Beispiel.
Die hat in den 70er Jahren den "Adolf Hitler Fanclub" betrieben. Das war
ein Pop-Fanclub für Hitler. Sie hat Fan-Material in der Mail Art Szene
verschickt, was dazu geführt hat, dass sie von der Polizei vernommen worden
ist. Das ist wohl eins der wenigen Beispiel von Leuten, die in der
westlichen Welt mit Mail Art Anstoß erregt haben.
Winnes: Stimmt, daran kann ich mich erinnern. Da hat Robert Rehfeldt was
bekommen. Er hat sich aber geweigert, etwas dazu zu machen.
Graf Haufen: Dann gab es noch COUM Transmissions, daraus ist später die
Band Throbbing Gristle geworden. Die haben Ausstellungen zum Thema
Prostitution und Menstruation gemacht. Dabei haben sie Postkarten
hergestellt, die pornographisches Material enthielten und damit relativ
viel Probleme bekommen, weil Pornographie zu dieser Zeit in England noch
verboten war. Das war zwar nicht im Mail Art Netzwerk, aber sie haben auch
Postkarten als künstlerische Ausdrucksmittel benutzt.
?: Ich hätte erwartet, dass die Deutsche Bundespost oder eine andere Post
Schwierigkeiten bei gewissen Arbeiten gemacht hätte. Ken Friedman hat ja
Möbel verschickt, um zu sehen, wo die Grenzen des Systems Post lagen.
Andere haben Flaschen mit Whiskey versendet, weil sie wissen wollten, ob
sie ankommen...
Graf Haufen: Ich habe mal einen Zehn-Mark-Schein geschickt bekommen. Der
kam tatsächlich an. (Gelächter)
?: Wer Mail Art macht, hat dauernd etwas in seinem eigenen Briefkasten
vorgefunden, zum Beispiel ein Objekt, also etwas Materielles. Andererseits
wird auch argumentiert, dass Mail Art ein Vorläufer der Konzeptkunst
gewesen ist, weil es um relativ immaterielle Dinge ging. Es gab ja
Postkarten oder gestempelte Seiten, die nur einen Satz, eine Beschreibung
oder eine Handlungsanweisung enthielt. Könnt Ihr dazu etwas sagen?
Schulz: Wir wurden sowieso fast gezwungen, bei der Konzeptkunst zu landen.
Es gab kein Papier, keine Farbe, es gab wirklich nichts, da bliebt uns gar
nichts anderes übrig.
(Gelächter) Ein Freund von mir hat selbst Papier produziert, weil er sonst
keins gehabt hätte. Vielleicht war der Konzeptualismus in Polen, besonders
in Breslau darum so stark. Wo kein Material ist, da muss man ein bisschen
mit dem Kopf arbeiten.
Du hast vorhin gefragt, ob diese mangelnde technische Qualität vieler Mail
Art Arbeiten so in Richtung Punk-Bewegung ging. Absolut nicht, nicht
absichtlich, das war die Qualität des Materials, das wir hatten. Ich bin
nur gespannt, wie das erhalten werden soll. Mir tun die
Papierkonservatoren schon heute leid. Aber für mich war die Materialität
der Mail Art auf jeden Fall enorm wichtig. Nur so eine Idee per Email zu
bekommen eventuell mit einer Grafik
im Attachement, ist mir zu wenig. Ich wusste damals ganz genau: diese
Karte, diese Collage oder dieses Objekt war für mich gemacht. Das waren
alles Originale, Unikate. Fotokopien waren damals seltener als heute. Vor
allem die Farbkopien waren eine Offenbarung
für uns, schon rein technisch.
Ich habe schon 1977 angefangen, für die freien Gewerkschaften und später
für Solidarnosc Flugblätter zu produzieren. Das ist auch wichtig, denn
genauso habe ich meine Mail Art Objekte gemacht. Einen Kopierer habe ich in
der Universität Torun, wo ich studiert habe gefunden. Die Flugblätter haben
wir mit Siebdruck gemacht, als Matrize haben wir Zinnfolie oder
Schokoladenpapier verwendet. Damit konnte man schon bis 50 Exemplare
drucken, mit Schrift und sogar Bildern. Und wenn die traurigen Herren
gekommen sind, dann waren die Matrizen ganz schnell weg...
?: Die "traurigen Herren" war die Staatssicherheit?
Schulz: Ja, natürlich. Die Waschmaschine meiner Frau habe ich übrigens in
dieser Zeit als Druckmaschine benutzt. Wie die ausgesehen hat... Bunt war
sie auf jedem Fall...
