[rohrpost] Offener Brief an meine Sachbearbeiterin Frau Siliva Thiem
Till von Heiseler
Till_N_v_Heiseler at web.de
Mon Aug 2 19:17:02 CEST 2004
Liebe Freunde,
in dieser Liste hat der „Offene Brief an D.B.“ sicherlich Unverständnis hervorgerufen. Vielleicht wird durch den vorliegenden offenen Brief methodisch einiges klarer (formatierte Fassung incl. Intro und Bilder liegt als pdf bei).
Hierzu die Definition eines Formates, das quer durch alle Medien inszenierbar ist und von uns benutzt wird: =>media for one
=> Media for One
Media for One zieht die Konsequenz aus dem Experimentieren mit unterschiedlichen imaginären Adressaten. Im Media for One wird die Imagination der anonymen Augen und Ohren der anderen vermieden. Dies soll deshalb geschehen, weil in der Imagination der anonymen Anderen eine bestimmte Form der Kontrolle auf massivere Weise greift. Es heißt also nicht, dass die Kommunikation zu zweit wahrer wäre, sondern dass ihr andere Möglichkeiten, der Kontrolle und dem Cliché zu entgehen, zuzutrauen sind als dem Sprechen zu den anonymen Anderen. Beim Schreiben eines konventionellen Buches wird im Denken immer auch die Logik der Ökonomie - im weitesten Sinne des Wortes – zu finden sein. In der Du-Situation, so die performativ zu untersuchende These, greift eine gewisse gesellschaftliche Imagination weniger stark oder zumindest auf andere Weise.
Media for One können Video- oder Audiobriefe oder Bücher für eine Person sein. Bücher für eine Person sind Bücher, die für eine Person geschrieben oder für diese zusammengestellt wurden. Durch Antwort und Einsteigen anderer Personen entsteht ein multiauktorialer Zusammenhang, in dem sich jeder Beitrag immer nur an eine Person wendet.
=> http://www.wmg-seminar.de/texte/tnvh/buch-fuer-dich (Buch für Dich)
Neben dem Experimentien mit medialen Formaten soll es hier darum gehen, mit performativen Mitteln das Rechtssystem zu untersuchen.
...ein persönliches performatives Ziel wäre ein mehrwöchiger Gefängnisaufenthalt zu Recherchezwecken... (aber das ist eine andere Geschichte)
Hier nun der offene Brief an die Sachbearbeiterin Silvia Thiem:
Theater im Forum I: Offener Brief an meine Sachbearbeiterin Silvia Thiem
Vertritt: Landeseinwohnermeldeamt Berlin - Zentrale Ordnungsaufgaben, Einwohnerwesen – Pass- und Ausweisangelegenheiten, sonstige Ordnungsaufgaben, nicht verkehrrechtliche Ordnungswidrigkeiten
„Könnten wir Theater (das Mediale, das Wirksame) zum Erkenntnisgewinn einsetzen? ------------------------------------------------------------ Das wäre dann eben keine Praxis, die weiß, was sie tut, sondern die stattfindet, um überhaupt einen Ansatzpunkt für eine Theorie zur Praxis zu finden.“
[Ebene:03-Intro für http://theater.kein.org/node/view/88]
[23/07/04]
Eine „story“, heißt es irgendwo auf kein.org, ist so was wie ein Artikel.
Aber eine „story“ muss kein Artikel sein, sondern kann auch ein Tagebuchauszug, ein e-mail-Wechsel, ein Gedicht, ein Epos oder eine Theaterszene sein, soweit der Inhalt für den Diskurs relevant ist. Die Form muss nur die Fähigkeit haben, den Inhalt zu erhellen. ------------------------------------- Nun hat die Form zwei Möglichkeiten, Inhalte zu vermitteln: Entweder tritt sie hinter den Inhalt zurück und steht in ihrer Selbstbezüglichkeit nicht bei der Vermittlung im Wege, dann ist sie funktional und sachlich, oder aber sie erhellt den Inhalt auf eine andere Weise, die letztlich nicht zu explizieren ist. Dann wird die Form Ausdruck und ein Teil des Inhalts, den die Semantik nicht fasst und nicht fassen kann, und vermittelt die möglicherweise lebendige Struktur...
