[rohrpost] Das Artefakt als Droge - Zur Tektonik des Addiktiven

Holger Schulze schulze at udk-berlin.de
Fre Jun 27 15:03:56 CEST 2003


hallo liebe mitgelistete ,


anbei der text eines vortrages zu fragen des medialen raumes ,
der theorie und der sucht , den ich am donnerstag vor einer woche 
bei der tagung 'Sucht - Rausch - Ekstase' der Gesellschaft für 
Historische Anthropologie der Freien Universität Berlin
gerhalten habe .


viel vergnügen & gedanken beim lesen 
wünscht :

holger schulze

























    Das Artefakt als Droge
    Zur Tektonik des Addiktiven



    von Holger Schulze


    online : 
    http://mediumflow.editthispage.com/stories/storyReader$66





(Vortrag für die Tagung 'Sucht - Rausch - Ekstase' der Gesellschaft 
für Historische Anthropologie in Zusammenarbeit mit dem 
Interdisziplinären Zentrum für Historische Anthropologie, Clubhaus 
der Freien Universität Berlin, Berlin 19. Juni 2003)









"Ich habe wieder angefangen zu trinken. Aus irgendeiner unbedachten 
Situation heraus.










Ein richtiger Vollrausch, das ist, als käme jemand in Deinen Körper 
zu Besuch und macht durch Dich Dinge, die Du selber niemals tun 
würdest -










und das sind schöne, unglaubliche Dinge; und Du genießt es.










Und Du wirst später davon erzählen, als hättest Du diese Dinge 
selbst erlebt und vollbracht.










Danach wirft er die leblose Puppe, die Du geworden bist, bei Dir vor 
die Haustür." [1]








    Drogenleben






Selbstverlust und Selbstaufgabe, Wünsche nach Kontrollverlust und 
Fremdsteuerung. Eine Selbsterneuerungshoffnung spricht aus diesen 
Zeilen. Eine Erlösungs-, Erleuchtungs- und Erkenntniseuphorie. Die 
Suche nach _der_ Einen, Substanz - _dem_ einen, Wissen oder Wesen, 
das alles ändern könnte, alles auflösen würde: jedes Rätsel, alle 
Hemmnisse, jeden Zweifel. Sind wir süchtig, so suchen wir genau 
_das_: Die Wahrheit. Größte Droge für uns, irgendwo da draussen.


Sagen wir nicht, wir, die wir hier versammelt sind, wären 
ungefährdet. Sind wir nicht eher sogar besonders suchtgefährdet? Die 
Wissenschaften, leiden sie nicht sogar viel nachhaltiger, 
tiefgreifender an diesen messianischen Sehnsüchten? Zu kulturellen 
Formen auskristalliert in Bewertungskriterien, Peer-Reviews und 
Gepflogenheiten des Betriebs; in Methodologien, Übungskursen des 
Bibliografierens und Codices für gutes wissenschaftliches Verhalten: 
Maßnahmen allesamt, um den Drogenmarkt zu konsolidieren. 
Wahrheitsdealer wir - und Süchtige ineins.


Wir brauchen diese Droge, schätzen sie über alle Maßen. Genießen 
ihren Gebrauch. Auf chemische Substanzen ist Drogengebrauch schon 
lange nicht mehr begrenzt. _Addiktives Verhalten_ kann sich auf 
viele Objekte, Personen oder Prozesse richten. Und: Mediale 
Artefakte sind derzeit die viel stärkeren, wuchtigeren Drogen. 
Weltweit verfügbar, unmittelbar wirksam, unbegrenzt zu dosieren in 
ihrer existenzverändernden Wirkung. Und zudem kaum kriminalisiert. 
Sie bilden Gemeinschaften, genau wie chemische Drogen auch; 
stabilisieren unsere Gesellschaften, konfirmieren diese durch 
gemeinsame Einnnahme der Droge - was auch für Chemisches gilt. [2] 
Nur: Diese Drogen, Objekte, Klangfolgen, Bildwelten, Sprachräume, 
sind unsere Lebensmittel. Ohne sie keine Kultur in den G8-Staaten 
und ihren Rohstofflagern, Absatzmärkten.


