[rohrpost] CFP - Archiv für Mediengeschichte: 1950
Hedwig Wagner
hedwig.wagner at medien.uni-weimar.de
Die Okt 28 18:18:38 CET 2003
Call for Papers – Archiv für Mediengeschichte
1950
Das Archiv für Mediengeschichte wird in seiner nächsten Ausgabe den
tiefen mediengeschichtlichen Bruch der Zeit um 1950 zum Thema machen.
Hier hört das 20. Jahrhundert auf, eine Fortsetzung des 19. Jahrhunderts
mit anderen Mitteln zu sein und kommt für kurze Zeit, für eine
Übergangsperiode nämlich, zu sich selbst; hier berühren
einander das "analoge" und das "digitale" Zeitalter, die Ära der
Repräsentation und diejenige der Simulation.
Die Dekade der Jahrhundertmitte erschließt sich also durch seine
Begrenzungen einmal durch das 19. Jahrhundert, das den Film
hervorbrachte, der bis ‚1950’ Leitmedium blieb, zum anderen durch das
21. Jahrhundert, dessen Leitmedium, der Computer, um 1950 in
entscheidender Weise entwickelt wird. Die 50er Jahre selbst sind von der
massenhaften Verbreitung des Fernsehens, das über einige Jahrzehnte
Leit- und Übergangsmedium blieb, bestimmt. Um den Kehrpunkt 1950 herum
vollzieht sich damit eine gründliche Umstrukturierung des
gesellschaftlichen Sinnhaushalts, deren Vollzug weite Strecken der
zweiten Jahrhunderthälfte bis in die Gegenwart hinein prägt und die in
vielerlei medienkulturellen Phänomenen und Problemen der Jahre um 1950
wirkt.
Das gilt nicht zuletzt speziell für die Geschichte Deutschlands. In den
fünfziger Jahren wurden die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche
Demokratische Republik gegründet und aufgebaut. In beiden Fällen ging
dies mit ostentativen Abkehrungen vom Historischen einher, mit
Geschichtsverdrängung, Geschichtvergessenheit und –umdeutung. Eine
Archäologie dieser Vorgänge, ihrer vielfältigen Dimensionen und Folgen,
die selbstverständlich auch eine Archäologie der Gegenwart bedeutet,
steht besonders hinsichtlich der Medien und ihrer Funktion noch aus.
Eine scheinbar widersprüchliche Thematisierung der 50er Jahre ergibt
sich dabei aus der Gleichzeitigkeit der synchronen und diachronen
Betrachtung. Das Selbstbild, das der Diskurs der 50er Jahre entwarf, war
bestimmt von Neugründung, Aufbruch, von der Idee des Neuen, der
Modernisierung: Bewegung, Dynamik und Diskontinuität waren die
vorherrschenden Schlagworte. Der im Nachhinein geführte Diskurs über die
50er Jahre dagegen war lange geprägt von der Rede über die ‚bleierne
Zeit’, der Erstarrung in Konservativismen, der Restauration.
Die thematische Fokussierung des ‚1950’- Bandes des Archivs für
Mediengeschichte sucht Medienneuerscheinungen oder Einzelphänomenen
nachzugehen, die insofern als medial beschrieben werden können, als sie
Identitätsstifter sind, als Regulierungstechniken in Erscheinung treten
oder als Sinnkonstitutionen aufgefasst werden. In den Blick geraten
können dabei Medien im Sinne des technischen Geräts, des wirksamen
Dispositivs als Speicher- oder Verbreitungsmedium oder schließlich der
symbolischen Form des Kommunikationsmediums. Drei zentrale Komplexe
stellen sich dabei der spezifisch mediengeschichtlichen Aufschlüsselung
dar:
Das Problem des Scheins: In Ästhetik, Bildender Kunst und Design bilden
die 50er Jahre ein Jahrzehnt, das vom Schein beherrscht wird. Die sog.
„Abstrakte Kunst“ setzt sich geschmacksbildend in den Eliten durch; ihre
Muster und Lineaturen erreichen aber auch den aufgeschlossenen
Alltagshaushalt. In Ästhetik und Design kommen, unter anderem bedingt
durch neue Materialien (Nylon und Neon), neuartige
Oberflächengestaltungen auf. Visuelle Muster, glänzende Strukturen und
das Heraustreten der Textur lässt eine Zeit der Herrschaft visueller
Oberflächen anbrechen. Damit geht eine Ökonomisierung einher:
Warenwerbung und Konsumwerte drängen in den Vordergrund der
Alltagskultur. Gleichsam am anderen Ende der Skala beginnt zugleich
Jean-Paul Sartre ‚Das Sein und das Nichts’ mit einem Räsonnement über
Schein und Oberfläche. Durch Schein und Oberfläche wird die Bestimmung
von Sein, Substanz und Tiefe neu gedacht; und nicht nur ästhetisch
transformiert sich in den 50er Jahren die Tiefenstruktur zur
Oberflächenstrukturierung. Die Problematik des Scheins produziert damit
auch eine Neudifferenzierung der Außen- und der Innenwelt, die
weitgehend mediengeneriert, zumindest jedoch mediengestützt ist.