[29/07/04]
Seitdem ich vor einigen Tagen auf KEIN_THEATER den Beitrag „Theater und das Problem der Offenheit“ geposted habe, hat mich zweierlei beschäftigt: 1) Wie können wir im Forum nicht nur über Theater sprechen, sondern Theater spielen und theatralische resp. performative Mittel nicht nur darstellen, sondern möglicherweise für den Erkenntnisgewinn nutzen? 2) Wie könnte das Problem der Offenheit, das auch in jedem einzelnen Artikel wieder auftaucht, bearbeitet werden? In welcher Form kann Welt, also das Prozesshaft-Unkontrollierbare, in die Geschlossenheit eines Artikels eindringen?
Nur in der Form des Persönlich-Banalen.
Da der Konstruktivismus uns klar gemacht hat, dass es keine Position der Sachlichkeit geben kann, können wir nicht von alledem, das sachlich gesprochen sein will, vor dem Horizont der Relation zwischen Aussage und Sache beobachten. Wenn wir aber mit dem Wahrheitsbegriff nicht auch die Epistemologie über Bord werfen wollen, müssen wir den Ort, von dem aus wir sprechen, mit markieren (è media for one).
Wo aber ist der Ort, von dem aus ich hier und jetzt spreche?
[24/07/04]
Eine „story“ muss nicht mal eine Story haben.
Diese „story“ allerdings hat eine Story. In der Regel sind Geschichten geschlossen. Diese Geschichte aber ist offen. Sie kann nicht ganz von mir kontrolliert werden, da ich sie mir nicht ausgedacht habe und sie nicht abgeschlossen ist...
[26/07/04]
Vielleicht den Artikel auf kein.org ganz programmatisch beginnen, etwa:
„Theater im Forum I: Offener Brief an meine Sachbearbeiterin Silvia Thiem“
· ist der erste Forumsbeitrag auf KEIN THEATER, der gewisse Elemente der Inszenierung und des unsichtbaren Theaters nicht nur beschreibt, sondern anwendet.
· besteht aus zwei Elementen: einer Rollenprosa von großer Überzufälligkeit und einer Realkommunikation, die die Geschlossenheit aufbricht.
· ist eine Realkommunikation, die in den Medien Text, Bild, Audio und Video geführt werden soll und in die jeder über die Kommentarfunktion und die Möglichkeit, im Forum zu posten, einsteigen kann.
· versucht nicht nur theatralische Formen zu untersuchen und zu beschreiben, sondern ist selbst eine theatralische Form.
· kann als eine Form von Theater verstanden werden, welche freilich mit der besonderen Eigenschaft ausgestattet ist, den Untersuchungsgegenstand experimentell mit performativer Vernunft zu behandeln.
Problem dieses Anfangs: Sich hinter vermeintlichen Sachverhalten zu verstecken, erscheint zwar als Bescheidenheit, verbirgt aber ein Höchstmaß an Arroganz.
[27/07/04]
Ausgangspunkt: eine „dramatische Situation“.
=> Eine „dramatische Situation“ entsteht im Leben dadurch, dass zwei oder mehr Personen jeweils ein oder mehrere Motiv/e haben, miteinander zu interagieren. Die Motive müssen sich zu einem Konflikt zuspitzen können. Diesen Konflikt nennt man im Theater das „Superproblem“. Will man Lebenswelt in eine theatralische Form bringen, muss man eine dramatische Situation installieren. Sie bildet den Ausgangspunkt.
Unsere dramatische Grundsituation besteht in der performativen Verschiebung einer Kommunikation mit einer Behörde. Die performative Verschiebung besteht darin, dass der betreffenden Person - in unserem Fall und vorvorläufig Frau Silvia Thiem – klargemacht wird, dass unsere Kommunikation auf einer (virtuellen) Bühne stattfindet.
Die kommunikative Konstellation besteht also in der Veröffentlichung einer real-live-Kommunikation in real-time. Zentral ist, dass die Motive der Behörde sich nicht allein auf die Medialisierung ausrichten können, aber u.U. durch diese Medialisierung irritiert werden.
Diese Ausgangssituation wurde nicht gewählt, weil ich sie für besonders interessant hielte, sondern es geht darum, die Unberechenbarkeit der Welt in das Schreiben zu integrieren.
[Eben:02-Intro für Rohrpost ]
Liebe Freunde,
in dieser Liste hat der „Offene Brief an D.B.“ sicherlich Unverständnis hervorgerufen. Vielleicht wird durch den vorliegenden offenen Brief methodisch einiges klarer.
