[rohrpost] Richard Rorty über die Aussenpolitik der USA
Maria Schmucker
fullyfledged@yahoo.de
Sat, 7 Sep 2002 11:26:16 +0200 (CEST)
Der unendliche Krieg
Die permanente Militarisierung Amerikas: Wie die
Regierung Bush den 11. September für den eigenen
Machterhalt ausgenutzt hat / Von Richard Rorty
Ein Jahr nach dem 11. September haben sich die USA
immer noch nicht mit einigen der schwierigsten
Fragen aus dieser Katastrophe auseinandergesetzt.
Niemand etwa hat erläutert, wie die Regierung
wirksame Sicherheitsmaßnahmen gegen das
Einschmuggeln nuklearer oder biochemischer Waffen
in Schiffscontainern treffen will. Man ahnt: Die
Behörden wissen, dass es gar keine
Vorsichtsmaßnahmen gibt, die neue terroristische
Angriffe ausschließen oder auch nur wesentlich
einschränken könnten. Aber die Behörden werden der
Öffentlichkeit kaum sagen, dass der Regierung
wenig Besseres eingefallen ist als die
Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen auf den
Flughäfen. Das mag zwar weitere
Flugzeugentführungen verhindern, nur sollte man
nicht annehmen, dass Terroristen nur Flugzeuge
entführen.
Doch Regierungen müssen ihren Bürgern gegenüber
eben so tun, als unternähmen sie etwas –
irgendetwas, um jene Sicherheit herzustellen, die
der Steuerzahler glaubt, mit seinen Steuern
erkaufen zu können. Zunächst hat der Einsatz
militärischer Macht in Afghanistan den Wunsch der
Öffentlichkeit befriedigt, die Regierung solle
„etwas tun“. Aber das reichte nicht. Die
Steuerzahler müssen glauben, dass die Regierung
immer noch etwas tut. Es genügt nicht, eine neue
Bürokratie einzurichten, das „Department of
Homeland Security“. Also haben wir seit elf
Monaten viele kryptische Äußerungen von Präsident
Bush und seinen Kabinettsmitgliedern gehört, die
allesamt suggerieren, man bereite irgendeine Art
von Angriff auf den Irak vor. Allerdings hat die
Regierung nie behauptet, der Sturz Saddam Husseins
würde die Wahrscheinlichkeit terroristischer Akte
wesentlich verringern.
Die Reaktion der Regierung auf zukünftige Angriffe
wird bei der Beantwortung der Frage, wie diese
verhindert werden können, kaum eine Rolle spielen.
Denn diese Reaktion wird vorwiegend aus
Militärschlägen gegen kleinere Länder bestehen,
wobei es praktisch keine Rolle spielt, ob diese
Schläge tatsächlich irgendeine terroristische
Organisation behindern. Amerika wird
wahrscheinlich ein beliebiges Land angreifen,
sobald sich ein mit dem 11. September
vergleichbarer Akt des Terrorismus ereignet – nur
damit alle sehen, dass Washington „etwas tut“.
Libyen darf sich auf einen solchen Angriff
einrichten, falls die terroristischen Attacken
auch nach dem Sturz Saddams weitergehen sollten.
Aber obwohl der Afghanistankrieg al-Qaida durchaus
geschwächt haben mag, werden derartige
Organisationen vermutlich lernen, ihr Personal
rascher von einem Ort zum anderen zu transferieren
als eine langsam und massiv reagierende Supermacht
ihre Zieloptik ändern kann.
Niemand weiß genau, weshalb sich die Regierung den
Irak als nächstes Ziel ausgesucht hat. Die
simpelste Hypothese lautet: Man hat der
amerikanischen Öffentlichkeit bereits beigebracht,
dass Saddam Hussein „schlimmer als Hitler“ ist;
daher bedarf ein Angriff auf den Irak keiner
langen Entschuldigung. Dass das Land von einem
blutigen Tyrannen regiert wird, gilt als
hinreichender Grund dafür, es als gefährlichen
Feind zu behandeln. Ein militärischer Einsatz
gegen den Irak ist, dieser Theorie zufolge, der
einfachste Weg für die Regierung zu zeigen, dass
sie entschieden und machtvoll handelt, wie es
einer Supermacht gebührt.
Eine andere Erklärung für einen bevorstehenden
Irak-Krieg könnte darin liegen, dass es Bush und
seinen Beratern schwer fällt, sich auf etwas
anderes zu konzentrieren als auf das Ölgeschäft.