Regelung und Steuerung: Regelung und Steuerung, Regelkreisläufe,
Rückkopplung und Verschaltung sind zentrale Begriffe der Medientheorien
der 50er Jahre. Der Gedanke der Steuerung wird allfällig;
Steuerungstechniken und Programmierungen bestimmen nicht nur die
Kybernetik. Verhaltenssteuerung, Organisation und die Rede vom
programmierten Menschen begleiten die gesellschaftliche Dynamik, setzen
der Umwälzung eine Vorhersagbarkeit an die Seite. Dabei ist zunächst
einmal an die ordnungspolitische Dimension der Neuinstitutionalisierung
gedacht. Der moderne Staat wird in den 5oer Jahren als zentrales
Regulierungs- und Ordnungskonstrukt ins Visier genommen. Das schließt
die Regelung von Güterströmen, die planwirtschaftlich infrastrukturelle
Versorgung mit Waren auf der einen Blockseite, das Aufkommen des Konsums
und einer Neuregulierung der Warenwelt auf der anderen Seite mit ein. In
der Folge muß aber auch nach der Idee und Realisierung des
staatsunabhängigen, öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens und
nach der ökonomischen Logik bei der Herstellung des Massenmenschen und
der Massenkommunikationsmedien der Nachkriegszeit gefragt werden. Mit
der Kybernetik rückt zudem die Technik als neuer Referenzpunkt des
Menschlichen ein, erschüttert das „Bewusstsein der Maschinen“ (Gotthart
Günther) dasjenige der Menschen. Dies ließ zugleich eine
Mythologisierung und Fiktionalisierung der Künstlichen Intelligenz, der
Schaltung und Kopplung entstehen, die unzählige Science-Fiction –
Phantasien speiste.
Bruch und Kontinuität: Die ‚Bleierne Restauration’ und die wachsende
Akzeptanz der kulturellen Moderne artikulieren eine tiefe Verunsicherung
im Umgang mit der Vergangenheit. Dabei sind Enthusiasmus des Aufbaus und
eher konsumistische ‚Neophilie’ des Wirtschaftswunders, die Idee des
Neuen, die gesellschaftliche Modernisierung und das Aufkommen der
Jugendkultur und der Frauenöffentlichkeit ebenso tragende Momente dieses
Jahrzehnts wie der Konservativismus nicht nur der Adenauer-Ära. Nicht
nur neue Materialien, auch die Materialität selbst tritt hervor als das
Neue gegenüber dem Alten unserer Kultur- und Ideengeschichte. Es ist
nicht zuletzt das sich ausbreitende Fernsehen, das mit der Spaltung von
Ereignis und Repräsentation ein neues Zeitverhältnis in die neue Zeit
bringt.
Mit der Alternative, entweder das Gestrige oder aber das Morgige
abstreifen zu müssen, greift auch die Figur der Negativität neu Platz im
Denken. Mit dem Kalten Krieg und der Bombe kommt die Idee der
vollständigen Vernichtung. Die Drohung des Alles oder Nichts lässt auch
an das Ende, läßt das Nichts denken. Atomare Abschreckungspolitik und
TV-Massenkonsum bilden schließlich einen Nexus, jene „Verbiederung“
(Günter Anders), die als Gegenbegriff zur Entfremdung, Demokratie,
Warencharakter und Wissenschaft gleichermaßen erfaßt und die Welt wie
Fernsehen als Phantom bestimmt, charakterisiert durch Unilateralität und
Distanz.
Beiträge zum Thema sind höchst willkommen. Die Herausgeber und die
Redaktion bitten deshalb zunächst um Textvorschläge, die mit einem
Kurztext (1.000 Zeichen) bis zum 01.12.2003 an das Archiv für
Mediengeschichte – Redaktion- Hedwig Wagner, Fakultät Medien,
Bauhaus-Universität Weimar, hedwig.wagner at medien.uni-weimar.de, erbeten
werden. Die Ausarbeitung sollte dann im Umfang von 20.000 – 30.000
Zeichen bis Mitte März vorgelegt werden können.
Hedwig Wagner
Bezug und Information der Bände Medien der Antike, Licht und Leitung,
Mediale Historiographien : Universitätsverlag Weimar
Das Archiv für Mediengeschichte ist eine jährlich erscheinende
Fachzeitschrift, die als Einzelexemplar oder im Abonnement wahlweise bei
unserem Verlag unter der Faxnummer
49.(0)3643.581156 (Frau Fein), bzw. per email über
marita.fein at uv.uni-weimar.de, über das Netz oder über den Buchhandel
(hier leider nur als Einzelexemplar) bestellt werden kann.
www.uni-weimar.de/medien/philosophie/publikationen/afmg.htm
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Hedwig Wagner
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