Hierzu die Definition eines Formates, das quer durch alle Medien inszenierbar ist und von uns benutzt wird: èmedia for one
è Media for One
Media for One zieht die Konsequenz aus dem Experimentieren mit unterschiedlichen imaginären Adressaten. Im Media for One wird die Imagination der anonymen Augen und Ohren der anderen vermieden. Dies soll deshalb geschehen, weil in der Imagination der anonymen Anderen eine bestimmte Form der Kontrolle auf massivere Weise greift. Es heißt also nicht, dass die Kommunikation zu zweit wahrer wäre, sondern dass ihr andere Möglichkeiten, der Kontrolle und dem Cliché zu entgehen, zuzutrauen sind als dem Sprechen zu den anonymen Anderen. Beim Schreiben eines konventionellen Buches wird im Denken immer auch die Logik der Ökonomie - im weitesten Sinne des Wortes – zu finden sein. In der Du-Situation, so die performativ zu untersuchende These, greift eine gewisse gesellschaftliche Imagination weniger stark oder zumindest auf andere Weise.
Media for One können Video- oder Audiobriefe oder Bücher für eine Person sein. Bücher für eine Person sind Bücher, die für eine Person geschrieben oder für diese zusammengestellt wurden. Durch Antwort und Einsteigen anderer Personen entsteht ein multiauktorialer Zusammenhang, in dem sich jeder Beitrag immer nur an eine Person wendet.
è www.wmg-seminar.de/texte/tnvh/ein-buch-fuer-dich (Buch für Dich)
Neben dem Experimentien mit medialen Formaten soll es hier darum gehen, mit performativen Mitteln das Rechtssystem zu untersuchen.
...ein persönliches performatives Ziel wäre ein mehrwöchiger Gefängnisaufenthalt zu Recherchezwecken... (aber das ist eine andere Geschichte)
Hier nun der offene Brief an die Sachbearbeiterin Silvia Thiem:
Till Nikolaus von Heiseler
Lützowstraße 81
10785 Berlin
Landeseinwohneramt
Aktenzeichen :
II Ord 23-5491-268/04
Hohenzollerndammm 174/177
Zimmer-0010
zu Händen Frau Silvia Thiem
Berlin, den 02.08.2004
Betrifft Ihren Brief vom 22.07.04 mit dem Titel „Bußgeldbescheid“
Einspruch!
„Unter der öffentlichen Ordnung werden alle ungeschriebenen Regeln zusammen-gefasst, die nach dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden über ein gedeihliches Zusammenleben als unerlässlich angesehen werden.“ Johann S. Dietrich
Sehr geehrte und verehrte Frau Thiem,
hiermit mache ich von meinem in der Rechtsbelehrung angeführten Recht des Einspruchs Gebrauch. Und zwar deshalb, weil meine [Zuwider(?)]Handlung, obwohl ich sie Ihnen in der Stellungnahme vom 15.07.2004 ausführlich dargelegt hatte, von Ihnen grob verzerrt wurde.
Diese Verzerrung bestand im Weglassen fast aller relevanten Faktoren.
Sie schrieben:
„Sie handelten am Sonntag, den 04.07.2004, gegen 16.45, in 10117, Unter den Linden zw. Neustädtische Kirchstr. und Schadowstr. grob ungehörig, indem Sie sich splitterfasernackt an der Ecke Neustädtische Kirchstr. / Unter den Linden ausgezogen haben, obwohl sich dort das „Restaurant-Einstein“ befindet und viele Tische besetzt waren. Diese Handlung war geeignet, die Allgemeinheit zu belästigen und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen.
Sie haben somit vorsätzlich dem § 118 Abs. 1 OwiG zuwidergehandelt“
Nun, sehr geehrte Frau Thiem, wird in dieser Ihrer Beschreibung unser Handlungsmotiv unterdrückt, ebenfalls bleibt die amerikanische Botschaft unerwähnt. Sie hatten diese Beschreibung wörtlich schon in Ihrem Brief vom 08.07.2004, der mir Möglichkeiten zur Stellungnahme geboten hat, verwendet. Offensichtlich haben Sie sich nicht die Mühe gemacht, meine Darstellungen zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn die von mir empfohlenen Internetseiten aufzusuchen.
