[rohrpost] Das Artefakt als Droge - Zur Tektonik des Addiktiven
Holger Schulze
schulze at udk-berlin.de
Fre Jun 27 15:03:56 CEST 2003
hallo liebe mitgelistete ,
anbei der text eines vortrages zu fragen des medialen raumes ,
der theorie und der sucht , den ich am donnerstag vor einer woche
bei der tagung 'Sucht - Rausch - Ekstase' der Gesellschaft für
Historische Anthropologie der Freien Universität Berlin
gerhalten habe .
viel vergnügen & gedanken beim lesen
wünscht :
holger schulze
Das Artefakt als Droge
Zur Tektonik des Addiktiven
von Holger Schulze
online :
http://mediumflow.editthispage.com/stories/storyReader$66
(Vortrag für die Tagung 'Sucht - Rausch - Ekstase' der Gesellschaft
für Historische Anthropologie in Zusammenarbeit mit dem
Interdisziplinären Zentrum für Historische Anthropologie, Clubhaus
der Freien Universität Berlin, Berlin 19. Juni 2003)
"Ich habe wieder angefangen zu trinken. Aus irgendeiner unbedachten
Situation heraus.
Ein richtiger Vollrausch, das ist, als käme jemand in Deinen Körper
zu Besuch und macht durch Dich Dinge, die Du selber niemals tun
würdest -
und das sind schöne, unglaubliche Dinge; und Du genießt es.
Und Du wirst später davon erzählen, als hättest Du diese Dinge
selbst erlebt und vollbracht.
Danach wirft er die leblose Puppe, die Du geworden bist, bei Dir vor
die Haustür." [1]
Drogenleben
Selbstverlust und Selbstaufgabe, Wünsche nach Kontrollverlust und
Fremdsteuerung. Eine Selbsterneuerungshoffnung spricht aus diesen
Zeilen. Eine Erlösungs-, Erleuchtungs- und Erkenntniseuphorie. Die
Suche nach _der_ Einen, Substanz - _dem_ einen, Wissen oder Wesen,
das alles ändern könnte, alles auflösen würde: jedes Rätsel, alle
Hemmnisse, jeden Zweifel. Sind wir süchtig, so suchen wir genau
_das_: Die Wahrheit. Größte Droge für uns, irgendwo da draussen.
Sagen wir nicht, wir, die wir hier versammelt sind, wären
ungefährdet. Sind wir nicht eher sogar besonders suchtgefährdet? Die
Wissenschaften, leiden sie nicht sogar viel nachhaltiger,
tiefgreifender an diesen messianischen Sehnsüchten? Zu kulturellen
Formen auskristalliert in Bewertungskriterien, Peer-Reviews und
Gepflogenheiten des Betriebs; in Methodologien, Übungskursen des
Bibliografierens und Codices für gutes wissenschaftliches Verhalten:
Maßnahmen allesamt, um den Drogenmarkt zu konsolidieren.
Wahrheitsdealer wir - und Süchtige ineins.
Wir brauchen diese Droge, schätzen sie über alle Maßen. Genießen
ihren Gebrauch. Auf chemische Substanzen ist Drogengebrauch schon
lange nicht mehr begrenzt. _Addiktives Verhalten_ kann sich auf
viele Objekte, Personen oder Prozesse richten. Und: Mediale
Artefakte sind derzeit die viel stärkeren, wuchtigeren Drogen.
Weltweit verfügbar, unmittelbar wirksam, unbegrenzt zu dosieren in
ihrer existenzverändernden Wirkung. Und zudem kaum kriminalisiert.
Sie bilden Gemeinschaften, genau wie chemische Drogen auch;
stabilisieren unsere Gesellschaften, konfirmieren diese durch
gemeinsame Einnnahme der Droge - was auch für Chemisches gilt. [2]
Nur: Diese Drogen, Objekte, Klangfolgen, Bildwelten, Sprachräume,
sind unsere Lebensmittel. Ohne sie keine Kultur in den G8-Staaten
und ihren Rohstofflagern, Absatzmärkten.
