[rohrpost] Christoph Spehr: Das Leben nach dem Tod in der Matrix

Henning Ziegler hziegler at zedat.fu-berlin.de
Mit Jun 4 09:39:04 CEST 2003


Hallo,

gl> Verwirklichung, der Unzugehörigkeit vor. Dies ist keine Angelegenheit
gl> eines empirisch benennbaren sozialen Subjekts mehr (einer "revolutionären
gl> Klasse" o.ä.), sondern ein allgemeiner Zustand, den sich die Gesamtheit
gl> der menschlichen "Multitude" teilt, die allesamt mehr oder minder hybride
gl> Androiden-Existenzen führen. Eine Alternative zur bestehenden Realität des
gl> Sozialen ist gleichermaßen unendlich fern und unendlich nah, unendlich
gl> ausgeschlossen und unendlich möglich. Es müssen nur genügend aufwachen.

Sich einerseits von der Theorie eines "empirisch benennbaren sozialen
Subjekts" (einer revolutionären Klasse oder Klasse überhaupt)
verabzuschieden, andererseits bei einer Art 'false consciousness' zu
bleiben ("Wir müssen sie nur alle erwecken"), ist ein seltsamer Mix
von Marx mit US-amerikanischem 'Middleclassism', in den man alle
möglichen Ideen stecken kann (irgendwer hat hier mal gesagt, "Empire"
könne sich nicht von rechtsradikalem Aktivismus abgrenzen).

Henning

-- 

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Nachricht vom Dienstag, 3. Juni 2003 -->

gl> Christoph Spehr: Das Leben nach dem Tod in der Matrix

gl> Cyberpunk im Kino

gl> "While alive be a dead man,
gl> thoroughly dead,
gl> and act as you will
gl> and all is good."

gl> Bunan, Zen-Meister des 17.Jahrhunderts

gl> "Sie haben mich einmal gefragt", sagte O'Brien, "was in Zimmer 101 wäre.
gl> Ich sagte, Sie wüssten die Antwort bereits. Jedermann weiß sie. Was einen
gl> in Zimmer 101 erwartet, ist das Schlimmste auf der Welt ... Das Schlimmste
gl> auf der Welt ist individuell verschieden. Es kann lebendig begraben sein
gl> ... oder fünfzig andere Todesarten. Es gibt Fälle, in denen es eine ganz
gl> nichtssagende, nicht einmal todbringende Sache ist." Für Winston, den
gl> Rebellen wider Willen in Georg Orwells 1984, sind es Ratten. Aber 101 ist
gl> auch die Zimmernummer des Appartments eines gewissen Thomas Anderson, der
gl> an seinem Computer einschläft auf der Suche nach der Frage, "Was ist die
gl> Matrix" - jenes Thomas Anderson, der noch nicht weiß, dass er Neo ist,
gl> "the One", die Schlüsselfigur im Kampf gegen die Maschinen und ihre
gl> Agenten. Für Thomas Anderson ist das Schlimmste auf der Welt die
gl> Scheinexistenz seines bürgerlichen Daseins. Es ist die quälende
gl> Ungewissheit, dass "mit der Welt etwas nicht in Ordnung ist", dass die
gl> wirkliche Welt eine andere ist, zu der er den Zugang nur erahnen, aber
gl> nichts selbst finden kann. Deshalb nimmt er die rote Pille, als Morpheus
gl> in wählen lässt: diejenige, die ihm schockhaft die Wirklichkeit zeigt und
gl> ihn aus der Matrix befreit, um ihn in der "Wüste der Realität" ankommen zu
gl> lassen. Alles beginnt damit, dass er das Zimmer 101 verlässt - dem Ort
gl> einer Existenz, von der er spürt, dass das unmöglich alles sein kann, die
gl> ihm selbst jedoch keinen Ausgang weist. Zufall? Eher nicht. Zumindest
gl> einer der unzähligen Punkte, an denen Millionen von Menschen weltweit
gl> rätseln, welche der Bedeutungsspuren in Matrix absichtlich gelegt sind und
gl> welche nur der eigenen Vorstellungskraft entspringen.

