[rohrpost] OT: Kanon der 35 Filme
Lutz Bonneberg
bonneberg at brennlabor.de
Die Jul 22 20:13:45 CEST 2003
Florian Cramer wrote:
> Am Montag, 21. Juli 2003 um 11:43:50 Uhr (+0200) schrieb Jan Ulrich
> Hasecke:
>
>> Doch eine Sehschule ist sicher dringend notwendig. Wir verlernen
>> nämlich momentan das Sehen von Filmen, immerhin eine der größten
>> Kulturleistungen des 20. Jahrhunderts.
>
> Diese Diagnose habe ich auch von einem bekannten Filmkritiker gehört,
> der von einer Universität einen Lehrauftrag erhalten hatte und
> schockiert war, daß selbst gebildete Studenten kein historisches
> Filmwissen besitzen und nur kennen, was sie in den letzten fünf Jahren
> im Kino gesehen haben. Der Niedergang des Kinoverleihs und der Programm-
> bzw. Offkinos seit den 1990er Jahren (die heute ja auch nur noch sog.
> "Arthouse"-Mainstreamware spielen) und die Nivellierung der ersten bis
> dritten öffentlich-rechtlichen Fernsehrogramme zu Musikantenstadl-,
> Talkshow- und Regional-Sendern ist vermutlich schuld.
>
> Hinzu kommt, und damit sind wir wieder on-topic in der rohrpost, daß der
> 35mm-Kinofilm eine Technik bzw. ein Medium ist, dessen Untergang naht.
> Daß mit der Photochemie auch die tradierte Erzählsprache des Kinofilms
> verschwindet, zeigt sich in den ersten Applikationen digitaler
> Videotechnik sowohl von "unten", als auch von "oben", d.h. einerseits im
> No/Low Budget-Film, der zunehmend auf DV gedreht wird (und die
> Dogma-Filmen als Avantgarde hat), andererseits von Big
> Budget-Blockbustern wie "Star Wars", dessen letzte Folge komplett
> digital gedreht (und z.B. im Berliner Zoo-Palast mit einem
> Hochleistungs-Beamer digital projiziert) wurde.
Auch wenn die bisherige Diskussion eher in die Richtung Technik und MTV und
die Vorläufer seiner Ästhetik (Videokunst) gelaufen ist, möchte ich noch
einen anderen Punkt anbringen.
Im Rahmen meiner Prüfungsvorbereitungen zum Thema Remake bin ich auf einen
Beitrag von Ernst Schreckenburg gestoßen, welcher der Filmrezeption ab der
Übertragung auf den Video- und Fernsehmarkt eine Veränderung zuschreibt. Im
Zuge der Fernbedingung (eines meiner Meinung nach noch zu wenig untersuchtes
Medium) hat das An/Aus, Einsteigen/Austeigen in einen Film sich auch in
wahrnehmungspsychologischer Hinsicht verändert. Schreckenburg verbindet dies
in seinem Aufsatz mit (Achtung, bitte tief durchatmen!) der Postmoderne.
Dieses "Rendevouz der Sinne" hat auf primär visueller Ebene im Film der 80er
Jahre statt gefunden (David Lynchs Filme, Blade Runner ... you name it), wo
das lyotardsche "zitierende Formen- und Farbenflimmern" u.a. kombiniert
wurde mit höherer Schnittgeschwindigkeit und Veränderung der klassischen,
sich langsam aufbauenden Dramaturgie auf quasi einzelne, wie an einer
Perlenkette aufgeschnürte, für sich selbst wirkende Minisquenzen usw.
Eine Darstellung, wie sie bei MTV in den 80ern ja auch Eingang in die
Alltagskultur gefunden hat (Blue Velvet hat ja damals kaum einer
'verstanden' - Videoclips anscheinend schon). Vielleicht verliert die
kommende Generation doch die Fähigkeit sich längeren Filmen auszusetzen, so
wie sie auch Google als seriöse Hauptquelle für ihre Hausarbeiten nimmt,
statt Bücher zu wälzen ... ;)
Auch wenn die Diskussion über das Phänomen "Postmoderne" vielen auf der
Liste leidig sein mag, vielleicht hat der eine oder andere doch noch einen
konstruktiven Kommentar dazu übrig.
Gruss
Lutz