Mediale Drogen umfangen uns mit den Kräften ihrer Statik, ihrer 
Wirkweisen und Attraktionen, Einflüsse und Kraftlinien durchzittern 
uns, laufen durch unser hervorbingendes Handeln hindurch. Ihr 
Imaginarium, dieses Spannungsgebilde, folgt einer kunstvoll 
abgestimmten, beweglich gelagerten Tektonik aus Reiz und Entzug, 
Bestätigung und Wechsel. Schnellen Bewegungen und langwährender 
Vertrautheit.


Diese Lebensform trägt uns, auch in diesem Raum hier, jetzt. Es 
treibt uns an, hält uns am Leben, im Beruf, addiktive Artefakte zu 
suchen, zu begehren und der Genuss unserer Abhängigkeit, 
hingebungsvoll angenommenen, schafft eine Konzentration unserer 
Tätigkeit, eine stärkende Euphorie. So kostbar dieses Glück, so 
persönlich dieses Erleben, dass unser Umgang damit unwillkürlich 
sehr vorsichtig und präzise gerät, beharrlich und angemessen. [3]








    Die addiktive Bezugnahme






Gibt es also eine _gute_ Droge?


Genausowenig wohl wie es eine schlechte gibt. Wir erleben vielmehr: 
Diese kulturell tragende Form des Drogengebrauchs lässt uns Dealer 
und Produzierende als wohltätig erkennen. Freuden der Selbstaufgabe 
und des Entscheids zu einer Fremdsteuerung. Die Hingabe an 
Substanzen, Wesen, ausserhalb von uns. Zustände der _Addiktivität_.


Ein instruktives Modell, wie Spannungsverhältnisse in addiktiven 
Bezügen zu verstehen sind, finden wir gleichfalls ausserhalb der 
Süchte. Die _klinische Hypnose_ [4] - mächtige Quelle in der Genese 
der Psychologie [5]  - umfasst sowohl therapeutisch wirksame 
Praktiken als auch eine Begrifflichkeit zur Beschreibung von 
temporärer Abhängigkeit. Diese Form der Selbstaufgabe ist 
heilpragmatisch  anerkannt, gesellschaftlich nobilitiert dadurch - 
ganz im Gegensatz zu alltäglichen, chemischen Drogen wie Kokain, 
Amphetamine und Haschisch, ganz zu schweigen von Alkohol, Koffein, 
Tabak.


Die Abhängigkeit eines oder einer Hypnotisierten von einer oder 
einem Hypnotisierenden beschreibt die klinische Hypnose als 
_Rapport_. Rapport nennt sie die Verbindung zwischen beiden, die 
mehr ist als nur eine konzentrierte Aufmerksamkeit aufeinander, ein 
Sich-Ineinander-Versenken oder eine Empathie. Die Lehrbuchmeinung, 
wie auch die Erfahrung der Hypnose-Praxis, zeigt, dass im abhängigen 
Zustand des Rapports die alltagspraktische Reserviertheit, die 
Skepsis, das Misstrauen gegenüber Vorschlägen, Handlungsanweisungen 
oder Einflüsterungen eines Gegenübers fehlt. Im addiktiven Bezug zu 
unserem Hypnotiseur _glauben_ wir, was er sagt - und wir bemerken 
das sofort als ungewöhnlich. Doch meinen wir sehr genau zu wissen: 
Sie oder er, sie können uns nicht übel wollen. Wir vertrauen, 
bedingungslos, unbegrenzt, da genau nicht begründet in begrifflicher 
Abwägung.