Bevor wir uns nun über Schuld oder Unschuld unterhalten wollen, müssen wir uns auf den Tathergang einigen. Was ist an besagtem Ort passiert?
Glücklicherweise liegt die Beschreibung einer dritten Person, Sophia Nabokov, vor. Der Artikel Frau Nabokovs wurde im Internet bereits veröffentlicht. Er bildet eine vorzügliche Grundlage für juristische Einschätzungen.
[Tathergang:]
Sklave des Logos / Kill me America!
- Performance des Kollektivs der NEUEN METHODIKER zum 4. Juli -
„Der Glaube an die Welt ist das, was uns am meisten fehlt; wir haben die Welt völlig verloren, wir sind ihrer beraubt worden. An die Welt glauben, das heißt zum Beispiel, Ereignisse hervorzurufen, die der Kontrolle entgehen, auch wenn sie klein sind, oder neue Zeit-Räume in die Welt zu bringen, selbst mit kleiner Oberfläche oder reduziertem Volumen“. (Deleuze im Gespräch mit Toni Negri, Futur antérieur, Nr.01, 1990)
Performance des Kollektivs der NEUEN METHODIKER vor der amerikanischen Botschaft,
Unter den Linden. Ein Mann (Till Nikolaus von Heiseler) steht an der Straßenabsperrung zur Botschaft
und wirft plötzlich seinen Mantel ab. Er hat um seine Oberarme und Knöchel dünne
Stoffstreifen gebunden, die die Farbe der Gefangenenkleidung auf Guantanamo Bay
haben und ist ansonsten nackt. Er verteilt Flugblätter. Es ist der 4. Juli, der amerikanische
Unabhängigkeitstag.
Passanten nehmen interessiert das Flugblatt entgegen. Auf ihm ist zu lesen: „Willst du ewig Sklave bleiben? (...) Würde das dominierende operative System in alles eingreifen, griffe es logischerweise auch in unser Denken und unsere Weltbilder ein. Das Ergebnis dieses Prozesses wäre ein Weltbild, in dem das dominierende operative System Gesellschaft differenziert, hierarchisiert und somit Identitäten schafft. Dann wärst du als Person sein Produkt, es gäbe dir deine Identität, produzierte Zeichen, generierte deinen Sinn.“
Nach wenigen Minuten wird dem nackten Mann ein Karbon-Mantel übergeworfen, der an die Kleidung der Matrixfilme gemahnt. Als man versucht, ihn abzuführen, beginnt er wild zu schreien. Einzelne Wortfetzen sind zu verstehen: „Sie bringen mich in die Amerikanische Botschaft. Ich will nicht auf die Insel! Helft mir!" Die Gäste des Einstein Cafes sehen beängstigt oder belustigt zu. Eine Frau lacht. Die Polizisten scheinen es mit einem Wahnsinnigen zu tun zu haben. Nach einem 20-minütigen Verhör wird jedoch klar: Es handelt sich um eine Performance des Kollektivs der NEUEN METHODIKER, einer Künstlergruppe, die seit Mitte der 90er Jahre Performances im öffentlichen Raum durchführt.
Die obige Beschreibung meiner vermeintlichen Zuwiderhandlung teile ich und würde diese Beschreibung des Handlungshergangs von Sophia Nabokov gerne für Sie, Frau Thieme, mit meinem Blut unterzeichnen. Dies würde dann auch einen tatsächlichen Briefwechsel mit Ihrer Behörde sinnvoll machen und u.U. auch den Geruchssinn in unsere Kommunikation mit einbinden. Wenn Sie dieser Beschreibung, die am Ende meines Blutes gar nicht bedarf, widersprechen möchten, sollten Sie dies unbedingt und unverzüglich tun.
...im Übrigen berufe ich mich bei meinem Einspruch auf die Freiheit der Kunst (bitte stellen Sie sich mich [Foto auf der Seite: www.neue-methode.de/html/Das_Kollektiv.htm] dieses mit einem Finger tippend vor, da ich meine andere Hand zur Faust geballt gen Himmel hebe) und widerspreche, dass mein Nacktsein dazu geeignet war, die Allgemeinheit zu belästigen u n d die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen.
