[rohrpost] Was sind Sound Studies?
Holger Schulze
schulze at udk-berlin.de
Mon Nov 3 16:21:14 CET 2003
liebe liste ,
einige von euch waren ja dabei -
als nachtrag und dokumentation darum der programmatische vortrag
mit dem am letzten donnerstag das 1. symposion sound studies
eingeleitet wurde .
herzliche grüße ,
holger schulze
Was sind Sound Studies?
Vorstellung einer neuen
und zugleich alten Disziplin
von Holger Schulze
(Vortrag für das 1. Symposion Sound Studies, Medienhaus
der Universität der Künste Berlin, 30. Oktober 2003)
Wir hören:
Lautsprecher, diskret summend. Monitore und Lichtquellen mit ihrem
hochfrequenten Sirren. Ein Luftzug und ein Atmen. Hoher Nachhall,
wenn wir die Stimme erheben.
Beine und Arme bewegen, wenn wir im Publikum sitzen, sich einander
zuneigen; Worte wechseln oder kurz durch den Raum huschen.
Durch diesen Raum.
Sich weniger bewegen, Aufmerksamkeit sammeln. Warten auf Aussagen
und ruhiger werden.
Zuhören.
Fragen des Klangs
Eine Hörerfahrung. Eine Hörsituation, hier und jetzt - in dieser
Minute. An diesem Ort.
Wie beschreiben wir eine solche Erfahrung? Wie kann ich Ihnen
deutlich machen, nachvollziehbar, wie ich hier unsere gemeinsame
Hörsituation wahrnehme - und wie können Sie mir die Ihrige
Empfindung klar machen? Denn wir wissen nicht, wie der oder die
andere hört, wahrnimmt, bewertet und empfindet in einer gegebenen
Situation. Die _eine_ Situation bringt genausoviele Hörerfahrungen
hervor wie Hörerinnen und Hörer anwesend sind. Einzelne Menschen.
Wir fragen uns: Mögen wir diese Situation? Ist angenehm,
hilfreich, was wir hier empfinden können? Wollen wir nicht lieber
eingreifen, die Gestalt des Gehörten, unsere Klangumgebung
signifikant verändern? Ein temporärer, signalhafter Eingriff -
oder doch eher eine andauernde Veränderung, langfristig wirksam?
Elektromechanische Einspielungen, architektonische Adjustierungen,
dekorative Hinzufügungen? Sozial katalytische Handlungen?
Wie sähe ein Konzept aus, um diesen Raum, diese Hörsituation
umzugestalten? Und wieder: Wie können wir das akustische Konzept
anderen nachvollziehbar erläutern? Technisches, anthropologisches,
gestalterisches und künstlerisches Wissen, welches fehlt uns? -
Und anders: Eine mediale Repräsentation dieser Veranstaltung, wie
müsste sie klingen? Medienklänge wären hier anders zu konzipieren.
Ein Feature, ein Radiobeitrag, ein Clip - wo läge der Unterschied
zu unserer realräumlichen Hörsituation jetzt?
*
Fragen, die von unterschiedlichen Disziplinen gestellt und in
verschiedenen Berufsbildern beantwortet werden. Technisches und
wissenschaftliches, gestalterisches und künstlerisches Handeln und
Wissen konzentriert sich auf einzelne dieser Fragen. _Fragen des
Klangs._ Wie wir darin agieren. Und wie wir ihn verändern.
Fragen, die sich Menschen vermehrt stellen, seit Hilfsmittel wie
technische Aufzeichnung, Reproduktion, Ausmessung und
Nachbearbeitung von Klängen, allgemein verfügbar geworden sind.
Seit die Lebenswelt, in der wir uns bewegen, eine in hierarchisch
geordneten Entscheidungsprozessen, in Teams und Kommissionen, in
Briefings und Pflichtenheften, durch Meilensteine und Evaluationen
gestaltete ist. Seit wir uns kaum durch Umgebungen mehr bewegen
können, _ohne_ von Klanggestaltungen eingehüllt, aufgefordert,
überworfen oder überfordert zu werden.
Eine neue Gestaltungsaufgabe
Klänge sind Eingriffe in unser persönliches Leben.