Mediale Drogen umfangen uns mit den Kräften ihrer Statik, ihrer
Wirkweisen und Attraktionen, Einflüsse und Kraftlinien durchzittern
uns, laufen durch unser hervorbingendes Handeln hindurch. Ihr
Imaginarium, dieses Spannungsgebilde, folgt einer kunstvoll
abgestimmten, beweglich gelagerten Tektonik aus Reiz und Entzug,
Bestätigung und Wechsel. Schnellen Bewegungen und langwährender
Vertrautheit.
Diese Lebensform trägt uns, auch in diesem Raum hier, jetzt. Es
treibt uns an, hält uns am Leben, im Beruf, addiktive Artefakte zu
suchen, zu begehren und der Genuss unserer Abhängigkeit,
hingebungsvoll angenommenen, schafft eine Konzentration unserer
Tätigkeit, eine stärkende Euphorie. So kostbar dieses Glück, so
persönlich dieses Erleben, dass unser Umgang damit unwillkürlich
sehr vorsichtig und präzise gerät, beharrlich und angemessen. [3]
Die addiktive Bezugnahme
Gibt es also eine _gute_ Droge?
Genausowenig wohl wie es eine schlechte gibt. Wir erleben vielmehr:
Diese kulturell tragende Form des Drogengebrauchs lässt uns Dealer
und Produzierende als wohltätig erkennen. Freuden der Selbstaufgabe
und des Entscheids zu einer Fremdsteuerung. Die Hingabe an
Substanzen, Wesen, ausserhalb von uns. Zustände der _Addiktivität_.
Ein instruktives Modell, wie Spannungsverhältnisse in addiktiven
Bezügen zu verstehen sind, finden wir gleichfalls ausserhalb der
Süchte. Die _klinische Hypnose_ [4] - mächtige Quelle in der Genese
der Psychologie [5] - umfasst sowohl therapeutisch wirksame
Praktiken als auch eine Begrifflichkeit zur Beschreibung von
temporärer Abhängigkeit. Diese Form der Selbstaufgabe ist
heilpragmatisch anerkannt, gesellschaftlich nobilitiert dadurch -
ganz im Gegensatz zu alltäglichen, chemischen Drogen wie Kokain,
Amphetamine und Haschisch, ganz zu schweigen von Alkohol, Koffein,
Tabak.
Die Abhängigkeit eines oder einer Hypnotisierten von einer oder
einem Hypnotisierenden beschreibt die klinische Hypnose als
_Rapport_. Rapport nennt sie die Verbindung zwischen beiden, die
mehr ist als nur eine konzentrierte Aufmerksamkeit aufeinander, ein
Sich-Ineinander-Versenken oder eine Empathie. Die Lehrbuchmeinung,
wie auch die Erfahrung der Hypnose-Praxis, zeigt, dass im abhängigen
Zustand des Rapports die alltagspraktische Reserviertheit, die
Skepsis, das Misstrauen gegenüber Vorschlägen, Handlungsanweisungen
oder Einflüsterungen eines Gegenübers fehlt. Im addiktiven Bezug zu
unserem Hypnotiseur _glauben_ wir, was er sagt - und wir bemerken
das sofort als ungewöhnlich. Doch meinen wir sehr genau zu wissen:
Sie oder er, sie können uns nicht übel wollen. Wir vertrauen,
bedingungslos, unbegrenzt, da genau nicht begründet in begrifflicher
Abwägung.
Nicht kohärente Äusserungen, keine semantischen Überprüfungen oder
konsistente Conclusio bringt uns zu unserer Übereinstimmung mit dem
Gegenüber; wir gelangen jedoch in einen gemeinsamen Fluss
haptischer, klanglicher, rhythmischer und visueller Intensitäten.