Apropos Zensur: Es wurde mal eine Einladung aus New York an mich geschickt,
die
war absolut perfekt an mich adressiert. Diese Karte hat mein Freund Pawel
Petasz in Elblag in seinem Briefkasten gefunden. Und von Elblag bis nach
Ladek Zdroj, wo ich damals wohnte sind ca. 700 Kilometer. Wie dazu gekommen
ist, weiß ich bis heute nicht. Wahrscheinlich hatten wir dieselbe Aktennummer.
Graf Haufen: Dass solche kleinen, aber zum Teil aufwendigen Auflagenobjekte
hergestellt worden sind, kam vom Fluxus her. In der Mail Art gab es solche
Projekte, bei denen Künstler aufgefordert worden sind, 100 oder 50
Originalarbeiten in einem bestimmten Format zu einem bestimmten Thema
herzustellen. Und derjenige, der die Sammlung herausgegeben hat, hat die
dann zusammengestellt und an die Teilnehmer zurückgeschickt. Ich habe aus
der DDR wunderschöne Sachen bekommen, die mit der Hand zusammengenäht
worden waren. Das waren Arbeiten, die dem normalen Publikum überhaupt nicht
zur Verfügung standen, weil sie eben nur an die Künstler zurückgingen.
?: Dadurch, dass die Mail Art zum größten Teil auch innerhalb des eigenen
Netzwerks stattgefunden hat, hat sie sich ja auch der kunsthistorischen
Kontextualisierung entzogen. Ist das zu bedauern, dass die Museen bis
heute, von einigen Ausnahmen abgesehen, die Mail Art ignorieren.
Boers: Ja, die Mail Art wird als eine der wenigen Kunstbewegungen des 20.
Jahrhundert eigentlich kaum in der Rezeption aufgenommen. Wenn man die
einschlägigen Handbücher durchblättert, findet man kaum etwas über Mail
Art. Auf dem Netz sieht man ziemlich viel, aber sonst?
Schulz: Einige Museen haben versucht, die Mail Art in die Sammlungen zu
bekommen und haben selbst einige Projekte initiiert. Aber das ist kein Mail
Art. Wenn das Museum für Post und Telekommunikation eine Mail Art Sammlung
haben will, dann sollte es das Archiv zum Beispiel von Friedrich Winnes
kaufen oder als Depositum übernehmen. Dann hätten die Museumsleute
mindestens ein Archiv eines Mail Art Künstlers, als Beispiel dieser
Kunstbewegung.
Graf Haufen: Es gab ein paar Projekte von Museen und anderen öffentlichen
Einrichtungen, die gerade auf diesen Netzwerk-Gedanken angesprungen sind.
Aber die haben es meist recht geschickt verstanden, an der Idee
vorbeizuproduzieren. In Hamburg hat es zum Beispiel mal eine große
Ausstellung gegeben. Die haben genau wie in der Mail Art Einladungen
rausgeschickt, aber nicht ans Netzwerk, sondern an Künstler, die schon
relativ arriviert waren. Bei Mail Art Ausstellungen ist die Grundidee, dass
es keine Zensur gibt, und das alles gezeigt wird, was eingesandt wird. Die
Hamburger haben aus den 1000 Einsendungen dann 100 herausgesucht und schön
gerahmt ausgestellt. Das war natürlich komplett daneben, und es gab auch
einen ziemlichen Skandal deswegen. Da haben die Künstler, die aus der Mail
Art Szene kamen, sich ziemlich aufgeregt - sicher auch aus gekränkter
Eitelkeit, aber auch, weil die ganze Idee einer Mail Art Ausstellung
missachtet worden ist.
Boers: Mail Art hat zwei Aspekte: das Objekt und die Interaktion, und die
Interaktion findet auf der sozialen Ebene statt. Das ist nicht unwichtig
für die Produktion von Kunst, aber in der Kunstgeschichte wird das nicht
immer so gut rezipiert. Das ist auch relativ schwer festzuhalten, ohne in
soziologische Kategorien zu geraten. Das sieht man zum Beispiel an einigen
Künstlern, die Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre angefangen haben, zum
Beispiel On Kawara. Ihre Mitteilungen sind in der Konzeptkunst rezipiert
worden, aber im Prinzip ist das natürlich Mail Art. Das gleiche sieht man
jetzt auch bei der Net Art. Da gibt es auch das Element der Interaktion,
das ziemlich schwierig festzuhalten ist, was es eigentlich kunsthistorisch
bedeutet.