Wir sind überrascht oder erfreut über das, was unseren Körper,
unser Empfinden und Denken durchdringt. Hörgefühle,
Denkerfahrungen. Sonische Sensationen befriedigen oder enttäuschen
unsere Wünsche, ändern unser Wohlbefinden, bringen uns dazu,
aufzuhorchen. Klänge zu studieren.
Die Wirkung von Klängen wird als _Schall_ technisch bezeichnet,
als Klangfarbe musikwissenschaftlich eingeordnet, als _Hörraum_
oder _Sample_ kulturanthropologisch oder -wissenschaftlich
beschrieben. Klangstudien bewegen sich in der jüngeren Neuzeit von
Meditationen über die Ausbreitung, die Wirkung und Erzeugung von
Klängen, über ein Erzählen literarisch-begrifflicher Zusammenhänge
des Hörens, bis hin zu Experimenten mit Klangerzeugern,
Klangdämpfern und - verstärkern elektromechanischer und
elektronischer Art.
Die audiovisuelle Gestaltung setzt musikalische Klänge funktional
ein; industrielle Produktion passt die Klanggestalt ihrer
Artefakte den vermuteten Bedürfnissen ihrer Kunden und den Re-
Briefings ihrer Auftraggeber an - zumeist am Ende eines
Entwurfsprozesses, als auditive troubleshooter.
Diese Arbeitsteilung und nicht selten ideologische Opposition
unterschiedlicher Formen von Klangwissen gelangt jedoch seit
einigen Jahren an ihre natürlichen Grenzen.
Denn die neue Gestaltungsaufgabe richtet sich nicht mehr auf
isolierte Klangquellen, Objekte und Werke, die für sich zu
untersuchen und zu gestalten wären - sondern es sind komplex
vernetzte, ineinander eingefaltete und sich durchmischende
Umgebungen, Umwelten und Artefakte, die klanglich wirken.
Umwelten in unseren Städten und Wohnungen, unter unseren
Kopfhörern und auf öffentlichen Plätzen, Benutzeroberflächen und
Interfaces. Zunehmend unsere mehrheitlichen Erfahrungsräume.
Das Wissen vom Klang
Die akustische Gestaltung als eine auf den Körper der Hörenden -
nicht auf die Möglichkeiten der technischen Apparate -
ausgerichtete _auditive_ Kommunikation, diese Klanggestaltung
braucht das Wissen aller zuvor erwähnten Wissensformen und Berufe,
die _in Klang_ arbeiten.
Die pure Notwendigkeit, kulturell-gesellschaftlich und
wirtschaftlich-urban, bringt diese auseinanderstrebenden Berufe
und Disziplinen des Klangs wieder zusammen. Es entsteht so ein
gemeinsames Berufsbild, eine neuen Disziplin: Klangumgebungen zu
untersuchen und zu gestalten - _Sound Studies / Akustische
Kommunikation_.
Die unterschiedlichen Wissensformen von Gestaltung und Technik,
Wissenschaft und Kunst kommen in den Sound Studies zusammen. Sie
bilden ein notwendiges Komplement zur etablierten _visuellen
Kommunikation_ an Kunsthochschulen und Hochschulen für Gestaltung.
Die einzelnen Disziplinen und Teilbereiche bleiben dabei jeweils
als in sich mit einiger Geschichte und Reputation ausgestattete
Wissensformen und Berufsausbildungen erhalten. Doch erst eine
systematische Zusammenführung von _Klanganthropologie und -
ökologie_ mit _Experimenteller Klanggestaltung_, mit _Auditiver
Mediengestaltung_ und _Akustischer Konzeption_ macht es möglich,
professionell zu einem Beruf auszubilden, der unsere Umwelt
klanglich formen kann: Der Beruf der Klanggestalterin oder eines
Klangberaters.
Sound Studies sind aber nicht Fächer.
Sound Studies sind geformt aus Interessen und Fähigkeiten, aus
sinnlichem Gespür, Wissen und Erfahrungen, die die vier erwähnten
Teilbereiche verkörpern und vermitteln. Die Zusammenführung dieses
Klangwissens war bislang eher genialen Zufällen oder eigensinniger
Hochspezialisierung überlassen - in den Sound Studies aber werden
sie zielgerichtet gelehrt und studiert.
Was sind diese Fähigkeiten? Abschließend möchte ich das vierfache
Wissen vom Klang, das die Sound Studies vermitteln, kurz
schlaglichtartig beleuchten.