Nicht kohärente Äusserungen, keine semantischen Überprüfungen oder 
konsistente Conclusio bringt uns zu unserer Übereinstimmung mit dem 
Gegenüber; wir gelangen jedoch in einen gemeinsamen Fluss 
haptischer, klanglicher, rhythmischer und visueller Intensitäten. 
Ein medialer Fluss etabliert sich, in dem beide Protagonisten, 
Hypnotisierende und Hypnotisierte, sich bewegen. Beide geben ihre 
Selbststeuerung auf - der Hypnotisierende etwas erfahrener, 
souveräner im Umgang damit -, ein gemeinsames, Aggregat des Handelns 
bildend, wechselseitige Hingabe.


Ein zusammenhängendes Spannungsgebilde, ein Fluss der _Kohäsionen_ 
[6] bildet sich: Die Reaktionen des anderen ahnen uns voraus, 
Strömungsbewegungen, Oberflächenspannungen der Umgebung kennen 
unsere Seele; wir lassen uns von ihm oder ihr fahren, bedienen - als 
wären wir ein Fahrzeug mit anderem Fahrer. Falls der Weg dahin uns 
gut vertraut ist, gelangen wir in diesen Fluss durch 
widerstandsarme, liebende Konzentration auf unser Gegenüber, 
ansonsten hilft ein frappierender, die Wahrnehmung aufrüttelnder 
Stoß: Habitusformen grenzziehender Identitätsbildung werden darin 
kurzfristig ausser Kraft gesetzt und dieser Schock macht es leicht 
in einem Zeitriss der Unbeherrschtheit, unsere Indeterminiertheit in 
einen gemeinsamen Puls der Kohäsion zu überführen.


In der addiktiven Bezugnahme erleben wir uns - falls wir dies nicht 
ohnehin schon kennen - in einem Zustand gesteigerter Rezeptivität 
und Suggestibilität. Unser Spannungsabfall lässt Instanzen 
kritischer Bewertung ausfallen, nicht mehr Bedeutung von Gesten, 
Worten, Äusserungen bewegt uns, schon ihrer Obeflächengestalt, ihrer 
Spannung glauben wir. Wir glauben die Begeisterung, das Zögern des 
Anderen, übernehmen gedankliche, emotionale Impulse allein durch 
Kohäsion - Sind es doch unsere eigenen!


Unser Gegenüber entscheidet über unser Handeln und wir erkennen 
darin Erlösungs- und Erleuchtungserfahrungen. Berichte von 
Sinnessteigerungen und Bewusstseinserweiterung, fühlen uns auf 
leiblich tiefreichende Weise angerufen von ephemeren Reizen - 
physisch unmittelbar wirkt die Umgebung auf unser Handeln. Lassen 
uns führen.


Ist dies neu für uns, so erfahren wir eine beglückende, heilsame 
Entlastung von Selbstverantwortung. Genussreich fremdbestimmt fühlen 
wir uns am Ziel messianischer Suche angekommen. Wahrheit, Heiliger 
Gral. Parsifal. Droge. Faust.








    Theoriedrogen






Addiktive Bezüge - durch chemische, mediale oder personale Drogen - 
legitimieren psychosozial einen Kontrollverlust. Wir dürfen von den 
Verantwortungs- und Konsistenzforderungen an unsere Person absehen, 
die der Aktivitäts- und Autonomieimperativ sonst vorgibt. 
Erleichtert dürfen wir uns hingeben, aufgehen in Wonnen der 
Fremdsteuerung und Abhängigkeit. Zu selten erfüllte Heilserwartung, 
immanent erlebte, transzendierende Erfahrung.


Wie aber geraten wir in einen solchen  addiktiven Fluss hinein? Wie 
erzeugen Produzierende von Artefakten solche Spannungsgebilde, die 
unmittelbar addiktiv auf uns wirken? Uns in kohäsiven Fluss, 
beglückenden Kontrollverlust hineinführen? Welche Kräfte wirken in 
einer _Tektonik des Addiktiven_?