Dort sind der Präsident, Vizepräsident Cheney und
viele der mächtigsten Geldgeber der Republikaner
zuhause. Vielleicht erfordert es die Logik der
Branche – vor allem hinsichtlich der Erschließung
der zentralasiatischen Ölfelder –, dass man den
Irak eliminiert oder dem Willen von Texas
unterwirft. In den linken US-Medien wird viel in
dieser Richtung spekuliert, und man kann es nicht
einfach von der Hand weisen. Aber diese Hypothesen
werden spekulativ bleiben. Schließlich wissen wir
zwölf Jahre später immer noch nicht, inwieweit der
Golfkrieg das Resultat bestimmter Ölinteressen
war. Die wahren Gründe neuer Aktionen gegen den
Irak dürften ebenso geheimnisvoll bleiben.
Natürlich gibt es eine andere Möglichkeit:
Vielleicht weiß die amerikanische Regierung etwas,
was wir nicht wissen. Vielleicht hat die CIA
tatsächlich solide Geheiminformationen, die
zeigen, dass der Irak bald in der Lage sein wird,
Raketen abzufeuern, die Tel Aviv, Riad und Teheran
unbewohnbar machen würden. Vielleicht gibt es
wirklich eine Parallele zwischen der
Notwendigkeit, Hitlers Wiederaufbau der deutschen
Militärmaschinerie zu verhindern, und der
Notwendigkeit, die Wiedererrichtung der im
Golfkrieg zerstörten Waffenfabriken des Irak zu
verhindern. Vielleicht ist das Risiko des Wartens
größer als das offensichtliche Risiko von Chaos im
Nahen Osten, wenn der Irak wieder angegriffen
wird.
Doch falls solches Beweismaterial existiert,
beabsichtigt die Regierung Bush keineswegs, es
auch nur dem Kongress vorzulegen, geschweige denn
dem amerikanischen Volk. Das letzte, was Bush und
seine Berater wollen, ist eine echte öffentliche
Diskussion, welche die Ansicht ins Wanken bringen
könnte, die sie unbedingt festigen wollen: die
Ansicht, dass wir uns bereits „im Krieg“ befinden;
dass deshalb der Präsident dieselben
Machtbefugnisse bekommen muss wie Roosevelt im
Zweiten Weltkrieg und ebenso frei sein muss von
jeder Notwendigkeit, sich vor irgend jemandem zu
verantworten. Insbesondere muss der Präsident das
Recht haben, alles geheim zu halten, was er will –
selbst seine Gründe dafür, sich dieses und nicht
jenes Land als Angriffsziel auszusuchen.
Niemand hätte sich kurz nach dem 11. September
träumen lassen, dass die Behauptung, wir befänden
uns bereits „im Krieg“, so ausgereizt werden
würde. Die Regierung beansprucht nun das Recht,
US-Bürger, die im Verdacht der Verbindung zu
terroristischen Organisationen stehen, zu „enemy
combatants“ zu erklären, feindlichen
Kriegführenden, und das Recht, sie unbegrenzt und
ohne gerichtliche Anhörung gefangen zu halten.
Laut Justizministerium wäre die nationale
Sicherheit gefährdet, wenn man entsprechende
Geheimdienstinformationen den Bundesrichtern
vorlegen würde. Eine solche Regierung kann sich
fast alles erlauben. Vor diesem Missbrauch der
Staatsmacht hat die Linke seit dem 11. September
gewarnt, aber nur wenige hätten es für möglich
gehalten, dass Justizminister Ashcroft es wagen
würde, in so kurzer Zeit so weit zu gehen.
Es liegt im Interesse der Republikaner
sicherzustellen, dass die Nation so lange wie
möglich „im Krieg“ bleibt. Diejenigen, welche die
Partei kontrollieren – eine gierige und zynische
Oligarchie ohne Interesse an Bürgerrechten oder
Wohlfahrt –, würden nichts lieber sehen als eine
Neuauflage jener Situation, die 1944 zur
beispiellosen Wiederwahl Roosevelts in eine vierte
Amtszeit führte. Diese Wahl wurde mit dem Slogan
„Man wechselt nicht mitten im Fluss die Pferde“
entschieden. Jede neue Terrorattacke wird die
Wiederwahl Bushs 2004 wahrscheinlicher machen,
denn sie wird es den Republikanern ermöglichen,
alle Formen normaler politischer Opposition als
Mangel an Patriotismus zu bezeichnen. In ihrem
Interesse liegt die permanente Militarisierung des
Staates, wie sie Orwell in 1984 beschrieben hat
und wie sie der Titel von Gore Vidals jüngstem
Buch andeutet: Ewiger Krieg für den ewigen
Frieden.