Unsere Kultur ist relativ stark objektorientiert und gerade nicht
beziehungsorientiert. Da gibt es geradezu automatisch diese Ausgrenzung von
Kunst, die sich mit Interaktivität beschäftigen. Ich sehe das auch bei
Kunsthistorikern und Kritikern, das wird ganz selten in den Kanon der Kunst
aufgenommen, oder höchstens als Ausnahme, aber nicht als Netzkunst oder
Mail Art. In meiner Sicht war in den 70er Jahre die Verbindung, die man
miteinander hat, wichtiger als das Objekt selbst. Das war eigentlich
unspektakulär. In Amsterdam gab es Läden wie das In and Out Center oder
Books And So, wo solche Kontakte zusammenliefen. Das waren eigentlich
Buchläden, es gab keine Bilder, nichts Visuelles, sondern nur diese kleinen
Sachen, Arbeiten auf Papier. Das passte in den 70er Jahren, in den 80ern
ist dann alles wieder bildorientierter und bildreicher geworden.
?: War Mail Art denn eine Methode, um sich um die Konventionen des
Kunstbetriebs herumzumogeln?
Wohlrab: Es gab schon einige Leute, die Mail Art immer auch als Kunst
gesehen haben, zum Beispiel Robert Rehfeldt oder ich. Für andere spielt das
gar keine Rolle, oder sie sahen es als Anti-Kunst.
Schulz: Als Gegenkunst. Es gab ja auch diesen Slogan von Robert Rehfeldt:
"Seid Kunst im Getriebe."
Wohlrab: Das sollte gegen die Stasi gehen. Man darf nie vergessen: In der
DDR war das Porto billig, wir haben viel produziert, denn die sollten was
zu tun haben. Damit haben einige Leute Geld sogar verdient. Ein
Einschreiben kostete 40 Pfennig, und wenn das verloren ging, hat man 40
Mark Ersatz bekommen. Wenn ein Mail Art Einschrieben einbehalten wurde, hat
man also sogar Geld gekriegt.
Einer aus unserer Gruppe kam ins Gefängnis, weil er so einen Stempel
herstellen ließ. Man konnte sogar Stempel offiziell machen lassen, nicht
alles war in Radiergummi geschnitzt. Auf den Stempel stand: "Achtung,
vorsichtig behandeln. Bei Verlust 40 Mark." Solche Sachen haben Spaß
gemacht. (Gelächter)
Winnes: Es musste für mich immer etwas zweideutig sein. Ich habe zum
Beispiel viele offizielle DDR-Dokumente verwendet, wie Formulare oder
Artikel aus dem Neuen Deutschland. Die habe ich gar nicht verändert,
sondern einfach in einen ganz anderen Zusammenhang gestellt.
?: Wir sind heute Abend ja eine reine Männerrunde. Auch in dem Katalog
"Mail Art Szene in der DDR" sind fast nur männliche Künstler vertreten. War
Mail Art eine Männerbeschäftigung?
Wohlrab: Nicht nur, aber es waren schon über 90 Prozent Männer. Aber wir
hätten natürlich so auch gerne Frauen kennen gelernt. (Gelächter)
Frage aus dem Publikum: Haben Sie denn bei allem mitgemacht, was an Sie
gesendet worden ist?
Winnes: Ich habe ab Mitte der 80er Jahre keine feste Arbeit mehr, und hatte
sehr viel Zeit. Von 1985 bis 1989 habe ich mich sehr viel mit Mail Art
beschäftigt, und an manchen Tagen habe ich fünf bis acht Zusendungen aus
aller Welt bekommen, von Japan bis Amerika. Ich konnte das beim besten
Willen nicht mehr alles beantworten, und darum habe ich nur noch bei
Projekten mitgemacht, die mich interessiert haben. Aber ich habe nicht
gesagt: da mache ich generell nichts. Wenn ich so was bekommen hätte wie
den Hitler-Fanclub, da hätte ich allerdings auf keinen Fall etwas gemacht.
Graf Haufen: Es kam auch darauf an, was man bekommen hat. Ich habe mich
zwar nicht sehr lange in der Mail Art Szene aufgehalten, aber dafür sehr
intensiv, weil ich Student war und auch viel Zeit hatte. Man hat von vielen
Leuten wirklich Schrott bekommen. Oft hat man gedacht, dass da nur jemand
eine Fotokopie geschickt hat, weil die auf seinem Schreibtisch rumlag und
er sie loswerden wollte. Denen hat man dann ein oder zwei Chancen gegeben,
um zu sehen, ob da vielleicht doch eine Interaktion möglich war, aber wenn
das nicht gegeben war, hat man aufgehört.