Die öffentliche Ordnung wird definiert als die Struktur tradierter Sitten. Diese bestehen aus Regeln, die von der Allgemeinheit zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort für ein gedeihliches Zusammenleben für unabdingbar gehalten werden. War also meine Aktion, nackt (aber mit Stoffstreifen in der Farbe der Guantanamo-Gefangenenkleidung um Arme und Knöchel) am amerikanischen Unabhängigkeitstag Flugblätter vor der Absperrung zur Amerikanischen Botschaften zu verteilen, dem gedeihlichen Zusammenleben abträglich?
Ob das Nacktsein in der Öffentlichkeit gegen die herrschende Anschauung verstößt, hängt von den Umständen, insbesondere von der Örtlichkeit, ab. Die betreffende Örtlichkeit (Unter den Linden) wird nicht zu meditativen Zwecken oder zur religiösen Praxis aufgesucht, sondern vor allem, um etwas zu erleben...
Unsere Performance stellte eine künstlerische Bereicherung des besagten Ortes dar und wurde als solche von Touristen auch durchaus goutiert. (Ich fragte mich sogar
schon, ob ich den Massengeschmack
nicht etwas zu sehr getroffen hätte und
nahm mir vor, das nächste Mal die Sache
etwas radikaler und gnadenloser anzugehen:
„Gnadenloser“, sagte ich, als ich
die Flugblätter verteilte, „das ist alles zu leicht,
zu sicher, zu wenig gnadenlos.“)
...denn genau genommen ist Performance als Kunstform mindestens 50 Jahre alt und an und für sich nicht interessant.
(geflüstert:) Für mich war das Aufregende, dass die Passanten meine Imagination übernahmen. Ich stellte mir vor, nicht nackt zu sein, und verteilte die Flugblätter, als wenn ich immer Flugblätter verteilen würde und dies das Normalste von der Welt wäre. Und die Leute nahmen mir die Flugblätter ab und lasen, was wir geschrieben hatten.
Ein Passant übersetzt und erklärt einem Amerikaner das Flugblatt. Im Hintergrund zwei Polizisten und der von ihnen festgesetzte Performer.
Die Personen, die stehen blieben, blieben also deshalb stehen, weil ich ihnen zuvor ein Flugblatt gegeben hatte, welches sie nun lasen.
* * *
Doch vielleicht befinden wir uns auf diesem Weg, diesem feigen Geschleime von wegen: „Ich habe doch nur den Clown gemacht und meine Aktion stellte eine Bereicherung dar“ auf dem Holzweg. In welcher Hinsicht? Vielleicht in jeder Hinsicht: in philosophischer Hinsicht, in literarischer Hinsicht und auch im juristischen Sinne.
Denn: Ob nun die Anwesenden eher angezogen, eher belustigt, eher erregt, eher angeregt, eher aufgeregt, eher beleidigt oder eher angeekelt waren, ist, denke ich – vor allem im Nachhinein -, schwer auszumachen. Wie sollte man alle zufällig Anwesenden kontaktieren und – würden sie die Wahrheit sagen? Wie verändert das Vergehen von Zeit die Bewertung von Ereignissen? Wie ließen sich Traumata, die von der besagten Tat herrührten, ausmachen? Wir können Vergangenheit ja nur aus dem Jetzt aktualisieren. Und überhaupt: Wie in so viele Köpfe gucken?...
(geflüstert:) Wie alt sind Sie eigentlich? Sie kennen meine Geburtsdaten und meinen Geburtsort; wäre es da nicht nur gerecht, dass ich auch Ihre/n Geburtsort und –daten erführe?
Wir wollen uns nun vorstellen, wie es Ihnen, Frau Thiem, erginge, wenn Sie mich splitterfasernackt betrachten könnten/dürften/müssten. Würde ich ihre Augen beleidigen?
Lassen wir die Frage offen und bemerken, dass uns ihre Beantwortung auch nicht viel weiter brächte, da ihre Person unter Umständen gar nicht repräsentativ ist.
Conclusio:
Wir müssen uns von einer Definition her dem juristischen Problem zuwenden, da weder empirisch noch durch das Hinabsteigen in die Thiem’sche Psyche rechtes Weiterkommen möglich scheint.
Da ich mich also auf die Freiheit der Kunst berufe, stellt sich die Frage:
Was ist Kunst?