Die Liste süchtigmachender Objekte und Werke, Texte und Personen, 
die wir untersuchen könnten, ist lang. Ich wähle einen Typus von 
Artefakten, der an diesem Ort hier dominant ist: das _Theorie-
Artefakt_. Die Wirkweise solcher Artefakte möchte ich jedoch nicht 
nur begrifflich ableiten. Um die Erfahrung des Drogengebrauchs 
gleichfalls nachvollziehbar zu machen, werde ich fortfahren mit der 
in diesem Vortrag bislang schon angewandten Darstellungsform der 
_Theorie Erzählung_ [7] : Persönlich werde ich davon sprechen, wie 
ein bestimmter Theoriedrogen-Typus abhängig macht, welche 
Erzählungen darin die Sucht, die Heilserwartungen, 
Erlösungshoffnungen anreizen können - und wie dies ein Teil des 
idiosynkratisch fortschreitenden Theoriebildungsprozesses ist.




    *




Zum Zeitpunkt ihres Erscheinens, etwa in den achtziger Jahren des 
letzten Jahrhunderts, hat dieser Typus der Theoriedroge eine 
weitreichende öffentliche Wirkung gehabt und Suchtepidemien 
ausgelöst, die bis heute fortwirken. Im deutschen Sprachraum etwa 
durch _Grammophon - Film - Typewriter_ [8]  von Friedrich Kittler 
(1986) oder Peter Sloterdijks _Kritik der zynischen Vernunft_ [9] 
(1983); Christina von Brauns _Nicht-Ich_ (1985) ebenso wie Klaus 
Theweleits _Männerphantasien_ (1977) oder sein _Buch der Könige_ 
(seit 1991). Der deutsche Sprachraum soll mein Untersuchungsgebiet 
bleiben; fremdsprachige Beispiele, ihre Vorbilder waren mir damals 
noch kaum bekannt.


Bleiben wir bei Kittler und Sloterdijk. Beide Artefakte beginnen mit 
einem frappierenden Stoß:


"Medien bestimmen unsere Lage, die (trotzdem oder deshalb) eine 
Beschreibung verdient." [10]


Und Sloterdijk:


"Seit einem Jahrhundert liegt die Philosophie im Sterben und kann es 
nicht, weil ihre Aufgabe nicht erfüllt ist." [11]


Ein Schlag vor den Kopf, gestoßen in den Puls, den Puls des Autors - 
ein neues Kontinuum. In Trance, in der Horizontalen. Schon die Titel 
dekonstruieren ihre Vorbilder, zynische Vernunft - oder die 
Begriffs-Reihe, frappierende Neologismen unterlaufen jede Erwartung 
an argumentative Linearität. Hier gelten andere Gesetze!


Voller Heilserwartung, Abenteuerlust, öffneten wir diese Drogen, 
überließen uns gerne der Fremdsteuerung durch eine andere Stimme: 
Andere Ontologien und Methodologien, unvertraute Begriffsfiguren 
wurden suggestiv mit einer Macht und Autorität vorgetragen und 
hergeleitet aus dem Substrat der uns bekannten Welt. »Zynismus im 
Weltprozess«, »physiognomisches«, »phänomenologisches«, »logisches« 
und »historisches Hauptstück« [12] - Diogenes, Kant und die 
Apokalyptik des zwanzigsten Jahrhunderts. »Verkabelung«, »Akustische 
Spurensicherung«, »Goethe spricht in den Phonographen«, »Lacans 
Trickfilm«, »Nietzsches Schreibkugel und seine Sekretärinnen« [13] : 
Eine fremde, für uns, in den achtziger Jahren jung, frappierend-
addiktive Welt.


Nicht nur in diesen Theorie-Artefakten erfuhren wir eine Neudeutung 
der Philosophie- und Theoriegeschichte, gegen den Strich. Die 
Unfähigkeit von Philosophie und Theorie insgesamt wurde feststellt - 
genau in dieser Feststellung der Unfähigkeit jedoch performativ 
sofort wieder überwunden, eine neue hilosophie und Theorie uns 
vorgeführt, erlebbar gemacht: Im Fluss von Neu-Erzählungen und 
Anekdoten, Begriffszergliederungen und Referenzen, neu 
hervorgeholten Unterströmungen der Geschichte und bislang 
geringgeschätzten Aspekten, der Einbezug naturwissenschaftlicher, 
esoterischer, erfahrungsbezogener und literarischer, intrikat 
technischer Wissensformen.