Ein medialer Fluss etabliert sich, in dem beide Protagonisten,
Hypnotisierende und Hypnotisierte, sich bewegen. Beide geben ihre
Selbststeuerung auf - der Hypnotisierende etwas erfahrener,
souveräner im Umgang damit -, ein gemeinsames, Aggregat des Handelns
bildend, wechselseitige Hingabe.
Ein zusammenhängendes Spannungsgebilde, ein Fluss der _Kohäsionen_
[6] bildet sich: Die Reaktionen des anderen ahnen uns voraus,
Strömungsbewegungen, Oberflächenspannungen der Umgebung kennen
unsere Seele; wir lassen uns von ihm oder ihr fahren, bedienen - als
wären wir ein Fahrzeug mit anderem Fahrer. Falls der Weg dahin uns
gut vertraut ist, gelangen wir in diesen Fluss durch
widerstandsarme, liebende Konzentration auf unser Gegenüber,
ansonsten hilft ein frappierender, die Wahrnehmung aufrüttelnder
Stoß: Habitusformen grenzziehender Identitätsbildung werden darin
kurzfristig ausser Kraft gesetzt und dieser Schock macht es leicht
in einem Zeitriss der Unbeherrschtheit, unsere Indeterminiertheit in
einen gemeinsamen Puls der Kohäsion zu überführen.
In der addiktiven Bezugnahme erleben wir uns - falls wir dies nicht
ohnehin schon kennen - in einem Zustand gesteigerter Rezeptivität
und Suggestibilität. Unser Spannungsabfall lässt Instanzen
kritischer Bewertung ausfallen, nicht mehr Bedeutung von Gesten,
Worten, Äusserungen bewegt uns, schon ihrer Obeflächengestalt, ihrer
Spannung glauben wir. Wir glauben die Begeisterung, das Zögern des
Anderen, übernehmen gedankliche, emotionale Impulse allein durch
Kohäsion - Sind es doch unsere eigenen!
Unser Gegenüber entscheidet über unser Handeln und wir erkennen
darin Erlösungs- und Erleuchtungserfahrungen. Berichte von
Sinnessteigerungen und Bewusstseinserweiterung, fühlen uns auf
leiblich tiefreichende Weise angerufen von ephemeren Reizen -
physisch unmittelbar wirkt die Umgebung auf unser Handeln. Lassen
uns führen.
Ist dies neu für uns, so erfahren wir eine beglückende, heilsame
Entlastung von Selbstverantwortung. Genussreich fremdbestimmt fühlen
wir uns am Ziel messianischer Suche angekommen. Wahrheit, Heiliger
Gral. Parsifal. Droge. Faust.
Theoriedrogen
Addiktive Bezüge - durch chemische, mediale oder personale Drogen -
legitimieren psychosozial einen Kontrollverlust. Wir dürfen von den
Verantwortungs- und Konsistenzforderungen an unsere Person absehen,
die der Aktivitäts- und Autonomieimperativ sonst vorgibt.
Erleichtert dürfen wir uns hingeben, aufgehen in Wonnen der
Fremdsteuerung und Abhängigkeit. Zu selten erfüllte Heilserwartung,
immanent erlebte, transzendierende Erfahrung.
Wie aber geraten wir in einen solchen addiktiven Fluss hinein? Wie
erzeugen Produzierende von Artefakten solche Spannungsgebilde, die
unmittelbar addiktiv auf uns wirken? Uns in kohäsiven Fluss,
beglückenden Kontrollverlust hineinführen? Welche Kräfte wirken in
einer _Tektonik des Addiktiven_?