Die Beantwortung dieser Frage stellt eine meiner Lieblingsbeschäftigungen dar und ich fröne dieser Lieblingsbeschäftigung sowohl in theoretischer als auch in praktischer Weise. Normalerweise - wenn ich über Kunst spreche - spreche ich entweder über Kunst als etwas, das im Kunstsystem Sinn bekommt, oder aber über die gesellschaftliche Bedeutung von Kunst und ihre Interaktion mit Gesellschaft.
Hier allerdings interessiert etwas anderes: eine kurze handhabbare Definition, die Kunst von Nicht-Kunst scheidet und auf diese Weise zum juristischen Instrument werden kann.
Definition_01
Aus einem Gerichtsurteil:
„Kunst ist schöpferisch und Ausdruck eines persönlichen Erlebnisses oder der kommunikativen Sinnvermittlung.“
– Ich berufe mich auf kommunikative Sinnvermittelung:
Hierzu ein weiterer Auszug aus dem Artikel von Frau Nabokov:
Heiseler geht es um „die Erzeugung von Deutungsvielfalt und einer negativen Dialektik. Das Flugblatt enthielt eben keine konkrete Forderungen, sondern stellt die Frage, von welchem Ort aus Kritik überhaupt noch möglich wäre. Man könnte mit Deleuze formulieren: ‚Vielleicht sind Wort und Kommunikation verdorben. Sie sind völlig vom Geld durchdrungen: nicht zufällig sondern ihrem Wesen nach.’ – all unser Denken einschließlich vermeintlicher Kritik ist Funktion und Ausdruck einer gesellschaftlichen Totalität. Vielleicht müssen wir uns abwenden vom Wort, von Erklärungen und Programmatik, um leere Räume der Nicht-Kommunikation zu schaffen, störende Unterbrechungen, um der Kontrolle zu entgehen.“
In der „Trilogie des politischen Zweifels“ geht es darum, Protestaktionen wie Kleidungsstücke anzuprobieren, um sowohl den Verhältnissen als auch der Kritik an ihnen kritisch zu begegnen. Das kritische Denken muss unter heutigen Umständen, wo jeder Gedanke schon von seiner Profitnützlichkeit geformt wird und als Text sein Verkauft-werden-Wollen in sich trägt, sich gegen sich selbst verkehren und zur Aktion werden.
Weitere Informationen: www.neue-methode.de
Die negative Dialektik unserer Haltung, also das Gegen-sich-selbst-Denken, darf keineswegs als Nicht-kommunizieren-Wollen einer Idee interpretiert werden. Dass die Idee sich gegen sich selbst richtet, bedeutet zwar eine Negation, welche aber nicht mit dem Nichtvorhandensein einer Idee in eins zu setzen ist.
Nun drei durchaus wichtige und gewichtige Definitionen (die juristisch gebräuchlisten):
Definition_02
Formeller Kunstbegriff (veraltet): Kunst ist gegeben, wenn das Werk Strukturmerkmale aufweist, auf deren Grundlage das Werk einem bestimmten Werktyp zugeordnet werden kann: Theater, Bildhauerei, Malerei, Performance, I-Net-Kunst etc.
Ich beziehe mich auf eine künstlerische Tradition, die vielleicht damit anfing, dass Aleister Crowley in der feinen Pariser Gesellschaft auf den Teppich schiss. Aleister Crowley war ein etwas verwirrter Mann und begriff gar nicht, dass er soeben eine neue Kunstform geschaffen hatte. (Er begriff sich selbst als Magier und verstand Magie als 'the science and art of causing change in conformity with will.')
Was ich mir jetzt vor dem Horizont der medialen Möglichkeiten und dem engen Verknüpftsein von Protestbewegungen und Medien vorstelle, wäre diese Form der „sittenirritierenden Performance“ mit Aktionen zu verbinden, die von den Protestmärschen von Mahatma Gandhi inspiriert würden.
Der Unterschied zur aktuellen Aktion wäre zunächst die Anzahl der an der Performance Beteiligten. Zum Beispiel könnte man eine unangemeldete Demonstration der Nackten (ohne Schilder, ohne Transparente= mit leeren Händen) zur amerikanischen Botschaft machen und gegen die Gefangenenbehandlung in Guantanamo Bay und im Krieg gegen den Irak protestierten. Die Botschaft hätte kein Sicherheitsrisiko, Gewalteinsatz würde sich dementsprechend selbst diffamieren, die Medienwirksamkeit wäre garantiert.
