[rohrpost] Der neue Supercode

Tilman Baumgaertel tilman_baumgaertel@csi.com
Fri, 18 Oct 2002 18:10:59 +0200


http://www.frankfurter-rundschau.de/fr/140/t140001.htm

Der neue Supercode=20

Der Kampf der Peripherie gegen das Zentrum=20

Von Niels Werber=20

Mit dem Ost-West-Konflikt, der alles zu erkl=E4ren hatte, war es vorbei, und
=FCberhaupt hatte das Denken in bin=E4ren Oppositionen wie Freund und Feind
oder gut und b=F6se am Ende des letzten Jahrtausends seine einstige
Attraktivit=E4t eingeb=FC=DFt. Das scharfe "Entweder - oder" lie=DF man=
 zur=FCck, um
Vernetzungen, Vielheiten, Verflechtungen zu entdecken. Nicht die
Unterscheidung von seinem Gegenteil kl=E4rt nun die Sache, sondern die
Einbettung in ein Feld, war doch oftmals das Gegenteil, etwa des
Kapitalismus, ohnehin nicht mehr auszumachen.

Dieser Wechsel von der Differenz zum Rhizom pr=E4gt auch die
Selbstbeschreibungen der Kunst. In seinem Essay zum documenta 11-Katalog
geht der Kurator Okwui Enwezor davon aus, unsere Welt sei netzwerkartig
organisiert, sie sei deterritorialisiert oder a-territorial. Alles str=F6mt
und flie=DFt, verschaltet und vernetzt sich, die alten Differenzen (Nord-S=
=FCd,
Ost-West, Imperien- Kolonien) scheinen obsolet. Diese neue Form der
Weltgesellschaft hat gewisserma=DFen vom Raum abgehoben. Plateaus, Rhizome,
Netzwerke, Multitudes haben den gewaltt=E4tigen Raum des Imperialismus und
der Hegemonie hinter sich gelassen. Mit dieser Beschreibung h=E4tte man sich
vielleicht noch vor zwei oder drei Jahren anfreunden k=F6nnen, als Jeremy
Rifkin das Ende des Eigentums im Age of Access verk=FCndete, J.P. Barlow vom
Cyberspace die Befreiung des Menschen von der Materie erwartete oder Bill
Gates und Al Gore der Welt einen friktionslosen, freundlichen,
umweltschonenden Kapitalismus versprachen.

Gegen globale Totalit=E4t

Die Anschl=E4ge vom 11. September 2001 haben mit derartigen Illusionen
aufger=E4umt, und auch Enwezor scheint den Glauben an eine
deleuze-guattarische Welt der Plateaus verloren zu haben. Denn im zweiten
Teil seines Essays geht er von einer weltweiten Konfrontation aus, die mit
allen bisher genannten Kategorien nicht zu beschreiben ist, weil sie bin=E4r
ist und im Raum stattfindet. Es ist der Kampf der Peripherie gegen das
Zentrum. Das 21. Jahrhundert werde gepr=E4gt von einem Befreiungskampf der
Peripherien gegen die zentrale hegemoniale Macht des Westens. Zumal der
politische Islam k=E4mpfe gegen die "globale Totalit=E4t" der westlichen
Weltanschauung mit dem Ziel, "ihre Gesellschaften vor der totalen
Integration zu bewahren."

Die Attacken vom 11. September 2001 sind Enwezors bestes Beispiel f=FCr die
"antihegemonistische Opposition" der Peripherie. S11 (September Eleven) sei
als der "Fall zu begreifen, mit dem die Peripherie ins Zentrum r=FCckt". In
diese Frontstellung der Peripherie gegen das Zentrum stellt Enwezor gleich
neben die S11-Attent=E4ter den "Kampf der Pal=E4stinenser", die
"Stra=DFenschlachten, die sich Antiglobalisierungsgegner in Genua, Seattle,
Montreal und anderen europ=E4ischen und nordamerikanischen Gro=DFst=E4dten m=
it
der Polizei liefern", sowie die Demonstrationen in der Dritten Welt gegen
Weltbank und W=E4hrungsfond. Ground Zero liege auch in Gaza oder anderswo un=
d
sei nur der exemplarische Ort, "an dem die Abrechnung mit dem Westen
beginnt". Die neue Superdifferenz Zentrum- Peripherie hat eine derartig
generalisierende und vereinfachende Kraft, dass so unterschiedliche
Ph=E4nomene wie islamischer Terrorismus, Globalisierungskritik oder Armut in
Schwellenl=E4ndern umstandslos in eine Schublade gepackt werden k=F6nnen: de=
n
Kampf der Peripherie gegen das Zentrum.

Enwezors Projekt ger=E4t so reichlich zwiesp=E4ltig. Einerseits wird die
postkoloniale, atopische, deterritorialisierte Weltgesellschaft gefeiert
als Ort der Hybride, Netze und Rhizome, anderseits wird dieselbe
Weltgesellschaft von einer einzigen geopolitischen Differenz gespalten
zwischen der westlichen totalen "Weltordnung" und dem Widerstand der
Peripherien gegen ihre "totale" Integration.