Florian Cramer (aus dem Publikum): Steward Home hat in seinem Buch "The
Assault on Culture" geschrieben, dass er die Mail Art als ein Vehikel
dieses uneingelösten Versprechens sieht, dass jeder Mensch ein Künstler
ist, also diese Realisation einer uneingeschränkten Kreativität. Dieses
Versprechen habe dazu geführt, dass sich Leute massiv an Kunsthochschulen
eingeschrieben hätten, und dann nach ihrem Abschluss merkten, dass sie
keine Chance als Künstler haben, und dann die Mail Art Szene als Plattform,
um sich einen Kunstbetrieb zu bauen, der sie akzeptiert. Etwas ähnliches
hat Bob Black geschrieben: Kunstbetrieb und Mail Art seien vergleichbar mit
Olympiade und Para-Olympics. Es sei keineswegs so, dass die die
Para-Olympics das freiere System sei, auch sie hätten ihre internen
Hierarchien, aber die würden eben anders funktionieren. Bei der Mail Art
würde es nach der Anerkennung der Quantität von Partizipation
funktionieren. Ich fand es jetzt interessant, dass Sie gesagt haben, 1989
war die Mail Art für sie zuende. Man braucht nicht darüber zu diskutieren,
welche Rolle Mail Art in Osteuropa gespielt hat, aber war das Konzept in
Westeuropa nicht schon immer in der Schieflage?
Schulz: Ich glaube, es war im Westen zu einfach, Mail Art zu machen. Ich
habe nie etwas weggeworfen und in meinem Archiv hat sich mit der Zeit auch
sehr viel Müll angesammelt. Was Graf Haufen gesagt hat, stimmt. Es war eben
im Westen ganz einfach, die "Kunstwerke" durch den Kopierer zu jagen und
sie dann zu schicken. Wir lebten dagegen in einer anderen, vollkommen
unvergleichbaren Situation, in einem Staat, in dem eine ganz einfache
Schreibmaschine registriert war, in dem keine Kopierer zugänglich waren.
Das war die Realität. Ich habe schon gesagt, die Schwerpunkte meiner
Aktivität waren damals Osteuropa und Südamerika. Von dort habe ich immer
etwas relevantes und substantielles bekommen. Die Zensur hat in der
osteuropäischen Mail Art eine enorm wichtige Rolle gespielt. Die haben sie
Sendungen gelesen, auch die Bilder. Und gegen diese Zensur haben wir
geschrieben, gemalt, collagiert... Ich habe als Kommentar dieser Situation
eine Postkarte produziert, die war nur weiß, mit einem Stempel drauf: "Do
not open!" (Gelächter)
Aber die Zensoren waren auch manchmal schlampig. Ich habe zum Beispiel eine
Arbeit von Ken Seville aus den USA bekommen, der vor allem Textstempel
benutzt hat. Ganz klein, ästhetisch sehr sympathisch. Die polnischen
Zensoren haben alle englischen Texte ins Polnische übersetzt, und die
Übersetzungen mit dem Bleistift daneben geschrieben. So ein "Kunstwerk"
habe ich bekommen. Die Schlamper hatten einfach vergessen, die Ergebnisse
ihrer Arbeit wegzuradieren. (Gelächter)
Wohlrab: Dass man sich da selbst so ein System schafft, das einen stützt,
das stimmt zum Teil. Ich finde das aber nicht verkehrt. Für viele war Mail
Art eine Art Psychotherapie. Kunst ist ja auch Therapie. Es sind zum Teil
merkwürdige Leute dabei, die das machen. Man kann auf diesem Weg Kontakt
knüpfen. Leute, die auf eine Katzenausstellung gehen, lernen sich da
wahrscheinlich auch kennen, weil sie ein gemeinsames Interesse haben.
?: Gibt es denn heute noch Mail Art?
Winnes: In den Ostblockstaaten ist es spürbar weniger geworden. Aber es
gibt es viele junge Leute, die die Mail Art für sich entdecken. Im Internet
finden sich die Arbeiten, die vor ein paar Tagen abgeschickt wurden, in
Online-Galerien wieder, aber auch die Ausschreibungen für Projekte kann man
im Internet finden.
?: Was bleibt denn von so einem Netzwerk, wenn plötzlich in ihm nichts mehr
zirkuliert? Das derzeit bekannteste Netzwerk, El Quaida, funktionierte ja
offenbar so. Da sitzen überall Schläfer herum, und wenn man einen antippt,
wendet der sich an den nächsten und schließlich fliegt einer ins World
Trade Center hinein. Den Eindruck hatte ich bei der Organisation dieser
Veranstaltung auch: Man muss nur einen anrufen, und plötzlich funktionieren
die alten Links wieder. Stimmt dieser Eindruck?
Wohlrab: Ja. Graf Haufen und ich haben uns über das Mail Art Netzwerk
kennen gelernt. Dann haben wir uns 1986 getroffen, und dann noch einmal
1993, und jetzt wieder. Und wir kennen uns gut. (Gelächter)