[rohrpost] Die Zeit ist aus den Fugen

Tilman Baumgärtel mail at tilmanbaumgaertel.net
Fre Jul 9 10:28:02 CEST 2004


Hallo!

Heute ist in der taz ein Artikel über nicht-lineares Kino am Beispiel 
einiger neuer Filme erschienen.

Wer hat an der Uhr gedreht?

Wenn die Zeit aus den Fugen gerät: Immer mehr neue Filme lassen die 
klassisch-lineare Erzählweise hinter sich. Reagiert das Kino damit auf die 
neuen Möglichkeiten, die DVD und digitale Montage bieten? Von "Vergiss mein 
nicht" über "Reconstruction" bis "Elephant": Eine aktuelle Spurensuche

http://www.taz.de/pt/2004/07/09/a0361.nf/text

Weil der Text aus Platzgründen gekürzt werden musste, schicke ich hier mal 
die Vollversion herum.

Gruesse,
Tilman



Von A nach B...

... und wieder zurück. Im Kino ist die Zeit aus den Fugen geraten. 
Anmerkungen zu nicht-linearen Erzählweisen des „postklassischen Films“ im 
Zeitalter von AVID und DVD


Um 10 Uhr 40 ist Will Kane, der Marshall von der Wild-West-Stadt 
Hadleyville gerade seine Amy heiraten, als der Bahnhofvorsteher in die 
Feier platzt: mit dem 12- Uhr-Zug wird der Bandit Frank Miller ankommen, um 
sich an ihm zu rächen. Eine Stunde und 20 Minuten sucht der Marshall nach 
Unterstützern, um sich Miller entgegen zu stellen. Keiner will ihm helfen. 
Um 12 Uhr trifft Miller ein, und macht sich auf die Suche nach Kane. Kurz 
nach 12 liegen vier Leichen in der Stadt; Will und Amy fahren davon.

So wie in dem Western „High Noon“ erzählte das Kino in seiner „klassischen“ 
Periode seine Geschichten  im Fall von Fred Zinnemanns Film sogar in 
Echtzeit: „High Noon“ ist genauso lang wie das erzählte Ereignis. Eins nach 
dem anderen  nach diesem Motto erzählt das Kino seit über hundert Jahren 
üblicherweise seine Geschichten. Der Film „baut sich ebenso aus Sätzen auf 
wie der Satz aus Intervallen“, schreibt der russische Revolutionsfilmer 
Dziga Vertov in einem seiner Manifeste über das Kino, das ein „System von 
auf einander folgenden Bewegungen“ sei. Daran hat sich bis heute wenig 
geändert.

Doch in einer Reihe von neueren Filmen ist die Zeit aus den Fugen geraten. 
Es sind vielleicht nicht genug, um von einer neuen Welle oder einer echten 
Revolution in der Kinosprache zu sprechen. Aber in den letzten Jahren und 
besonders in den letzten Monaten sind auffallend viele neue Filme ins Kino 
gekommen, die das lineare Ablaufen der Zeit thematisieren und 
unterminieren. Filme wie „Vergiss mein nicht“ von Michael Gondry oder 
„Elefant“ von Gus van Zandt, mit Einschränkungen auch „50 erste Dates“ 
von  Peter Segal, „Spider“ von David Cronenberg und „Reconstruction“ von 
Christoffer Boe haben alle eins gemeinsam: In ihnen hat die Zeit aufgehört, 
geradlinig abzulaufen. Sie springt vorwärts und rückwärts, wiederholt sich, 
kommt auf Vorangegangenes zurück, beginnt immer wieder aufs neue.

Waren es in der Vergangenheit seltene Ausnahmefilme wie Stanley Kubricks 
„The Killing“ (1956) oder „Letztes Jahr in Marienbad“ (1961) von Alain 
Robbe-Grillet und Alain Resnais, die sich Freiheiten bei der Darstellung 
von Zeitabläufen herausnahmen, taucht diese Idee nun in teuren 
Mainstream-Filmen auf. Wenn man sich die letzten Kinojahre ansieht, fallen 
einem weiteren Beispiele ein, in denen die Zeit und die Bilder nicht mehr 
wie auf eine Schnur aufgezogen aufeinander folgen. In ihnen hat sich die 
Zeit zu einem Zirkel oder einer Möbius-Schleife zusammengeschlossen („Und 
ewig grüßt das Murmeltier“, „Lost Highway“, „Twelve Monkeys“). Oder sie 
bewegt sich in einer Art Krebsgang hin und her („Pulp Fiction“). Sie läuft 
rückwärts („Irréversible“) oder rast aus Gegenwart und Zukunft gleichzeitig 
auf die Gegenwart zu („Memento“).

