[rohrpost] Klaus Theweleit über den 11. September
Maria Schmucker
fullyfledged@yahoo.de
Wed, 11 Sep 2002 14:17:01 +0200 (CEST)
Bilder vom Einsturz der Welt
Über die Liveschaltungen der Fernsehkanäle stellten
die Attentäter vom 11. September eine Verbindung zu
den Hirnen der Zuschauer auf der ganzen Welt her.
Der Ort des Anschlags war nicht allein New York -
er geschah in unseren Wohnzimmern!
von KLAUS THEWELEIT
Wenn Bilder nur Abbilder wären, mediale
Wiedergaben einer real existierenden Dingwelt und
nicht eine Realität für sich selbst, hätte die
Welt am Fernseher die zusammenbrechenden Türme
nicht wirklich gesehen, sondern nur als Abbildung
eines in New York geschehenen Realen. Zutreffend
ist etwas anderes: Die Augenzeugen des Crashs der
Türme in New York haben etwas anderes gesehen als
die Menschen der Welt an den Fernsehschirmen, aber
beide etwas vollkommen Reales. Das Mitgefühl, das
fast alle Staatschefs der Welt spontan den
Amerikanern, den Opfern wie der Regierung,
aussprachen, war eine Reaktion auf die
Fernsehbilder. Es war deren kühl kalkulierte
Eindringlichkeit, die überlegte und überlegene
"Inszenierung" des Unvorstellbaren, die etwa
Norman Mailer dazu brachte, dem Anschlag außer
Monstrosität "Brillanz" zu attestieren; und die
Karlheinz Stockhausen dazu verleitete, die Bilder
vom Anflug und Einschlag der Flugzeuge gleich ganz
als Kunstwerke aufzufassen und als solche zu
bewundern.
Die Reaktion der Staatschefs, die Reaktion Fidel
Castros, vor dem Fernseher stehend - denn man
setzt sich nicht beim ersten Anblick des
Ungeheuren -, wie auch die Reaktionen aller
"normalen" Fernsehzuschauer hatten genau den
gleichen Grund: Entsetzen und ungläubige
Bewunderung für die bildliche Souveränität dieses
Terrorakts, der in seiner medialen
Hyperkonstruiertheit als Nie-Gesehenes in die
Augen fuhr, ins Hirn sich einbrannte und ins Herz:
im gleichzeitigen schneidenden Wissen, dass dort
soeben tausende Menschen in der Schmelzhitze der
Kerosinexplosion verglüht waren, eingeäschert.
Kommentatoren, die erschreckt die Filme
auflisteten, in denen sie Ähnliches oder sogar
Gleiches bereits gesehen hatten, wussten meist
nicht und sind bis heute eher ratlos, was diese
Listen eigentlich sagen oder bedeuten. Was
vielmehr alle sahen, wo sie sich auch befanden,
waren Bilder, die sie noch nie gesehen hatten, und
die alle überforderten. Im TV waren es Bilder
höchst intensiver Realität. Sie warfen die
Aufnahmeinstanzen des Hirns über den Haufen, wie
sie auch die politischen Lager für den Moment
auflösten. Nicht nur die Verbündeten, sondern alle
Staatschefs sprachen ihr Mitgefühl aus - bis auf
Saddam Hussein, der seine Gründe hat.
Die Menschen, die in New York die Einschläge und
den Einsturz der Türme von der Straße aus sahen,
sahen im Vergleich dazu etwas ganz anderes, sie
hörten und rochen auch etwas ganz anderes: Feuer,
Rauch, Lärm, Schreie, Tränen, unentscheidbar, ob
es sich um den Einsturz der Türme handelte oder
den Einsturz der Welt. Sie sahen nicht die klaren
Bilder der Kameras "über den Dächern von New
York", die brennenden Türme in der Silhouette
Manhattans, sie wussten zu einem großen Teil nicht
einmal, was passiert war.
Keineswegs sahen die Augenzeugen in New York die
Realität des Einsturzes, sie sahen eine andere
Realität als die an den Schirmen, und sie
reagierten anders auf sie. Und keineswegs löscht
oder übertrumpft diese Realität die Realität des
Einschlags in Augen und Hirne der Menschen am
Fernseher: Das belegen gerade die spontanen Sätze:
"Nichts wird mehr sein, wie es vorher war", und
"Hiermit hat das 21. Jahrhundert begonnen"; sie
sind klare Resultate des Fernsehbilds, formuliert
und geteilt von einer Mehrheit der TV-Seher. Eine
bestimmte Qualität des Fernsehbildes muss sie
erzeugt haben; sie entstanden am Fernseher und
führten zu der von vielen Zuschauern beschriebenen
"Sucht", die Bilder vom Einschlag und Einsturz
wieder und wieder anzusehen. Als Schwellenbilder
zum Eintritt in das neue Jahrtausend.