gl> Das Handbuch zur Matrix

gl> Die eigentliche Pflichtlektüre der Wachowski-Brüder aber dürfte
gl> "Neuromancer" von William Gibson gewesen sein. "Neuromancer" war der erste
gl> Roman des Cyberpunk, der aufsehenerregendsten Richtung in der
gl> Science-Fiction der achtziger und neunziger Jahre. Der Roman spielt in
gl> einem zukünftigen Los Angeles, in dem die Katastrophe einfach darin
gl> besteht, dass es so weitergegangen ist: die Umwelt ist ruiniert, die
gl> Politik vergessen, die Welt wird von einer Handvoll multinationaler
gl> Konzerne kontrolliert. Das weltumspannende Datennetz, in dem die Konzerne
gl> ihr kostbarstes Kapital horten - Informationen -, ist zu einem Ort
gl> geworden, wo Spionage und Verbrechen stattfinden, Diebstahl und sogar
gl> Mord. Denn die Welt der Daten wird nicht mehr auf zweidimensionalen
gl> Monitoren visualisiert, sondern als ein dreidimensionaler, virtueller
gl> Raum, der direkt auf den Sehnerv projeziert wird, indem man sich ein
gl> Elektroden-Set auf die Schläfen setzt. Derart "eingesteckt" (jacked in -
gl> der Begriff, der auch in "Matrix" verwendet wird), bewegt man sich in der
gl> Welt der Daten - dem Cyberspace, oder, wie er auch genannt wird in
gl> "Neuromancer", in der Matrix. Die Matrix in "Neuromancer" ist eine relativ
gl> abstrakte Welt, in der Firmen und Institutionen als Gebäude simuliert
gl> sind, zwischen denen Daten als bunte Pakete fliegen, in der
gl> Sicherheitsprogramme von Virenprogrammen angegriffen werden, die wie
gl> Gewitterwolken aussehen, und in der die teuersten Daten von
gl> Anti-Viren-Programmen umgeben sind, dem sogenannten "Eis". Die
gl> gefährlichste Art davon, "schwarzes Eis", verfolgt den Hacker, der einen
gl> Daten-Raub oder auch nur ein unbefugtes Eindringen versucht, bis zu seinem
gl> Computerdeck zurück und tötet ihn durch einen elektronischen Schock durch
gl> die Elektroden an seinen Schläfen. Der Held der Geschichte, Case, ist im
gl> Verlauf des Romans mehrmals für Sekunden oder gar Minuten hirntot -
gl> während andere hilflos um ihn herumstehen und warten, ob er
gl> "zurückkommt" - wie Trinity, als Neo von den Agenten getötet wird und
gl> "aufersteht".

gl> Case, der Ur-Neo, ist ein Hacker, ein "Consolen-Cowboy", wie es in
gl> Neuromancer heißt, hochqualifiziert aber vergleichsweise naiv, was seine
gl> soziale Erfahrung und seine Auffassung von der Welt anlangt. Seine
gl> Partnerin, Molly, ist eine Auftragskillerin - das Auffallendste an ihr
gl> sind die verspiegelten Gläser einer Sonnenbrille, die fest in ihrem
gl> Gesicht implementiert sind; sie beherrscht diverse fernöstliche
gl> Kampftechniken und besitzt biotechnologisch aufgebesserte Reflexe. Die
gl> Figur des Morpheus in "Matrix" zieht zwei Figuren aus "Neuromancer" in
gl> sich zusammen. Die eine ist der Raumkapitän Maelcum mit seiner
gl> zusammengezimmerten "Macus Garvey" und seiner spirituellen Philosophie,
gl> der einen "Horror vor Kontrolle" hat. Die andere ist der "Finne", eine Art
gl> Hacker-Vaterfigur für Case, der nach seinem Tod als ein "Konstrukt" in der
gl> Matrix weiterlebt und Case deren Funktionieren erklärt. Maelcum gehört zu
gl> den "Zionisten", die das "Babylon" Los Angeles verlassen haben und eine
gl> Raumkolonie namens "Zion" aufgebaut haben - Zion heißt denn auch in
gl> "Matrix" die verborgene Stadt der Rebellen.

gl> Aber die Ansammlung von liebevoll ausgesuchten Einzelheiten aus der
gl> Cyberpunk-Literatur macht noch keinen Cyberpunk-Film. Eigentlich gibt es
gl> fast gar keine Cyberpunkt-Filme. Vielleicht ist "Matrix" der einzige.

gl> "Ich will Zimmerservice!"

gl> 1973 drehte Rainer Werner Fassbinder "Welt am Draht" nach dem
gl> gleichnamigen Roman von Daniel F. Galouye. "Welt am Draht" entwickelt
gl> bereits das Motiv, unsere eigene Realität könnte nur eine Simulation
gl> sein - als Ausdruck einer entfremdeten Welt des Sozialen, wo die Menschen
gl> in einem gedächtnis- und beziehungslosen Alltag gehalten werden, der die
gl> Gewalt der Kontrolle schon längst nicht mehr bemerkt. Das Spiel mit der
gl> virtuellen Realität findet sich in so unterschiedlichen Filmen wie
gl> "Project Brainstorm", Oliver Stones TV-Dreiteiler "Wild Palms", bis hin zu
gl> Roland Emmerichs "Das 13. Stockwerk". All dies sind "Cyber"-Filme, aber
gl> keine Cyberpunk-Filme.