In Filmen wie „Und ewig grüßt das Murmeltier“ oder „Lost Highway“ beginnt 
die Zeit in einem Milieu von Medienproduzenten, Fernsehen und Hollywood 
damit, sich um sich selbst zu drehen. Man könnte diese Filme verstehen als 
Zeichen post-moderner Langeweile, dem nagenden Unbehangen darüber, dass 
„alles schon mal dagewesen“ ist. Oft sind es auch  wie in „50 erste Dates“, 
„Memento“ oder „Spider“  die Folgen von Amnesie oder anderen 
Geistesstörungen, die im Bewusstsein der Protagonisten den geradlinigen 
Ablauf der Zeit unterbrechen. Man könnte dieses Kino-Phänomen daher auch 
mit einem unbewussten Wunsch nach „Abschalten“, als eine Kapitulation vor 
den auf uns einprasselnden Bilder und Daten interpretieren. Diese Filme 
wären dann das Equivalent zu den im Bekanntenkreis zunehmenden Klagen 
darüber, dass die „innere Festplatte“ voll sei, man also keine neuen 
Information mehr aufnehmen könne.

Die Idee von einer Festplatte im Kopf liefert das Stichwort, um im 
folgenden eine andere Lesart dieses Phänomens vorschlagen. Vielleicht sind 
diese Filme das Symptom einer Krise, die das traditionelle Kino in der 
Konkurrenz mit den neuen, digitalen Medien durchmacht. Denn diese neuen 
Medien scheinen nicht nur in punkto Erfolg das traditionelle Kino hinter 
sich gelassen zu haben (bekanntlich wird mit Computerspielen heute mehr 
Geld verdient als an der Kinokasse). Nein, vor allem stellen sie ihren 
Nutzern ganz andere Möglichkeiten des Zugangs zu ihren „Inhalten“ zu 
Verfügung. Die nicht-linearen Filme holen nicht nur eine Entwicklung nach, 
die die moderne Kunst und Literatur schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts 
hinter sich gebracht hat. Sie handeln vor allem von den veränderten 
technischen Bedingungen, unter denen sie entstanden sind.

Im Kino ist  wie bei allen traditionellen, analogen technischen Medien vom 
Grammophon über das Tonband bis zu Video  der Zugriff immer durch eine 
lineare Logik geprägt. Sie speichern ablaufende Zeit und geben sie 
anschließend in ihrer ursprünglichen Reihenfolge wieder. Zwar kann, was auf 
Film, Ton- oder Videoband aufgezeichnet ist, anschließend montiert und 
umstrukturiert werden. Das Endprodukt läuft jedoch wiederum unerbittlich 
vom Anfang zum Ende. Die Ausnahme des Vorwärts- oder Zurückspulens (bei 
Video und Tonband) oder des Scratching (bei Schallplatten) bestätigen diese 
Regel höchstens; sie sind in der Regel weder vom Hersteller noch vom 
Kulturproduzenten vorgesehen oder erwünscht.

Erst digitale Medien bieten die Möglichkeit, bewegte Bilder nicht mehr „am 
Stück“ ansehen zu müssen, sondern diese nach eigenem Gusto „durchwandern“ 
zu können, als würde man durch ein Gebäude spazieren. Diese Option hat 
Anfang der 80er Jahre zuerst bildende Künstler fasziniert. „The Digital 
Revolution is a revolution of random access“ („Die digitale Revolution ist 
eine Revolution des beliebigen Zugangs.“), proklamierte der 
Avantgarde-Filmemacher Grahame Weinbren, nachdem er seine ersten 
Installationen mit Videodisks entwickelt hatte. Bei ihnen konnte sich der 
User selbst per Touchscreen durch eine Reihe von Szenen bewegen.

Auch KünstlerInnen wie Lynn Herrshman, Luc Courchesne oder Laurie Anderson 
experimentieren in ihren Arbeiten mit dem nicht-linearen Zugriff auf Audio- 
und Videomaterial. Diese Epoche der Medienkunst war allerdings schnell 
vorbei: Derartige Arbeiten erforderten nicht nur einen hohen, technischen 
Aufwand, sie würdigten ihre Betrachter (oder User?) letztlich zum auf 
simple Stimulation reagierenden Versuchskaninchen herab. Unterdessen traten 
erst der PC und dann das WorldWideWeb ihren Siegeszug an, und machten ihre 
Nutzer mit sogenannten „Hypertext“-Strukturen bekannt, durch die man per 
Mouse-Klick „navigieren“ konnte.