Was alles einbrach. Ein älterer Freund, jahrelang
mit Alkoholproblemen befasst und nun trocken,
berichtet, er habe im Trockenwerden mühsam ein
inneres Gerüst aufgerichtet, eine Art Korsett, an
dem sich sein neues Leben stabilisiert. Es sei
aber sehr labil; man trinkt zwanzig Jahre keinen
Tropfen und arbeitet doch ständig an der Sucht.
Und schützt das Gerüst und baut es aus in dem, was
man täglich sagt, denkt und tut. Beim Crash des
zweiten Turms des World Trade Center sei dies
Gerüst in ihm zusammengebrochen, sagt er, lautlos
und in großer Staubwolke; er habe das Gefühl
gehabt, die Welt verliere ihr Gerüst und breche
zusammen.
Ähnlich persönlich getroffen habe ich eine ganze
Reihe von Leuten erlebt, Jugendliche, denen die
World-Trade-Center-Türme als Wahrzeichen eigener
hochfliegender Amerikaträume tiefer in die eigene
Psyche gegraben sind als die Freiheitsstatue.
Leute jeden Alters und Geschlechts konnten sich
ähnlich äußern, ohne dass deswegen ihre politische
Urteilskraft ausgesetzt hätte; ohne dass die
besonderen Arten ihres Getroffenseins ihr
Mitgefühl mit den Opfern behindert oder sie sich
gar mit diesen verwechselt hätten. Wir
funktionieren längst auf den Schienen
verschiedener Parallelrealitäten, zwischen denen
wir hin- und hergehen oder auch "schalten" können.
Unsere psychischen Apparate und unsere
Denkapparate arbeiten längst schon in solcher
Multiplität. Keine dieser Realitäten ist
prinzipiell realer oder auch irrealer als eine
andere. Sie existieren allerdings in Graden
verschiedener Intensität; manche sind bedeutender,
andere unwichtiger, das differiert von Person zu
Person. Was man im Kino sah, liegt in völlig
verschiedener Gewichtung vor in den Einzelnen; es
ist aber nicht irrealer oder gar "illusionärer"
als das, was in New York passierte. Oder als das,
was in Attas, des Attentäters, Hamburger
Studentenzimmer passierte, oder als das, was die
Einzelnen, Fidel Castro, Sie, ich oder der Freund
mit dem inneren Gerüst am Fernseher sahen.
Der Fernseher wirkte wie ein Bildverstärker in
diesem Fall. Man begriff, dass die
Durchschlagskraft der Fernsehbilder vom Crash
nicht zufällig war, sondern eine absichtsvoll
produzierte. Man "begriff" sofort, wie Absichten
und Ziele des Anschlags ihren perfekten bildlichen
Ausdruck gesucht und gefunden hatten; ein Umstand,
der viele von "Inszenierung" sprechen ließ, von
einem quasi-"artistischen" Ereignis. Man
"begriff": Die Flugzeuge waren zu
unterschiedlichen Zeitpunkten gekapert worden, um
zeitversetzt in die Türme zu rasen. Wissend, die
Kameras aller Stationen und aller Privatmenschen
auf den Dächern und in höheren Stockwerken würden
auf das Unglück in Turm eins gerichtet sein, wenn
der zweite Jumbo in Turm zwei raste: den Vorgang
als geplanten Mordanschlag enthüllend. Ungewollt
live zugeschaltet zur spektakulär ausgestellten
Ermordung tausender. Fieser und effektiver ist man
noch nie als TV-Zuschauer zum Teilnehmer eines
medialen Mordtheaters gemacht worden. Gleichzeitig
informiert über die Parallelaktion am Pentagon;
und teilinformiert über das vierte Flugzeug, das
abgestürzte, dessen potenzielle Ziele sich jeder
am TV gleich selbst ausmalte: Weißes Haus oder AKW
Harrisburgh. Effektiver haben noch nie Terroristen
mit "unseren Köpfen" gedacht; die TV-Zuschauer
gezwungen, selbst die Ziele des Terrors
anzuvisieren, die sie gewählt hätten, wären sie an
Stelle der Terroristen. Der größte gewählte
Schrecken, Harrisburgh, erwies sich später als die
zutreffendste "Wahl". Harrisburgh hätte es sein
sollen. Womit die Inszenatoren des Attentats vom
11. September auch noch den Schrecken von
Tschernobyl eingebaut hätten; ein Gesamtattentat
im Götterdämmerungssinn. Zudem unüberbietbar im
Symbolischen; es sei denn, die Amerikaner
bombardierten die Kaaba in Mekka. Es bleibt einem
gar nichts übrig, als auch diese drei "Ebenen",
die des Massakers an "Stellvertretenden", die des
religiösen Selbstopfers und die der Abrasur eines
Großsymbols, als gleich real und gleich wirksam zu
betrachten.