Die Liste süchtigmachender Objekte und Werke, Texte und Personen,
die wir untersuchen könnten, ist lang. Ich wähle einen Typus von
Artefakten, der an diesem Ort hier dominant ist: das _Theorie-
Artefakt_. Die Wirkweise solcher Artefakte möchte ich jedoch nicht
nur begrifflich ableiten. Um die Erfahrung des Drogengebrauchs
gleichfalls nachvollziehbar zu machen, werde ich fortfahren mit der
in diesem Vortrag bislang schon angewandten Darstellungsform der
_Theorie Erzählung_ [7] : Persönlich werde ich davon sprechen, wie
ein bestimmter Theoriedrogen-Typus abhängig macht, welche
Erzählungen darin die Sucht, die Heilserwartungen,
Erlösungshoffnungen anreizen können - und wie dies ein Teil des
idiosynkratisch fortschreitenden Theoriebildungsprozesses ist.
*
Zum Zeitpunkt ihres Erscheinens, etwa in den achtziger Jahren des
letzten Jahrhunderts, hat dieser Typus der Theoriedroge eine
weitreichende öffentliche Wirkung gehabt und Suchtepidemien
ausgelöst, die bis heute fortwirken. Im deutschen Sprachraum etwa
durch _Grammophon - Film - Typewriter_ [8] von Friedrich Kittler
(1986) oder Peter Sloterdijks _Kritik der zynischen Vernunft_ [9]
(1983); Christina von Brauns _Nicht-Ich_ (1985) ebenso wie Klaus
Theweleits _Männerphantasien_ (1977) oder sein _Buch der Könige_
(seit 1991). Der deutsche Sprachraum soll mein Untersuchungsgebiet
bleiben; fremdsprachige Beispiele, ihre Vorbilder waren mir damals
noch kaum bekannt.
Bleiben wir bei Kittler und Sloterdijk. Beide Artefakte beginnen mit
einem frappierenden Stoß:
"Medien bestimmen unsere Lage, die (trotzdem oder deshalb) eine
Beschreibung verdient." [10]
Und Sloterdijk:
"Seit einem Jahrhundert liegt die Philosophie im Sterben und kann es
nicht, weil ihre Aufgabe nicht erfüllt ist." [11]
Ein Schlag vor den Kopf, gestoßen in den Puls, den Puls des Autors -
ein neues Kontinuum. In Trance, in der Horizontalen. Schon die Titel
dekonstruieren ihre Vorbilder, zynische Vernunft - oder die
Begriffs-Reihe, frappierende Neologismen unterlaufen jede Erwartung
an argumentative Linearität. Hier gelten andere Gesetze!
Voller Heilserwartung, Abenteuerlust, öffneten wir diese Drogen,
überließen uns gerne der Fremdsteuerung durch eine andere Stimme:
Andere Ontologien und Methodologien, unvertraute Begriffsfiguren
wurden suggestiv mit einer Macht und Autorität vorgetragen und
hergeleitet aus dem Substrat der uns bekannten Welt. »Zynismus im
Weltprozess«, »physiognomisches«, »phänomenologisches«, »logisches«
und »historisches Hauptstück« [12] - Diogenes, Kant und die
Apokalyptik des zwanzigsten Jahrhunderts. »Verkabelung«, »Akustische
Spurensicherung«, »Goethe spricht in den Phonographen«, »Lacans
Trickfilm«, »Nietzsches Schreibkugel und seine Sekretärinnen« [13] :
Eine fremde, für uns, in den achtziger Jahren jung, frappierend-
addiktive Welt.
Nicht nur in diesen Theorie-Artefakten erfuhren wir eine Neudeutung
der Philosophie- und Theoriegeschichte, gegen den Strich. Die
Unfähigkeit von Philosophie und Theorie insgesamt wurde feststellt -
genau in dieser Feststellung der Unfähigkeit jedoch performativ
sofort wieder überwunden, eine neue hilosophie und Theorie uns
vorgeführt, erlebbar gemacht: Im Fluss von Neu-Erzählungen und
Anekdoten, Begriffszergliederungen und Referenzen, neu
hervorgeholten Unterströmungen der Geschichte und bislang
geringgeschätzten Aspekten, der Einbezug naturwissenschaftlicher,
esoterischer, erfahrungsbezogener und literarischer, intrikat
technischer Wissensformen.
