[rohrpost] Fwd: im bett mit suhrkamp

savadee kimberlain sava@theatermaschine.de
Wed, 30 Oct 2002 15:02:18 +0100


=2E.. ein nachruf anderer art -- enjoy! ;)

savadee


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Im Bett mit suhrkamp
Das textuelle Leben der Gisela Star

Sonntag im Zug von Weimar nach M=FCnchen. Der Zug hat Versp=E4tung=20
versteht sich. Ein Sturm tobt =FCber Deutschland. Kurz vor N=FCrnberg,=20
ich sp=E4he durch den Schlitz im Sitz zu meinem Vordermann, der hat ein=20
Buch in der Hand, so ein blaues Taschenbuch, so eines von suhrkamp.=20
Ich kann den Titel nicht erkennen, denke noch, hm, denke, suhrkamp,=20
denke: Ein ganzes Universum.
Mein Vordermann steigt in N=FCrnberg aus, eine alte Frau steigt ein.=20
Sie schl=E4gt die Zeitung auf, ich sp=E4he wieder durch den Sitz, da sehe=20
ich die Schlagzeile. Unseld tot.

Ich fange noch mal an. Zwei Br=FCder, es war einmal, der eine hatte die=20
coolen Freunde, der andere die guten B=FCcher, die kleine Schwester=20
ich. Ich mag meine Br=FCder sehr. In die Freunde des einen habe ich=20
mich ungl=FCcklich verliebt, die B=FCcher hat der andere mir st=FCckweise=20
geliehen. Wir sind im guten Glauben erzogen, r=F6misch-katholisch, um=20
genau zu sein. Dies ist mein Leib. Bei den Taschenb=FCchern hatte ich=20
immer Angst, dass der Buchr=FCcken knickt, habe sie vorsichtig in=20
meinem Bett aufs Kreuz gelegt. Missionarsstellung. So wurde ich=20
bekehrt. Dann wurde ich magers=FCchtig, denn ich hatte gro=DFen Hunger.=20
Meinen Wissensdurst jedoch haben sie =FCber die Jahre gestillt.

Noch mal. Vor Weimar Leipzig. In Leipzig wohnt mein Bruder mit seiner=20
=46rau, seinen Kindern und seiner Bibliothek. Dort steht, in=20
alphabetischer Ordnung, aufrecht, begehrenswert, Seite an Seite, f=FCr=20
jeden diesen Besitz zu bewundern: Das ganze suhrkamp Universum. A -=20
Z. Ich hatte auch gro=DFe Lust, und habe sie noch. Und gro=DFe Lust zu=20
schreien. Aber in Bibliotheken schreit man nicht, schon gar nicht vor=20
Lust. Oder Schmerz. In Bibliotheken hei=DFt es schweigen. So wurde ich=20
also gestillt. So wurde ich sozialisiert. Ich =3D m=E4nnlich, westlich,=20
heterosexuell. Auf meinen Lippen die Ausd=FCnstungen alter M=E4nner.=20
Meine Schmerzen sind die Phantomschmerzen der potentiell=20
Penisamputierten.

Und deshalb fange ich wieder an. Seit einiger Zeit habe ich keine=20
Kastrations=E4ngste mehr. Und nat=FCrlich bin ich bis heute sexuell=20
besetzt von meinen beiden Br=FCdern. Ich bin auch sexuell besetzt von=20
Adorno, von Bernhard, Beckett, Benjamin, Brecht und Ulrich Beck, von=20
Celan, von Derrida, Elias, Eco, Enzensberger, von Foucault, fr=FCh=20
schon von Frisch, von Garcia Lorca, Habermas, Hesse, Hein, Horvath=20
und H=F6risch, von Johnson, Jonas, von Kant ohlala, von Levi-Strauss,=20
Luhmann, Marcuse und G. H. Mead, von Neumeister und Ostermeier,=20
peinlich, von Robbe-Grillet, von Simmel, und so weiter, viele mehr,=20
Walser M. und R., sexuell besetzt selbst von Wittgenstein.

So anfangen! Ich bin meine Welt. So sehen! Dass alles, was wir sehen=20
auch anders sein k=F6nnte, und alles was wir =FCberhaupt beschreiben=20
k=F6nnen, auch anders sein k=F6nnte. Dass dies der Fall sein k=F6nnte. Ach!=
=20
Doch bin ich nur Gast in dieser Welt, in diesem Universum. Ich bin=20
das schwarze Loch. Ich falle unentwegt. Mein Point of View ist der=20
zwischen den St=FChlen hindurch, mein Standpunkt grund- und bodenlos.=20
Ich bin die Diskursmasse, im Nachlass nicht enthalten.

Das Dunkel kennt sich nicht
Es fragt auch nicht
Es ist eine Faust in einer Faust
Die niemand sieht. Meret Oppenheim. Verlegt bei suhrkamp.

Am Anfang immer das Wort. Und dann die Welt, und dann einige wenige,=20
die Recht haben und Macht haben und das Sagen haben und die=20
Definitions- und die Distributionsgewalt. Die Welt der Opfer und=20
T=E4ter. Ich bin hier geboren, da komme ich her, das ist meine Welt. Da=20
hat man mich benannt und beschrieben und umschrieben, mir Worte in=20
den Mund gelegt, damit ich nichts mehr sagen kann. Nichts anderes als=20
das ganze Universum samt all seinen Synonymen. Nenn' es Abendland,=20
nenn' es Aufkl=E4rung, Moderne, zweiter, dritter Ordnung, nenn' es=20
Marlboro Country, Home of the Brave, Home of the Free. Meine=20
sogenannte geistige Heimat. Und dr=FCben im Morgenland die=20
Scheherazade. Ihr Typ, ein stinkreicher =D6lscheich, hat sie aufs Bett=20
geschnallt und verh=F6kert jetzt Hardpornovideos, X-rated, worldwide.

Oder um anders anzufangen: Ich schnappe mir eins der billigen=20
Pseudonyme - was bleibt auch sonst =FCbrig - hefte es in mein=20
Dekollet=E9. Rechts und links davon, h=F6rt h=F6rt!, eine erigierte=20
Brustwarze. Ich bin geschmacklos, ich wei=DF. Deshalb darf ich auch in=20
keinem der Elfenbeint=FCrme wohnen. Nur zu Besuch darf ich gelegentlich=20
reinschauen. Leute wie ich werden dann gerne verr=FCckt. Oder sterben=20
beliebterweise jung, an Leib und Seele gesch=E4ndet. =DCber 70% der=20
Borderline-Patienten seien weiblich, sagt mein Bruder, der Psychologe=20
aus Leipzig. Ich will mich nicht verr=FCckt werden lassen. Ich will=20
auch nicht schon zum Ende kommen.

Ich fange einfach an. Ich stehe im prallen Mittagssonnenlicht, jemand=20
hat mir eine Waffe in die Hand gedr=FCckt. Blow job. Eine Waffe f=FCr A,=20
B bis Z Sch=FCtzen. You're the one with the finger on the trigger for=20
the things to come. Schie=DF doch endlich, schie=DF doch! Jag das ganze=20
Universum in die Luft, los! Trau dich! Ich aber will das alles nicht.=20
Ich aber will fragen, will meine Hand nicht zur Faust ballen m=FCssen.=20
Seht ihr? Und so stehe ich vor der B=FCcherwand meines Bruders. Ein=20
kleiner geiler Stern im gro=DFen Universum. Eine von den vielen. Lasst=20
Blumen sprechen. Ich war ein M=E4dchen. Auf meine Unschuld pfeif ich=20
aus allen L=F6chern. Das ist das Problem.

gi*

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