Die Reaktion der Welt auf diese im Fernsehbild
höchst vereinten und exakt sichtbar gemachten
verschiedenen Seiten des Anschlags hat dies auch
genau gezeigt. Es wurde begriffen, dass dies der
seltene (und vielleicht erstmalige) Moment war, in
dem die verschiedenen Realitätssegmente eines
weltbewegenden Ereignisses erstmals am besten in
einem Fernsehbild zu sehen waren. Verdichteter und
genauer als am Ort des Geschehens selbst. Oder,
noch genauer: Der Ort des Geschehens war nicht
allein New York und die Türme des World Trade
Centers, Washington und das Pentagon, sondern der
TV-Bildschirm, mit dem wir zusammengekoppelt waren
durch die Liveschaltung, die die Attentäter durch
ihr Timing und die ganze Anlage dieses
Großattentats mit uns, den Hirnen der
Fernsehzuschauer der Welt hergestellt hatten.
Dieses Attentat geschah bei uns zu Hause,
unabweisbar, und die sensibleren Leute reagierten
darauf. Nicht nur mit dem Gedanken, dass dies das
Ende der Unverletzlichkeitsfantasie sei, mit der
Amerika und die westliche Welt sich seit
Jahrzehnten gegen das zunehmend bedrohliche
Drittweltwesen und andere Aliens immunisieren;
sondern in der Gewissheit, selbst getroffen worden
zu sein in den eigenen, persönlichen Sicherungs-,
Abwehr- und Immunsystemen verschiedenster Art. Die
sonstige Gewissheit, vom laufenden "Weltprozess"
letztendlich doch nicht substanziell betroffen zu
sein, verglühte mit den Ermordeten des Attentats
von New York. Denn auch körperlich hätte man
selbst an Stelle eines der Toten sein können; eine
Frage des Zufalls, wann man selbst auf den Türmen
stand. Das touristische Innenleben der
Westweltstaaten rückte auf die Liste möglicher
terroristischer Ziele; das trifft tief, denn nur
eines sind wir wirklich alle: Weltreisende.
Zu Recht ist bemerkt worden, dass ein Anschlag
aufs Pentagon allein diese Folge niemals gehabt
hätte. Er wäre verbucht worden als kriegerischer
Akt eines besonderen frechen Kalibers; niemand
aber hätte "das 21. Jahrhundert" damit wirklich
anfangen sehen. Dies blieb den Fernsehbildern vom
WTC-Crash vorbehalten, den Bildern, nicht dem
Einschlag selbst.
Was die Einzelnen und die westliche Öffentlichkeit
so nachweislich stark getroffen hat, war nicht der
Vorfall an den Hochhäusern, es war der Vorfall
unserer Koppelung mit dem TV-Schirm in einer
mörderischen Liveschaltung, die uns die Basis
unserer politischen wie persönlichen Immunsysteme
entzog; die Schaltung, die uns zu Teilnehmern
dieser Großinszenierung eines Mordspektakels
machte; die hoch aufgeladene Realität einer TV-
Schaltung, die wir sonst, in läppischen Big-
Brother-Shows als Reality TV unter Kontrolle zu
haben glauben, in leichtfertiger
Immunisierungsgewissheit.
Die ungekürzte Fassung dieses Textes erscheint am
17. 9. in Klaus Theweleits neuem Buch "Der Knall -
11. September, das Verschwinden der Realität und
ein Kriegsmodell" (Verlag Stroemfeld/Roter Stern)
http://www.taz.de/pt/2002/09/11/a0108.nf/text
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