Fasziniert von diesem suggestiven Strom, diesem sanften, aber
bestimmten Puls der Erzähler- und Erzählerinnenstimmen, wie neu, von
Anfang an, geleiteten uns diese Drogenproduzenten und Dealer in ihre
Denkartefakte hinein, ihre Theoriedrogen. Ostentativ und eklektisch
wurde ein medialer Fluss an- und abschwellenden Medienwechsels in
den achtziger Jahren erprobt, eine Offenbarung, eine Öffnung: Die
Urheber begaben sich mit uns, theoretisch und erzählend in eine
Nicht-Theorie-Welt hinein, streuten Illustriertentitel und
Schaltpläne in ihre Texte, historische Karikaturen, antike
Skulpturen, Werke der klassischen Moderne, der Popkultur, banden sie
an Anekdoten und berichtende Selbstreflexionen, Referate avancierter
Theorie, aphoristische Provokationen - ein pulsierender, gemeinsamer
Strom des Begehrens. Die Wahrheit versprechend, ihren heissen Atem
uns spüren lassend, sie wieder sich entziehend fühlen; angefixt.
Unversehens übernahmen wir Begriffe und Protagonisten,
Traditionslinien und Denkfiguren in unser eigenes Sprechen, unseren
kohäsiven Fluss; vielleicht kaum die Kohärenz, die begriffliche
Konsistenz dieser Theorien auch nur im Ansatz durchdringend.
Glaubten, einer überraschenden, letztlich aber vertrauenswürdigen,
von Autoritäten getragenen Tektonik zu folgen (Goethe, Kant,
Nietzsche, Diogenes) - und wurden sukzessive abgeführt, verführt,
eingeübt in ein anderes Spannungsgebilde. Die neue, addiktive
Tektonik, das Denken und Darstellen des Urhebers. Sein oder ihr
Kontinuum.
Ein Kontinuum, in dem sich, wie in der Hypnose, auch der
Produzierende selbst hinreichend weit abgegeben hat. Denn
wissenschaftliche Begierden und Obsessionen, Idiosynkrasien und
Indolenzen wurden nicht camoufliert, sondern als motivierende
Schwächen der Urheber für ihren sprachlichen Puls der Erkenntnis
nutzbar gemacht. Die neue Tektonik entstand aus diesem Druck des
Erkennen- und Wahrheit-Wollens im Wechsel mit dem Lösen und
Einschwingen in andere Partikular-Erzählungen. Persönliche
Verletzbar- und Dekonstruierbarkeiten wurden vorgezeigt - zugleich
aber souverän überformt vom Erzählen dieser Suche. Theorie
Erzählungen sind solche Drogen. Kein Heil, keine Wahrheit bieten
solche Textformen, aber suchen sie! Versprechen, sie mit ganzem
Herzen und ganzer Wucht zu suchen und ihr Entweichen darum umso
deutlicher erfahrbar zu machen. Sie weisen - so etwa in einem von
Sloterdijk bei Nietzsche geborgten Ton -, höchst verführerisch jede
Verführungs-Absicht von sich, mit einer Bescheidenheit, die Begehren
unmittelbar identifikatorisch weckt. Vertrauen in die Autorität, die
sagt:
"Ich verspreche, nichts zu versprechen, vor allem keine Neuen
Werte." [14]
Mediale Tektonik
Artefakte in medialen Räumen stehen und entstehen nicht isoliert.
Ihre Urheber bewegen sich in den Bedürfnis- und Überdruss-Feldern
der jeweiligen Gegenwart. Sie empfinden diese ebenso wie ihr
potenzielles Publikum, wissen um die Reizthemen und -worte, die
Bewegungen des Denkens, die diese beglücken könnten, Gegenstände und
Beispiele, Traditionen und Protagonisten, die erlösungshaft wirken.