gl> Zum "Cyber"-Element muss eben auch das "Punk"-Element hinzutreten, obwohl
gl> diese Bezeichnung nicht ganz treffend ist. Die Charaktere der
gl> Cyberpunk-Romane sind zwar Outsider, aber es sind gefallene Insider:
gl> Menschen, die sich an der Grenze bewegen, für die erfolgreiche Anpassung
gl> und Integration greifbar nahe ist, die es aber nicht ganz schaffen; die
gl> dabei versagen, weil sie mental nicht damit klarkommen. Sie sind
gl> qualifiziert und dennoch marginalisiert. Sie haben nicht einfach Pech, sie
gl> hadern mit der Struktur des Sozialen, die ihnen angeboten wird. Sie sind
gl> zu naiv (wie Case) oder zu zynisch (wie Molly). Typisch ist auch die
gl> Entwicklung der Geschlechterrollen. In vielen Cyberpunk-Romanen wird die
gl> Realität von den Männern nur unzureichend bewältigt, während die Frauen
gl> eine realistischere Orientierung in der aus den Fugen geratenen Welt
gl> besitzen, in der Desillusionierung, Kooperation, Unauffälligkeit, "Deals"
gl> und das Vermeiden emotionaler Abhängigkeit zentrale Überlebensstrategien
gl> sind.

gl> Außerhalb Japans, wo das Subgenre spätestens seit "Ghost in the Shell" ein
gl> Standbein hat, gibt es sehr wenige Filme, die beide Elemente aufweisen und
gl> demzufolge als Cyberpunk-Filme in Frage kommen; sie sind keine
gl> Kassenerfolge und werden von der Kritik massiv unterschätzt. 1995
gl> verfilmte der US-amerikanische Künstler Robert Longo die Novelle
gl> "Vernetzt" von William Gibson unter dem Titel "Johnny Mnemonic". Obwohl
gl> Longo damit die genialste Visualisierung der charakteristischen sozialen
gl> Konstellation des Cyberpunk gelungen ist - Keanu Reeves (!) im schwarzen
gl> Anzug auf einer Müllhalde, der über sein biographisches Scheitern
gl> zusammenbricht und, die Hände zum dunklen Himmel erhoben, schreit: "Ich
gl> will Zimmerservice!" -, fiel der Film völlig durch. Nicht viel besser
gl> erging es der italienischen Produktion "Nirvana" mit Christopher Lambert
gl> und Iain Softleys "Hackers" (1995), immerhin mit Angelina Jolie und Jonny
gl> Lee Miller in den Hauptrollen. Wenigstens Anerkennung, wurde Kathryn
gl> Bigelows "Strange Days" (ebenfalls von 1995) zuteil.

gl> Was "Matrix" von all diesen Filmen unterscheidet - außer, natürlich, der
gl> atemberaubenden Ästhetik und Tricktechnik -, ist die Nutzung zweier
gl> anderer, außerhalb des Cyberpunk stehender Motivtraditionen der
gl> Science-Fiction, durch die "Matrix" eine sensationelle Radikalisierung und
gl> Politisierung des Cyberpunk-Genres gelingt. Es sind dies das Motiv des
gl> Erwachens aus einer bislang als Realität geglaubten Traumwelt in eine
gl> erschreckende "wirkliche Welt", und das Motiv des Androiden, der fehlenden
gl> Identität.

gl> Die Multitude der Androiden

gl> Es ist vor allem Philipp K. Dick, der für das erste Motiv steht. In Dicks
gl> Roman "Irrgarten des Todes" erwachen die handelnden Figuren ganz am Ende
gl> aus der "Handlung", um sich an Bord eines Raumschiffes zu finden, das
gl> ziellos durch den Weltraum treibt. Auch "Mozart für Marsianer" zeigt die
gl> virtuelle Welt als Besänftigung der Menschen in einer lebensfeindlichen
gl> sozialen Wirklichkeit. Ridley Scotts Verfilmung von "Träumen Androiden von
gl> elektrischen Schafen?", der SF-Klassiker "Blade Runner", gehört deshalb
gl> nicht von ungefähr zu den ästhetischen und stilistischen Vorbildern von
gl> "Matrix". "Blade Runner" entwickelt auch das Motiv des Androiden, der als
gl> künstlicher Mensch, als Mensch-Maschine, die mit künstlichen Erinnerungen
gl> ausgestattet wird, gegen seine verordnete Minderwertigkeit rebelliert. Der
gl> "Blade Runner" Deckard, der Androiden jagt und entdeckt, dass er selbst
gl> einer ist, führt eine Existenz, deren soziale Rolle er trägt wie einen
gl> Anzug von der Stange.