Marshall McLuhan hat in seinem Bestseller „Die Gutenberg-Galaxie“ den 
Buchdruck für die „lineare Kultur“ der Neuzeit verantwortlich gemacht, in 
der komplexe Vorgänge auf lineare Strukturen reduziert würden  so wie der 
Buchdruck Sprache auf in Zeilen angeordnete Worte reduziert. Die analogen 
Medien bis hin zum Film sind dieser Struktur gefolgt  nicht nur technisch, 
sondern auch inhaltlich: das Kino erzählt seine Geschichte in der Regel von 
A nach B, nicht umgekehrt, ohne Verästelungen. McLuhan setzte seine großen 
Hoffnungen auf das Fernsehen, von dessen „Vielstimmigkeit“ und seinem 
„oralen“ Live-Charakter er sich neue, weniger „monokausale“ Methoden, die 
Welt zu zeigen versprach. In den 90er Jahren verband sich die Ankunft von 
nicht-linearen, digitalen Medien mit ähnlichen Hoffnungen. Das Kino 
aber  es lief und lief und lief, immer weiter geradeaus.

Rückblenden und Jump-Cut haben dieses Prinzip zwar in Frage gestellt: aber 
nicht außer Kraft gesetzt. Die Rückblende holt zwar die Vergangenheit 
zurück, bezieht sie aber immer wieder zurück auf die Gegenwart, von der sie 
ausgehen. Der Godard-sche Jump-Cut stört zwar die Illusion des Zuschauers, 
einer linear dargestellten Handlung zu folgen. Aber auch er bleibt 
letztlich so gut wie immer dem linearen Zeitablauf treu, den er nur 
unterbricht, nicht durcheinander würfelt oder umkehrt. Man mag in der 
Linearität und dem hartnäckigen Festhalten des Kinos an ihr einen 
intuitiven Reflex auf die Forschrittsgläubigkeit der Moderne sehen, auf das 
große „Vorwärts“, das am Beginn des vergangenen Jahrhunderts stand (nicht 
umsonst enden die meisten Filme immer noch mit einem Happy End). Dann wären 
die Filme, in denen die Zeit nicht mehr so linear vorwärts in die Zukunft, 
wie im traditionellen Kino abläuft, ein Bruch mit diesem Zukunftsoptimismus.

Gleichzeitig entspricht dieser gerade, kinematographische Zeitfluss einer 
Maxime der klassischen Physik, nämlich der Definition Newtons, dass die 
„absolute, wahre, mathematische Zeit... aufgrund ihrer eigenen Natur aus 
sich selbst heraus ohne Beziehung zu etwas Äußerem gleichförmig“ dahin 
fließt. Die moderne Physik und die moderne Philosophie haben ein anderes 
Zeitbild: Einstein hat Zeit als etwas Relatives, keineswegs immer 
gleichförmig Ablaufendes beschrieben. Der französische Philosoph Gaston 
Bachelard hat die Zeitdauer als von „Diskontinuität und großzügiger 
Heterogenität“ geprägt beschrieben.

Freilich, „Pulp Fiction“ ist keine Filmversion der Relativitätstheorie. 
Eher sind die Filme, in denen Zeit nicht mehr nach linearer Logik abläuft, 
wohl ein Zeichen dafür, dass das jahrelange Sitzen vor 
AVID-Schnittcomputern bei einigen Regisseuren einen bleibenden Eindruck 
hinterlassen haben muss. Im Gegensatz zur traditionellen Montage, bei der 
die Filmstreifen am Schneidetisch aneinander gestückelt werden, überträgt 
man beim „non-linear editing“ das gesamte Filmmaterial auf den Rechner und 
fügt sie in beliebiger Reihenfolge aneinander. Der Regisseur und der Cutter 
sehen die verschiedenen Szenen, die sie aneinander fügen wollen, 
gleichzeitig auf dem Monitor, und können sie neu kombinieren, andere 
Abfolgen ausprobieren. Wenn die Aufgabe der Kinomontage zuvor vor allem 
darin bestand, die verschiedenen Szenen und Zeitabläufe in eine lineare 
Ordnung zu bringen, dann lässt einen das nicht-lineare Schneiden erfahren 
wie willkürlich diese Eingriffe in die Filmzeit letztlich sind.

Auch dem Konsumenten bieten sich inzwischen diese Möglichkeiten. Vor 
einigen Jahren war er noch gezwungen, dem Von-nach-B-Abspulen der 
Videokassette zu folgen. Die DVDs, die meist wie Bücher nach Kapiteln 
organisiert sind, lassen den User nach eigenen Vorstellungen auf das 
Filmmaterial zugreifen und machen ihn so selbst zum Cutter. Leider sind die 
DVDs noch selten, die diese Möglichkeit so ausnutzen die wie von „Memento“: 
Dort ist auf der DVD eine Version des Films versteckt, die den ganzen Film 
nicht rückwärts, sondern ganz konventionell von Anfang zum Ende erzählt. 
Hier triumphiert das lineare Medium Film noch einmal über die 
nicht-linearen Zugriffsmöglichkeiten der digitalen DVD.