Fasziniert von diesem suggestiven Strom, diesem sanften, aber 
bestimmten Puls der Erzähler- und Erzählerinnenstimmen, wie neu, von 
Anfang an, geleiteten uns diese Drogenproduzenten und Dealer in ihre 
Denkartefakte hinein, ihre Theoriedrogen. Ostentativ und eklektisch 
wurde ein medialer Fluss an- und abschwellenden Medienwechsels in 
den achtziger Jahren erprobt, eine Offenbarung, eine Öffnung: Die 
Urheber begaben sich mit uns, theoretisch und erzählend in eine 
Nicht-Theorie-Welt hinein, streuten Illustriertentitel und 
Schaltpläne in ihre Texte, historische Karikaturen, antike 
Skulpturen, Werke der klassischen Moderne, der Popkultur, banden sie 
an Anekdoten und berichtende Selbstreflexionen, Referate avancierter 
Theorie, aphoristische Provokationen - ein pulsierender, gemeinsamer 
Strom des Begehrens. Die Wahrheit versprechend, ihren heissen Atem 
uns spüren lassend, sie wieder sich entziehend fühlen; angefixt.


Unversehens übernahmen wir Begriffe und Protagonisten, 
Traditionslinien und Denkfiguren in unser eigenes Sprechen, unseren 
kohäsiven Fluss; vielleicht kaum die Kohärenz, die begriffliche 
Konsistenz dieser Theorien auch nur im Ansatz durchdringend. 
Glaubten, einer überraschenden, letztlich aber vertrauenswürdigen, 
von  Autoritäten getragenen Tektonik zu folgen (Goethe, Kant, 
Nietzsche, Diogenes) - und wurden sukzessive abgeführt, verführt, 
eingeübt in ein anderes Spannungsgebilde. Die neue, addiktive 
Tektonik, das Denken und Darstellen des Urhebers. Sein oder ihr 
Kontinuum.


Ein Kontinuum, in dem sich, wie in der Hypnose, auch der 
Produzierende selbst hinreichend weit abgegeben hat. Denn 
wissenschaftliche Begierden und Obsessionen, Idiosynkrasien und 
Indolenzen wurden nicht camoufliert, sondern als motivierende 
Schwächen der Urheber für ihren sprachlichen Puls der Erkenntnis 
nutzbar gemacht. Die neue Tektonik entstand aus diesem Druck des 
Erkennen- und Wahrheit-Wollens im Wechsel mit dem Lösen und 
Einschwingen in andere Partikular-Erzählungen. Persönliche 
Verletzbar- und Dekonstruierbarkeiten wurden vorgezeigt - zugleich 
aber souverän überformt vom Erzählen dieser Suche. Theorie 
Erzählungen sind solche Drogen. Kein Heil, keine Wahrheit bieten 
solche Textformen, aber suchen sie! Versprechen, sie mit ganzem 
Herzen und ganzer Wucht zu suchen und ihr Entweichen darum umso 
deutlicher erfahrbar zu machen. Sie weisen - so etwa in einem von 
Sloterdijk bei Nietzsche geborgten Ton -, höchst verführerisch jede 
Verführungs-Absicht von sich, mit einer Bescheidenheit, die Begehren 
unmittelbar identifikatorisch weckt. Vertrauen in die Autorität, die 
sagt:


"Ich verspreche, nichts zu versprechen, vor allem keine Neuen 
Werte." [14]









    Mediale Tektonik





Artefakte in medialen Räumen stehen und entstehen nicht isoliert. 
Ihre Urheber bewegen sich in den Bedürfnis- und Überdruss-Feldern 
der jeweiligen Gegenwart. Sie empfinden diese ebenso wie ihr 
potenzielles Publikum, wissen um die Reizthemen und -worte, die 
Bewegungen des Denkens, die diese beglücken könnten, Gegenstände und 
Beispiele, Traditionen und Protagonisten, die erlösungshaft wirken. 
Dieses Spannungsfeld aus implizit Erwünschtem und explizit 
Abgelehntem eines bestimmten Rezipienten-Kollektivs bildet eine 
_mediale Tektonik_, in der wir uns in jedem Moment bewegen. Auch 
hier und jetzt.