Dieses Spannungsfeld aus implizit Erwünschtem und explizit
Abgelehntem eines bestimmten Rezipienten-Kollektivs bildet eine
_mediale Tektonik_, in der wir uns in jedem Moment bewegen. Auch
hier und jetzt.
Drogenproduzenten erkennen diese situativ-statischen Gesetze
medialer Tektonik als naturgesetzhaft an. Sie haben nicht das Ziel,
_gegen_ dieses Strömungskontinuum anzukämpfen, das von vielen
tausenden, millionen oder gar milliarden Personen aufrechterhalten
wird, ein mediales Kollektivwesen. Sie werfen sich nicht direkt
gegen diese Tektonik von teils globalen Ausmaßen. Vielmehr gelingt
es ihnen, sich in einem Gestus der Rebellion und der
Reinterpretation sich als neuer Pfeiler, neue Kraftreserve und
Richtkraft dieser Tektonik in dieselbe bruchlos einbauen zu lassen.
Die einzige Art, in medial-artifzialisierten Gesellschaften der
Gegenwart, Wirkung zu erlangen. [15]
Sie machen den kohäsiven Fluss der Tektonik zu ihrem eigenen,
sprechen mit der Sprache des großen Kontinuums, standing on the
shoulders of giants - und flechten dorthinein ihre Anliegen,
Empfindungslagen, Desiderate und Neu-Erzählungen, denen sie
Resonanz, also mediale Ausbreitung wünschen. Sie nutzen die
bestehenden kohäsiven Ströme und Autoritäten, die medial
ansprechbaren, globalen oder lokalen Erregungen als Trägerwellen,
denen sie ihre eigenen Sehnsüchte und Erkenntnis- oder
Erlösungswünsche mitgeben, unausgesprochen.
Es entstehen Artefakte, die Hoffnungen und Erwartungen des medialen
Kollektivs in sich aufgenommen haben, als Identifikationsobjekte
sich anbieten - und damit zur Droge werden. Charisma entfaltet sich,
Kreise von Süchtigen und Abhängigen scharen sich, verbreiten die
frohe Botschaft von der Droge. Der Produzent der Droge ist aber
abhängig. Wird konstituiert von seinen Süchtigen.
Es gibt kaum einen anderen Weg der Wirksamkeit. Wer im Einklang der
medialen Tektonik sich zu agieren weigert oder sich nur unmerklich
einfügt, wird nie als Rebell, Widerstandleistender oder Original
wahrgenommen - sondern schlichtweg gar nicht. Für die Tektonik, für
das mediale Kontinuum sind diese Personen nicht vorhanden. Die
Tektonik war stärker als er oder sie.
*
Und ausserhalb, draussen vor diesem Drogenleben; gibt es dort noch
etwas?
Ja; ein Verhalten, das weder Kultur konstituiert noch
Zivilisationen; geboren aus Ruhe, Gelassenheit derjenigen unter uns,
die wir dann wohl erleuchtet nennen müssten.
Handeln, das kaum beeindruckt, nicht spektakulär. Ohne öffentliche
Wirkung; intim. Quietistisch.
Gelöste Gespräche, am Abend, am Morgen. Nicht in der Tektonik des
Betriebes aber.
Undramatisch, langweilig, öd.
Ohne Anziehungskraft - Die größte Herausforderung. [16]
_Fussnoten_
[1] Aus dem Netznotizbuch: http://www.subjektivation.de
[2] Vgl. hierzu besonders eindrücklich: Einar Schleef, Droge Faust
Parsifal, Suhrkamp Verlag Frankfurt/M. 1997
[3] Tragende Unterströmungen und assimilierte Selbstrevisionen
verdankt dieser Vortrag drei Gesprächspartnerinnen: intensivem E-
Mail-Wechsel mit den wiener Kulturwissenschaftlerinnen und
Mitherausgeberinnen der Zeitschrift _sinn-haft_ (http://www.sinn-
haft.at) Else Rieger und Karin Harrasser, sowie einem andauernden
Gespräch mit der berliner Medienkünstlerin Marit Neeb
(http://www.maritneeb.de).