gl> Das subversive Potenzial des Androiden-Motivs klingt auch am Schluss von
gl> Steven Soderberghs Neuverfilmung des Stanislav-Lem-Klassikers "Solaris"
gl> an. Chris Kelvin und seine Frau Rheya befinden sich wieder auf der Erde,
gl> und es gibt zwei Möglichkeiten der Deutung. Nach der "normalen",
gl> beruhigenden Deutung ist diese Szene nur eine Vision Kelvins in den
gl> Sekunden seines Todes, eine Nahtod-Halluzination. Die Szene lässt sich
gl> jedoch ebenfalls so deuten, dass Kelvin und Rheya von Solaris geschaffene
gl> Replikationen sind, Scheinwesen, deren biologische Originale beide tot
gl> sind, die jedoch gerade deshalb eine neue, unerkannte Existenz auf der
gl> Erde beginnen. Darin liegt die aufregendste Vision des Androiden-Motivs:
gl> in der bewussten Distanzierung von den nur scheinbaren sozialen Rollen und
gl> Existenzformen, dem "sozialen Tod", der die Möglichkeit vollständiger
gl> innerer Freiheit eröffnet.

gl> "Matrix" bindet diese beiden Motive mit der Cyberpunk-Tradition zusammen
gl> und schafft aus der Kombination eine Vision von ungeheurer Wucht und
gl> politischer Brisanz. Die gesamte alltägliche Realität wird als unwirklich
gl> erklärt; doch dieses Erwachen ist kein frustrierter Endpunkt, sondern der
gl> neue Ausgangspunkt für den Kampf gegen das System der Entfremdung,
gl> Manipulation und unsichtbaren Gewalt. Der Ort dieses Kampfes ist die
gl> Matrix selbst: die Erkenntnis der sozialen Rolle als Scheinidentität, als
gl> "virtuell", ermöglicht es, die Regeln "zu biegen und zu brechen" und das
gl> System zu bekämpfen; und die Hoffnung liegt darin, dass dies eine
gl> spezifisch humane Fähigkeit ist, der das System trotz seiner extremen
gl> Anhäufung von Machtmitteln in gewissem Sinn nichts entgegen zu setzen hat.

gl> Damit aber verlassen wir endgültig das Terrain des Cyberpunk und betreten
gl> das Terrain eines vieldiskutierten Buches, das sich mit politischer
gl> Theorie beschäftigt: "Empire" von Toni Negri und Michael Hardt. Es ist
gl> genau diese Vision, von der "Empire" handelt: das gesellschaftliche
gl> Herrschaftssystem ist total, es gibt kein "draußen"; gleichzeitig aber
gl> herrscht in ihm das allseitige Gefühl der Scheinhaftigkeit, der fehlenden
gl> Verwirklichung, der Unzugehörigkeit vor. Dies ist keine Angelegenheit
gl> eines empirisch benennbaren sozialen Subjekts mehr (einer "revolutionären
gl> Klasse" o.ä.), sondern ein allgemeiner Zustand, den sich die Gesamtheit
gl> der menschlichen "Multitude" teilt, die allesamt mehr oder minder hybride
gl> Androiden-Existenzen führen. Eine Alternative zur bestehenden Realität des
gl> Sozialen ist gleichermaßen unendlich fern und unendlich nah, unendlich
gl> ausgeschlossen und unendlich möglich. Es müssen nur genügend aufwachen.

gl> Literatur:

gl> Ingrid Lohmann, Cognitive Mapping im Cyberpunk. In: Mayerhofer/Spehr
gl> (Hg.), Out of this world! Science-Fiction, Politik & Utopie, Hamburg 2002.
gl> William Gibson: Die Neuromancer-Trilogie, Ausgabe in einem Band
gl> Willaim Gibson: Vernetzt. Erzählungen
gl> Bruce Sterling: Schismatrix
gl> John Shirley: Eclipse
gl> Antonio Negri und Michael Hardt: Empire.

gl> --

gl> Christoph Spehr, Historiker, lebt in Bremen. Mitarbeiter der "alaska -
gl> Zeitschrift für Internationalismus". Organisiert vom 27.-29.6.2003 zum
gl> dritten Mal den Kongress "Out of this world - Science-Fiction, Politik,
gl> Utopie" in Bremen (www.outofthisworld.de). Veröffentlichungen: Die Aliens
gl> sind unter uns! Herrschaft und Befreiung im demokratischen Zeitalter,
gl> München 1999; Gleicher als andere. Eine Grundlegung der freien
gl> Kooperation, Berlin 2003.