Drogenproduzenten erkennen diese situativ-statischen Gesetze 
medialer Tektonik als naturgesetzhaft an. Sie haben nicht das Ziel, 
_gegen_ dieses Strömungskontinuum  anzukämpfen, das von vielen 
tausenden, millionen oder gar milliarden Personen aufrechterhalten 
wird, ein mediales Kollektivwesen. Sie werfen sich nicht direkt 
gegen diese Tektonik von teils globalen Ausmaßen. Vielmehr gelingt 
es ihnen, sich in einem Gestus der Rebellion und der 
Reinterpretation sich als neuer Pfeiler, neue Kraftreserve und 
Richtkraft dieser Tektonik in dieselbe bruchlos einbauen zu lassen. 
Die einzige Art, in medial-artifzialisierten Gesellschaften der 
Gegenwart, Wirkung zu erlangen. [15] 


Sie machen den kohäsiven Fluss der Tektonik zu ihrem eigenen, 
sprechen mit der Sprache des großen Kontinuums, standing on the 
shoulders of giants - und flechten dorthinein ihre Anliegen, 
Empfindungslagen, Desiderate und Neu-Erzählungen, denen sie 
Resonanz, also mediale Ausbreitung wünschen. Sie nutzen die 
bestehenden kohäsiven Ströme und Autoritäten, die medial 
ansprechbaren, globalen oder lokalen Erregungen als Trägerwellen, 
denen sie ihre eigenen Sehnsüchte und Erkenntnis- oder 
Erlösungswünsche mitgeben, unausgesprochen.


Es entstehen Artefakte, die Hoffnungen und Erwartungen des medialen 
Kollektivs in sich aufgenommen haben, als Identifikationsobjekte 
sich anbieten - und damit zur Droge werden. Charisma entfaltet sich, 
Kreise von Süchtigen und Abhängigen scharen sich, verbreiten die 
frohe Botschaft von der Droge. Der Produzent der Droge ist aber 
abhängig. Wird konstituiert von seinen Süchtigen.


Es gibt kaum einen anderen Weg der Wirksamkeit. Wer im Einklang der 
medialen Tektonik sich zu agieren weigert oder sich nur unmerklich 
einfügt, wird nie als Rebell, Widerstandleistender oder Original 
wahrgenommen - sondern schlichtweg gar nicht. Für die Tektonik, für 
das mediale Kontinuum sind diese Personen nicht vorhanden. Die 
Tektonik war stärker als er oder sie.






    *






Und ausserhalb, draussen vor diesem Drogenleben; gibt es dort noch 
etwas?










Ja; ein Verhalten, das weder Kultur konstituiert noch 
Zivilisationen; geboren aus Ruhe, Gelassenheit derjenigen unter uns, 
die wir dann wohl erleuchtet nennen müssten.










Handeln, das kaum beeindruckt, nicht spektakulär. Ohne öffentliche 
Wirkung; intim. Quietistisch.










Gelöste Gespräche, am Abend, am Morgen. Nicht in der Tektonik des 
Betriebes aber.










Undramatisch, langweilig, öd.











Ohne Anziehungskraft - Die größte Herausforderung. [16]


















_Fussnoten_

[1] Aus dem Netznotizbuch: http://www.subjektivation.de

[2] Vgl. hierzu besonders eindrücklich: Einar Schleef, Droge Faust 
Parsifal, Suhrkamp Verlag Frankfurt/M. 1997

[3] Tragende Unterströmungen und assimilierte Selbstrevisionen 
verdankt dieser Vortrag drei Gesprächspartnerinnen: intensivem E-
Mail-Wechsel mit den wiener Kulturwissenschaftlerinnen und 
Mitherausgeberinnen der Zeitschrift _sinn-haft_ (http://www.sinn-
haft.at) Else Rieger und Karin Harrasser, sowie einem andauernden 
Gespräch mit der berliner Medienkünstlerin Marit Neeb 
(http://www.maritneeb.de).