1. Hörerfahrungen vermitteln
Wie schon eingangs gezeigt und erwähnt: Eine klangliche Umgebung
kennenzulernen, sie auf ihre Wirkungen in der individuellen, je
persönlichen Empfindung und Wahrnehmung hin auszuloten, ist ein
heikles Unterfangen. Technische Hilfsmittel helfen hier nicht
weiter. Wir gelangen vielmehr in den Bereich der Klangerzählungen,
narrativer Selbstdarstellungen, Berichten über individuelle
Wahrnehmungsvoraussetzungen und von der je unterschiedlichen
auditiven Sozialisation, die einer individuell erfahren hat. All
dies ist notwendig, um nachvollziehbar zu machen, warum einer oder
eine diese Klangumgebung auf jene Weise wahrnimmt, beziehungsweise
gerade nicht!
Zu lernen ist in den Sound Studies also eine gleichermaßen
kulturwissenschaftlich-analytische wie persönlich-narrative
Darstellung eines Klangerlebens. Nur so können wir verstehen,
welche Klänge auf andere wirken - und anderen, die Wirkung auf uns
darstellen. Diese Fähigkeit steht im Mittelpunkt des Faches
_Klanganthropologie und -ökologie_.
2. Klangexperimente durchführen
Wenn wir in eine gegebene Klangumgebung eingreifen, sie
kurzfristig verändern durch vorübergehende _Interventionen_ oder
längerandauernde oder gar dauerhafte _Installationen_, so fußen
diese Klangexperimente naturgemäß auf sowohl technischen
Bedingungen der Schallausbreitung - wie auch auf narrativen
Darstellungen unseres Klangerlebens. Ein Wissen um Geschichte und
technische Möglichkeiten der Klangexperimente in Klangkunst, Audio
Art und elektrokaustischer Musik ist dafür unabdingbar.
Klangexperimente durchzuführen ist kein Anfang bei Null, sondern
setzt - ebenso wie in den Experimentalwissenschaften - die
kollektive Untersuchung des Klangraumes mit neuen und bislang
unbekannten Versuchsanordnungen fort.
In den Sound Studies werden sowohl die technischen als auch
künstlerischen Grundzüge der Experimentalsettings in den
unterschiedlichsten Klangkünsten gelehrt - und Klangexperimente in
gegenwärtigen, für unser Leben und unsere Erfahrungsräume
prägenden Klangumgebungen durchgeführt. Diese geschieht im
Teilbereich der _Experimentellen Klanggestaltung_.
3. Medienklänge inszenieren
Die überwiegende Zahl der Klangumgebungen, in denen wir uns
derzeit bewegen, sind unzweifelhaft mediale Umgebungen.
Umgebungen, die uns an unseren Arbeitsplätzen und Wohnräumen, an
öffentlichen Plätzen und privatwirtschaftlich genutzten
Stadträumen und nicht zuletzt in besonderen Veranstaltungsräumen
einhüllen und überraschen. Diese medialen Umgebungen wurden
bislang weitgehend selektiv und partiell gestaltet - nicht
umfassend und mit Hinblick auf die gesamte Klangerfahrung der
jeweiligen Umgebung; und sie wurde zumeist eher in Richtung auf
ihren Spektakelwert ausgerichtet als auf die Möglichkeiten der
Körper und Ohren der Hörenden.
Konzertbauten werden zwar genauso wie Blockbusterfilme oder
Popmusikproduktionen akustisch gestaltet - doch die überwiegende
Mehrzahl unserer Alltagserfahrungen mit medialen Erzeugnissen in
Fernsehen, Rundfunk, Messebau oder Unterhaltungssoftware bleibt in
ihrer Klanggestalt merkwürdig krude und vage - so vage, wie es
eine visuelle Gestaltung nie sein dürfte! (Dies bestätigen uns in
Gesprächen vor allem auch private Rundfunkanbieter, die gerade die
Notwendigkeit einer professionellen Ausbildung im Arbeiten mit
Klang betonen.)
Sound Studies lehren diese Gestaltung einer medialen Klangumgebung
als Inszenierung von Medienklängen. Nicht als selbstgenügsame
Demonstration technischer Machbarkeit, sondern im Hinblick auf die
tatsächlichen Hörmöglichkeiten eines Publikums, seine auditive
Aufnahme- und Verarbeitungsfähigkeit. Diese Fähigkeit vermittelt
das Fach _Auditive Mediengestaltung_.