[4] Ich beziehe mich in meinen Ausführungen zur klinischen Hypnose
von theoretischer Seite her auf das Standardwerk von Dirk Revenstorf
(Hg.), Klinische Hypnose, Springer-Verlag Berlin New York 1990 - und
in meinen erfahrungsbezogenen Verweisen auf Selbstexperimente und
Gespräche mit dem Psychologen Dr.Guido Kusak.
[5] Vgl. hierzu das epochemachende Werk von Henry F. Ellenberger,
The Discovery of the Unconscious. The History and Evolution of
Dynamic Psychiatry, Basic Books New York 1970 (dt.: Die Entdeckung
des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen
Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung,
Diogenes Zürich2 1996)
[6] Definiton und Reichweite dieses zentralen Begriffes einer
Theorie der Werkgenese wird dargestellt in: Holger Schulze, Das
aletorische Spiel. Erkundung und Anwendung der nichtintentionalen
Werkgenese im 20. Jahrhundert, Wilhelm Fink Verlag München 2000,
S.23-25
[7] Zum Begriff der Theorie Erzählung: Holger Schulze, Theorie
Erzählung, in: ders.: Heuristik. Theorie der intentionalen
Werkgenese, Berlin 2002, S. 7-25
[8] Friedrich A.Kittler, Grammophon Film Typewriter, Brinkmann &
Bose Berlin 1985
[9] Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, Suhrkamp Verlag
Frankfurt/Main 1983
[10] Kittler 3
[11] Sloterdijk 7
[12] Alle Zitate: Sloterdijk 955-999
[13] Alle Zitate: Kittler 429
[14] Sloterdijk 29
[15] Wer dagegen in einem kleinen Moment der Selbstüber- oder
Fehleinschätzung des Kontinuums verstößt und im Jahre 2001 etwa
Heidegger - in der reduzierten Wahrnehmung des medialen Kontinuums -
auch nur ansatzweise als Fürsprecher der Gentechnologie erscheinen
lässt oder die Waffenindustrie des Jahres 2003 als ein
gesellschaftlich nützliches Gewerbe bewertet, wird vom Rezipienten-
Kollektiv umgehend dafür geahndet. Die Rolle des Protagonisten
verändert sich, zumindest kurzzeitig, vom schöpferischen und
exzeptionellen Denker zum etwas abseitigen, im negativen Sinne
idiosynkratischen Publizisten.
[16] Was es heissen könnte, diese Herausforderung tatsächlich
anzunehmen und ein im Gegenzug zum spektakulären Agieren in der
Öffentlichkeit alter-natives, d.h. 'anders geborenes' Leben des Öden
zu führen, das durch ein fades Handeln und Denken viel
weitreichender wirkt, dies untersucht der französische Sinologe und
Philosophe François Jullien. Vgl.: Éloge de la fadeur. A partir de
la pensée et de l'esthétique de la chine, Arles 1991 (dt.: Über das
Fade - eine Eloge. Zu Denken und Ästhetik in China. Aus dem
Französischen von Andreas Hiepko und Joachim Kurz, Merve Verlag
Berlin 1999); Traité de l'efficacité, Paris 1996 (dt.: Über die
Wirksamkeit. Aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Richard
Vouillé, Merve Verlag Berlin 1999); Un sage est sans idée. Editions
du Seuils Paris 1998 (dt.: Der Weise hängt an keiner Idee. Das
Andere der Philosophie. Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek,
Wilhelm Fink Verlag München 2001).
Dr. Holger Schulze
Universität der Künste Berlin
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