[rohrpost] die trollmette
felicia
F.Herrschaft at soz.uni-frankfurt.de
Mon Okt 6 23:37:16 CEST 2003
Es war einmal eine Frau, die dachte am Weihnachtsabend bei sich selbst,
sie wollte am Weihnachtsmorgen in die Frühpredigt gehen, denn sie war
eine eifrige Kirchgängerin. Also gab sie Kaffee heraus, um am Morgen
einen warmen Schluck zu haben und nicht nüchtern in die Kirche zu
müssen. Als sie aufwachte, schien der Mond ins Zimmer, aber als sie
aufstand, um nach der Uhr zu sehen, war sie stehengeblieben, und der
Zeiger wies auf halb zwölf. Da wußte sie nicht, wie es an der Zeit war,
und ging ans Fenster und schaute nach der Kirche hinüber. Dort sah sie
Licht in allen Fenstern. Nun weckte sie das Mädchen und ließ sie Kaffee
kochen, während sie sich anzog, und dann nahm sie ihr Gesangbuch und
ging zur Kirche. Es war ganz still auf der Straße, und sie sah keinen
Menschen auf dem Weg. Als sie in die Kirche kam, setzte sie sich auf
ihren gewohnten Platz, aber als sie sich umsah, kamen ihr die Leute alle
so bleich und wunderlich vor, gerade, als ob sie alle tot wären. Sie
kannte niemanden, aber manche meinte sie schon früher gesehen zu haben,
doch sie konnte sich nicht entsinnen wo. Als der Priester auf die Kanzel
stieg, war es keiner von den Priestern in der Stadt, sondern ein großer,
blasser Mann, der ihr auch bekannt vorkam. Er predigte sehr erbaulich,
und es war keine solche Unruhe und kein Husten und Räuspern, wie es
sonst am Weihnachtsmorgen in der Frühpredigt zu sein pflegt, es war so
stille, daß man eine Nadel hätte fallen hören können, ja, es war so
stille, daß ihr ganz angst und bange wurde. Als sie wieder zu singen
anfingen, beugte sich eine Frau, die neben ihr saß, zu ihr und wisperte
ihr ins Ohr: "Wirf den Mantel lose um dich und geh, denn wenn du
wartest, bis es vorbei ist, so machen sie dir den Garaus. Das ist die
Totenmette.« Da ängstigte sie sich sehr, denn als sie die Stimme hörte
und zu der Frau hinübersah, da erkannte sie sie; es war ihre Nachbarin,
die seit langen Jahren tot war. Ihr Blut wurde zu Eis, so hatte sie
Angst. Sie nahm den Mantel lose um, wie die Frau ihr gesagt hatte, und
ging hinaus; aber es war ihr, als ob alle nach ihr griffen, und die Knie
wankten ihr, und sie wäre fast auf den Kirchenboden niedergesunken. Als
sie an die Treppe kam, packten sie schon ihren Mantel; sie ließ ihn los
und eilte nach Hause, so rasch sie konnte. Gerade, als sie in der Tür
stand, schlug es ein Uhr, und wie sie hineinkam, war sie halb tot vor
Angst. Am Morgen, als die Leute zur Kirche gingen, lag der Mantel auf
der Treppe, aber er war in tausend Stücke zerrissen.
original: die totenmette