4. Klangumgebungen entwerfen
Die Kernfähigkeit einer Klanggestaltung und Klangberatung ist
somit das konzeptuell stringente Entwerfen von Klangumgebungen.
Das Studium des Klangs lehrt also, Klangumgebungen nicht als
gegeben hinzunehmen - sondern sie als artifizielle Produkte
unserer umfassend gestalteten Welt zu begreifen, deren Einfluss
auf die Menschen, die ihnen notgedrungen unterworfen werden, gar
nicht hoch genug einzuschätzen ist!
Sound Studies vermitteln diese konzeptuelle Fähigkeit, einen
klanglichen Entwurfsprozess quer zu allen Möglichkeiten der
Klangerzeugung und über alle Medien, Genres und Klangumgebungen
verteilt zu leiten und zu hinterfragen. Wie gesagt: Hier sind
nicht nur physische Umgebungen oder Environments - sondern genauso
digital gestaltete virtuelle Klangumgebungen wie auch
Sendeumgebungen in Massenmedien gemeint. Sound Studies führen
damit in das professionelle Arbeiten mit Klang den Begriff und das
Fach der _Akustischen Konzeption_ ein.
Sinnliche Kommunikation
In den Medienwissenschaften ist derzeit die Rede von einem 'sonic
turn'. Das schmeichelt natürlich uns, den Sound Studies, sehr.
Doch sollten wir dabei nicht stehenbleiben.
Es wäre zu kurz gedacht, würden wir die euphorischen Lobgesänge
auf das Hören und Klingen in den Feuilletons und
Populärpublikationen der letzten zwanzig Jahre schlicht
weiterführen. Vielmehr geht es um eine ganz grundsätzliche
Veränderung der Einstellung zu unserer gestalteten Umwelt.
Die Frage _Wie gestalten wir unsere Umwelt - akustisch?_ wäre aus
unserer Sicht zu reformulieren als die Frage:
Sind wir uns der weitreichenden Folgen bewusst, die unser
gestalterisches, technisches, künstlerisches und gedankliches
Handeln auf die Hörerfahrungen hat, die wir in den nächsten
Jahrzehnten und Jahrhunderten noch machen können - in unseren
medial-artifizialisierten Gesellschaften?
Eine Frage, die unmittelbar den Horizont öffnet - weg vom
vermeintlichen Gegensatzpaar visuelle/akustische Kommunkation -
hin zu einem weiteren Projekt: Dem Projekt, die gesamte Welt der
Artefakte in ihrer Vielfalt sinnlicher Wahrnehmungen als
gestaltete zu begreifen.
Der Schritt hin zur akustischen Kommunikation als einer Ergänzung
der visuellen ist damit nur der Anfang einer Ausweitung der
gestalterischen Verantwortung auch auf die Mannigfaltigkeit der
Sinneseindrücke, die auf uns wirken: Gerüche - Geschmack -
körperliche Berührungen ...
Der Masterstudiengang _Sound Studies / Akustische Kommunikation_
ist in diesem Sinne nur ein Anfang. Ein Anfang, an dem wir seit
Herbst 2000 in einem Team mit dem Vizepräsidenten der Universität
der Künste Berlin Prof. Peter Bayerer und Prof. Martin Rennert von
der Fakultät Musik, sowie einigen anderen Professoren und Dozenten
der Universität zusammengearbeitet haben. Ein Projekt, das seit
gut einem Jahr vom Bundesministerium für Bildung und Forschung
finanziell unterstützt wird und seinen Probebetrieb mit Seminaren
und Workshops schon aufgenommen hat - und das voraussichtlich zum
Wintersemester 2004/2005 als ein neuer Masterstudiengang an der
UdK angeboten werden kann. Eine Weiterbildung,
berufsqualifizierend.
Ein Anfang also, der sich keiner Nebensache zuwendet. Sondern
einer Hauptsache: Dem Klang unseres täglichen Lebens. Wie es
erträglich, hörbar und lebbar sein könnte in der Zukunft -
gestaltet.
Vielen Dank.
Dr. Holger Schulze
Universität der Künste Berlin
soundXchange
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