Man sollte meinen, die Opposition würde diese
Strategie des Machterhalts aufdecken. Insbesondere
sollte man erwarten, dass sich die Demokraten
empören über Ashcrofts Frontalangriff auf die
Bürgerrechte. Aber die Demokratische Partei ist
wie gelähmt. Sie interpretiert die hohen
Zustimmungswerte für Bush seit dem 11. September
als Indiz dafür, jede Andeutung ihrerseits, die
Regierung könne „zu hart mit Terroristen umgehen“,
müsste dazu führen, dass der Wähler sie für weich
und unkriegerisch hält. Angesichts einer
Bedrohung, mit der niemand umzugehen weiß, wagen
es beide Parteien nicht, offen mit dem Wähler zu
sprechen. Kein Politiker darf eingestehen, dass
Amerika zwar die einzige Supermacht ist, dass aber
seine Städte unvorhersehbaren Angriffen durch
nichtstaatliche Organisationen wie al- Qaida
ausgesetzt sind.
Gelegentlich merkt ein demokratischer Politiker
an, dass es vielleicht nicht schlecht wäre, wenn
ein Angriff auf den Irak auch von der UN
autorisiert wäre oder wenigstens von einigen der
ehemaligen Golfkriegsalliierten unterstützt würde.
Selbst diese schüchternen Andeutungen werden von
den Republikanern mit offener Verachtung beiseite
gewischt. Außenminister Powell zeigte diese
Verachtung, als sein französischer Amtskollege
Zweifel an Amerikas arrogantem Unilateralismus
äußerte: Der Kollege, sagte er, habe „die Vapeurs
gekriegt“ – er führe sich schwächlich und weibisch
auf. Jeder demokratische Senator oder
Kongressabgeordnete, der Zweifel an einem Krieg
gegen den Irak äußert, darf damit rechnen, dass er
von Mitgliedern der Regierung als weichlicher
Europhiler charakterisiert wird, unwürdig, ein
öffentliches Amt auszuüben in einem Land, das dem
Bösen die Stirn bieten muss.
Europhile wie ich sind natürlich entzückt, dass
Bundeskanzler Schröder und andere europäische
Politiker solchen Zweifeln immer wieder Ausdruck
geben. Wir teilen die Betroffenheit, mit der
Europäer die abenteuerliche Arroganz betrachten,
die unsere Regierung seit dem Amtsantritt von Bush
an den Tag gelegt hat. Wir sind entsetzt darüber,
dass unsere Regierung die letzten Überreste des
Wilsonschen Internationalismus aus der Politik
getilgt hat – und nun darauf bestehen, dass US-
Soldaten nie unter dem Kommando eines Ausländers
stehen werden und dass US-Kriegsverbrecher nie vor
einen internationalen Gerichtshof kommen dürfen.
Doch können wir uns des Gefühls nicht erwehren,
dass auch die Europäer nicht wissen, was man tun
sollte, und dass viele europäische Intellektuelle
sich auf die Kritik an den USA beschränken, ohne
viel über die langfristige Verteidigung der
Zivilisation gegen den Terrorismus sagen zu
können.
Europa hat viel mehr Erfahrung mit dem Terrorismus
als wir. Allerdings liegen die Aktivitäten der RAF
und vergleichbarer Organisationen schon eine Weile
zurück. Und den Megaterrorismus à la 11. September
hat Europa noch nicht erlebt. Wahrscheinlich kommt
das bald. Denn der Westen ist insgesamt verhasst,
nicht nur in Gestalt der USA. So werden
wahrscheinlich eines Tages Berlin, Paris oder
Madrid den Schock erleben, der im letzten
September durch New York ging. Diejenigen, die das
World Trade Center zerstört haben, könnten es
ebenso befriedigend finden, den Prado oder den
Eiffelturm, den Potsdamer Platz oder Westminster
in die Luft zu sprengen oder dort Seuchenkeime
auszustreuen. Der Unterschied zwischen einer
unerträglich arroganten und ungeheuer reichen
Nation von Ungläubigen einerseits und diversen
kleineren, sehr viel verbindlicher auftretenden,
etwas weniger reichen Nationen von Ungläubigen
andererseits mag für jene, die Bin Ladens großen
Erfolg nachahmen wollen, nicht allzu bedeutsam
sein.
Wenn der Megaterror nach Europa kommt, ist es
wahrscheinlich, dass alle europäischen
Rechtsparteien, die sich dann gerade an der Macht
befinden, die Strategie der Regierung Bush
kopieren werden. Sie werden versuchen, eine
demokratische Republik durch einen nationalen
Sicherheitsstaat zu ersetzen – einen Staat, in dem
Geheimdienste und Militär den Platz der gewählten
Volksvertreter einnehmen, wenn es darum geht, über
nationale Prioritäten zu entscheiden. Sie werden
Maßnahmen treffen, die schließlich zu einem
Orwellschen Zustand des permanenten Krieges führen
werden. Linksparteien, die gerade an der Macht
sind, wenn die Katastrophe eintritt, könnten in
Versuchung geraten, genau dasselbe zu tun. Denn
weder die Rechte noch die Linke in Europa scheinen
viel über das Problem nachgedacht zu haben, das
doch die Politiker in allen reichen Ländern
beschäftigen sollte: Wie lassen sich die
demokratischen Institutionen stärken, so dass sie
in Zeiten überleben können, da Regierungen das
nicht länger garantieren können, was Bush die
„Sicherheit des Heimatlandes“ nennt?