[4] Ich beziehe mich in meinen Ausführungen zur klinischen Hypnose 
von theoretischer Seite her auf das Standardwerk von Dirk Revenstorf 
(Hg.), Klinische Hypnose, Springer-Verlag Berlin New York 1990 - und 
in meinen erfahrungsbezogenen Verweisen auf Selbstexperimente und 
Gespräche mit dem Psychologen Dr.Guido Kusak.

[5] Vgl. hierzu das epochemachende Werk von Henry F. Ellenberger, 
The Discovery of the Unconscious. The History and Evolution of 
Dynamic Psychiatry, Basic Books New York 1970 (dt.: Die Entdeckung 
des Unbewußten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen 
Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung, 
Diogenes Zürich2 1996)

[6] Definiton und Reichweite dieses zentralen Begriffes einer 
Theorie der Werkgenese wird dargestellt in: Holger Schulze, Das 
aletorische Spiel. Erkundung und Anwendung der nichtintentionalen 
Werkgenese im 20. Jahrhundert, Wilhelm Fink Verlag München 2000, 
S.23-25

[7] Zum Begriff der Theorie Erzählung: Holger Schulze, Theorie 
Erzählung, in: ders.: Heuristik. Theorie der intentionalen 
Werkgenese, Berlin 2002, S. 7-25

[8] Friedrich A.Kittler, Grammophon Film Typewriter, Brinkmann & 
Bose Berlin 1985

[9] Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, Suhrkamp Verlag 
Frankfurt/Main 1983

[10] Kittler 3

[11] Sloterdijk 7

[12] Alle Zitate: Sloterdijk 955-999

[13] Alle Zitate: Kittler 429

[14]  Sloterdijk 29

[15] Wer dagegen in einem kleinen Moment der Selbstüber- oder 
Fehleinschätzung des Kontinuums verstößt und im Jahre 2001 etwa 
Heidegger - in der reduzierten Wahrnehmung des medialen Kontinuums - 
auch nur ansatzweise als Fürsprecher der Gentechnologie erscheinen 
lässt oder die Waffenindustrie des Jahres 2003 als ein 
gesellschaftlich nützliches Gewerbe bewertet, wird vom Rezipienten-
Kollektiv umgehend dafür geahndet. Die Rolle des Protagonisten 
verändert sich, zumindest kurzzeitig, vom schöpferischen und 
exzeptionellen Denker zum etwas abseitigen, im negativen Sinne 
idiosynkratischen Publizisten.

[16] Was es heissen könnte, diese Herausforderung tatsächlich 
anzunehmen und ein im Gegenzug zum spektakulären Agieren in der 
Öffentlichkeit alter-natives, d.h. 'anders geborenes' Leben des Öden 
zu führen, das durch ein fades Handeln und Denken viel 
weitreichender wirkt, dies untersucht der französische Sinologe und 
Philosophe François Jullien. Vgl.: Éloge de la fadeur. A partir de 
la pensée et de l'esthétique de la chine, Arles 1991 (dt.: Über das 
Fade - eine Eloge. Zu Denken und Ästhetik in China. Aus dem 
Französischen von Andreas Hiepko und Joachim Kurz, Merve Verlag 
Berlin 1999); Traité de l'efficacité, Paris 1996 (dt.: Über die 
Wirksamkeit. Aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Richard 
Vouillé, Merve Verlag Berlin 1999); Un sage est sans idée. Editions 
du Seuils Paris 1998 (dt.: Der Weise hängt an keiner Idee. Das 
Andere der Philosophie. Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek, 
Wilhelm Fink Verlag München 2001).




















 
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