Ob nun Globalisierungsgegner, Anh=E4nger der Tobin-Steuer oder Terroristen
gegen die von den USA gef=FChrte westliche Dominanz vorgehen: der Kampf
findet in den St=E4dten statt. Enwezor nennt Seattle, Genua, New York. Sowei=
t
die Stadt, wie Abdoumaliq Simone im documenta 11-Buch sicherlich im
Anschluss an Saskia Sassen schreibt, soweit die Global City als Knotenpunkt
des globalen Netzwerks =F6konomischer Transaktionen zu betrachten sei,
insoweit werde sie auch zum Ziel und Schauplatz jenes antihegemonialen
Kampfes, von dem Enwezor behauptet hat, dass er sich genau gegen diese
"globale Totalit=E4t" richte. Hier kommen nun beide Diskurse: Welt als
Netzwerk und Welt als Differenz von Zentrum und Peripherie zur Deckung,
denn die Stadt ist offenbar beides: Knoten eines Netzwerks und Zentrum.

Der Soziologe und Systemtheoretiker Dirk Baecker kommt in einem Beitrag zum
Sammelband Terror im System. Der 11. September und die Folgen zu einer
=E4hnlichen, also zweipoligen Sicht der Dinge. Zun=E4chst einmal seien die
Anschl=E4ge auf das World Trade Center und das Pentagon sowie die
"amerikanische Antwort" Elemente eines Konflikts, den die "Weltgesellschaft
mit sich selbst" austr=E4gt. Weltgesellschaft ist hier der systemtheoretisch=
e
Name f=FCr eine Gesellschaft mit globaler Arbeitsteilung, globaler Vernetzun=
g
und globaler Kommunikation, f=FCr deren Beschreibung Enwezor Vokabeln von
Deleuze, Guattari und Agamben benutzt hatte.

Die Systemtheorie versteht Weltgesellschaft als "das System aller
f=FCreinander erreichbarer Kommunikationen". Dank der neuen Medien spiele de=
r
Standort der Kommunikationsteilnehmer keine Rolle mehr. Die neue raumlose
Gesellschaft "konnektivistischer Fluidit=E4t" hat Helmut Willke Atopia
genannt. Atopia meint eine globalisierte Gesellschaft, f=FCr die "Ort, Raum
und Entfernung zu vernachl=E4ssigenden Gr=F6=DFen" werden. Noch Rudolf Stich=
weh
hat in einem Essay f=FCr diese Zeitung (FR vom 2. 10. 2001) auch nach den
S11-Anschl=E4gen an dieser Konzeption im Wesentlichen festgehalten.

Dieses von der Systemtheorie bislang bevorzugte Konzept einer raumlosen,
atopischen Weltgesellschaft wird von Dirk Baecker nun korrigiert. Baecker
vermutet unter dem Eindruck der S11 Anschl=E4ge und der amerikanischen
Reaktion, dass "dieser Krieg daran arbeitet, einen Weltordnungszustand
wiederherzustellen, der sich nach Zentrum und Peripherie unterscheidet".
WTC und Pentagon symbolisierten gewisserma=DFen das Zentrum des Zentrums der
Weltgesellschaft: Amerika. Die Systemtheorie der Weltgesellschaft, die
Raum, Boden, Macht, Territorium und Kontrolle f=FCr obsolet erkl=E4rt hatte,
beschreibt die Welt nicht l=E4nger als laterales, multipolares Netzwerk
"konnektivistischer Fluidit=E4t", sondern als Differenz von Hegemonialmacht
und ihren Gegnern. "Der Terrorakt ist", so Baecker, "eine schlichte, aber
un=FCbersehbare Erinnerung daran, dass das Zentrum der Weltgesellschaft f=FC=
r
seine Peripherie in der Verantwortung einer Ordnungsmacht steht." Das
"Zentrum der Weltgesellschaft, Amerika" sehe sich der Aufgabe gegen=FCber,
"die Weltgesellschaft insgesamt, also unter Einschluss der =E4u=DFeren
Peripherie, zu ordnen".

Geopolitische Wende

Enwezor sieht dies ganz =E4hnlich, S11 r=FCcke "die Peripherie ins Zentrum",
und Hartmut B=F6hme ebenfalls, der von einer "Explosion der Peripherie im
Zentrum der Global City" gesprochen hat und den Terroristen als
Repr=E4sentanten des Lokalen bestimmt, der "jederzeit in den
Kommandozentralen der Weltordnung erscheinen und explodieren kann". Und
genau wie bereits Enwezors Essay von der vagen Aterritorialit=E4t der
Netzwerke zum sehr konkret zu verortenden Kampf der Peripherie mit dem
Zentrum findet, reterritorialisiert Baecker die Raumlosigkeit der
Systemtheorie in einer geopolitischen Wende, die der USA die Rolle einer
Weltordnungsmacht zuweist.

Die schon oft totgesagte Geopolitik triumphiert =FCber die vermeintliche
Deterritorialisierung der Weltgesellschaft. Es geht nun um nicht weniger
als eine neue Welt-Raum-Ordnung. Und die ist bin=E4r. Es mag zwar nach wie
vor Tausende von Plateaus, Netzen und Rhizomen geben, doch gibt es eine
Differenz, die alles supercodiert: Zentrum und Peripherie. Die Lage der
Welt ist weder einfacher noch friedlicher, sicher aber =FCbersichtlicher
geworden.

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[ document info ]
Copyright =A9 Frankfurter Rundschau 2002
Dokument erstellt am 17.10.2002 um 21:08:05 Uhr
Erscheinungsdatum 18.10.2002

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