Was halten Sie davon?
Wie wäre hier im Falle von Festnahmen zu argumentieren?
Aber ich irre ab, kommen wir zur nächsten Definition.
Definition_03
Materieller Kunstbegriff: Kunst ist gegeben, wenn das vorliegende Werk das geformte Ergebnis einer freien schöpferischen Gestaltung ist.
Hier würde ich Sie fragen, verehrte Frau Thiem: Würde man nach dieser Definition unsere Aktion als Kunst werten können? ------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Persönlich finde ich diese Definition, die wohl die toleranteste ist, etwas schwammig.
Bitte, ergreifen Sie das Wort....
Definition_04
Offener Kunstbegriff. Kunst ist gegeben, wenn das vorliegende Werk interpretationsfähig und -bedürftig, sowie vielfältigen Bezügen zugänglich ist.
Für Sie, werte Frau Thiem, scheint mir das Werk allerdings außerordentlich interpretationsbedürftig und die Bezüge sind, wie ich ja schon darlegen durfte, mannigfaltig.
Definition_05
<Mindermeinung>
Kriterium der Drittanerkennung: Kunst ist geben, wenn ein in Kunstfragen kompetenter Dritter es für vertretbar hält, das Werk als Kunstgegenstand zu qualifizieren.
Ich könnte Ihnen eine von sagen wir einmal 10 namenhaften Galeristen signierte Liste übersenden, worin diese bestätigen, dass Sie meine Aktion als Kunst verstehen.
Für mich wäre dies recht sinnreich, weil ich auf diese Weise meine Arbeit Galeristen vorstellen könnte. Ich meine, kann ein Gespräch mit einem Galeristen in Berlin anno 2004 besser anfangen als mit dem Satz: „Können Sie mir bestätigen, dass ich Kunst mache, sonst komme ich in den Knast.“?
...andererseits, wenn wir hier argumentieren, dass die Aktion deshalb straffrei sei, weil es sich um Kunst handelt, müssen wir auch fragen, wo die Freiheit der Kunst juristisch ein Ende hat. Hierzu könnte es zwei Argumentations-Strategien geben:
1) Kunst und Verbot schließen einander aus.
Dann würde man fragen:
„Ist das noch Kunst oder ist das pervers?“
„Ist das schon kriminell oder ist das noch Kunst?
2) Kunst und Verbot schließen einander nicht aus. Damit könnte etwas sowohl verboten als auch Kunst sein. Es gäbe dann also eine Grenze der Kunstfreiheit.
...meiner Meinung nach gibt es keine Dichotomie zwischen Perversität resp. Verbrechen/Kunst, sondern etwas kann durchaus Kunst und verboten und meinetwegen auch noch pervers sein: Etwas kann Kunst sein und nicht pervers oder es kann nur pervers sein oder pervers und Kunst oder, was der häufigste und uninteressanteste Fall ist, weder Kunst noch pervers.
... dass Kunst und Verbrechen allerdings in der Allgemeinheit und maßgeblichen Öffentlichkeit als binäre Gegensätze gedacht werden, wurde durch die Aufregung angezeigt, die Karl-Heinz Stockhausen mit seiner Äußerung über den 11.September auslöste. Stockhausen sagte: „Was da geschehen ist, ist natürlich - jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen - das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat." Das hatte Folgen: Stockhausen verschwand aus fast allen Konzert- und Rundfunkprogrammen und die Stadt Kürten bei Köln, wo er wohnt, wollte seine Sommerkurse streichen.
...wie auch immer, ob es nun perverse und illegale Kunst gibt oder man Perversion und Illegalität als künstliche Kunst-Gegensätze denkt, wir müssen uns hier und jetzt die Frage nach den juristischen Grenzen der Kunst bzw. Kunstfreiheit stellen...
Könnten Sie mich über die Schranken der Kunst rechtlich belehren?
In froher Erwartung einer vielsagenden Antwort verbleibe ich...
Glück zu allen!
till nikolaus von heiseler
P.S.
Damit Sie sich selbst ein Bild machen können, lege ich Ihnen das Video auf CD bei.
P.P.S.
...wenn Sie möchten, mache ich auch ein Interview mit einer der damaligen Kellnerinnen im Einstein Cafe und schicke es Ihnen zu....
P.P.P.S.
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