Das ist tatsächlich ein ganz neues Problem. Die
Zivilisation wird jetzt nicht einfach durch
abtrünnige Staaten wie Hitlers Deutschland oder
Milosevics Serbien bedroht, sondern von Menschen,
die weder im eigentlichen Sinne feindliche
Soldaten noch im üblichen Sinne Verbrecher sind.
Als Soldaten würden sie im Auftrag von
Nationalstaaten handeln und hätten dort ihre
Basis. Auch Verbrecher leben typischerweise in dem
Land, in dem sie agieren, und können von der
Polizei dieses Landes überwacht, unterwandert und
schließlich verhaftet werden. Unsere neuen Feinde
sind Menschen, die weit von unseren Grenzen
entfernt operieren, und die – möglicherweise ohne
Wissen der Regierung des Landes, wo sie sich
gerade aufhalten – nukleare oder biologische
Waffen herstellen. Sie können diese in einem
Container unterbringen, der dann auf der anderen
Seite der Welt von einem Schiff direkt auf einen
Zug verladen wird. Dann müssen sie nur dafür
sorgen, dass jemand auf einen Knopf drückt, wenn
der Waggon in einer bestimmten Stadt angekommen
ist.
Wir nennen eine solche Person einen „Terroristen“,
weil wir keinen besseren Ausdruck kennen, aber wir
haben im Grunde keinen Begriff davon, welche
Institutionen, welche Formen politischer Praxis
wir bräuchten, um mit ihr fertig zu werden. Weder
Armeen noch Polizeiapparate sind hier tauglich. Es
hat sich herausgestellt, dass es nur einige zehn
Millionen Dollar und ein paar zum Selbstmord
bereite Leute braucht, um eine Organisation zu
schaffen, bei deren Auftritten es den Westen kalt
überläuft. Eine solche Organisation muss keine
Regierung kontrollieren oder auch nur mit einer
Regierung verbündet sein. Die Katastrophen, die
reiche Monomanen wie Bin Laden herbeiführen
können, gleichen eher Erdbeben als den klassischen
Versuchen von Nationen, ihr Territorium zu
vergrößern, oder von Verbrechern, reich zu werden.
Wir stehen ebenso hilflos vor diesem Problem wie
vor dem nächsten Hurrikan.
Wenn wir solchen Angriffen nicht zuvorkommen
können, so können wir sie doch immerhin überleben.
Wir mögen sogar die Kraft haben, unsere
demokratischen Institutionen selbst dann zu
behalten, nachdem klar geworden ist, dass unsere
Städte nie mehr unverletzlich sein werden. Wir
können vielleicht an den moralischen
Errungenschaften festhalten – den Fortschritten in
politischer Freiheit und sozialer Gerechtigkeit –,
die der Westen in den letzten Jahrhunderten
erlangt hat, selbst wenn sich so etwas wie der 11.
September Jahr für Jahr wiederholt. Aber das
gelingt uns nur, wenn die Wähler ihre Regierungen
davon abhalten, ihre Länder auf permanente
Kriegführung einzustellen – sie davon abhalten,
eine Situation zu schaffen, in der weder die
Justiz noch die Medien Organisationen wie das FBI
aufhalten können, nach Belieben vorzugehen und in
der das Militär den allergrößten Teil der
nationalen Ressourcen für sich beansprucht.
Die Erfahrungen, welche die USA im letzten Jahr
gemacht haben, sind nicht ermutigend. Aber sie
können als Warnung dienen. Vielleicht werden die
Europäer die Zeit, die ihnen bleibt, bis der
Megaterrorismus nach Europa kommt, darauf
verwenden, nachzudenken, wie sie es besser machen
könnten.
Der Autor lehrt Literatur und Philosophie in
Stanford. Im nächsten Jahr erscheint sein Buch
„Pragmatism as Hope“ (Cambridge UP). Auf deutsch
wurde zuletzt „Wahrheit und Fortschritt“ (Suhrkamp
2000) veröffentlicht.
Deutsch von Joachim Kalka
http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artikel1175.php
__________________________________________________________________
Gesendet von Yahoo! Mail - http://mail.yahoo.de
Möchten Sie mit einem Gruß antworten? http://grusskarten.yahoo.de