[rohrpost] Über Neoismus

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Mon Okt 11 17:33:24 CEST 2004


Am Montag, 11. Oktober 2004 um 16:08:45 Uhr (+0200) schrieb auer at kunsttot.de:
> -----------------------------------------------------------
> tell.net - Veranstaltungsreihe zur Netzkultur
> http://www.stuttgart.de/stadtbuecherei/tell_net/
> -----------------------------------------------------------
> Oliver Marchart
> Neoismus die letzte der Avantgarden

Ich bin heute der Ansicht, daß es nicht einen Neoismus gibt,
sondern viele Neoismen. Dies ist die logische und sinnvolle Konsequenz
daraus, daß Neoismus mit Paradoxien und multiplen Identitäten operiert
und daher als solcher nicht auf bloß einen Neoismus reduzierbar sein
sollte.

Für den "eigentlichen" Neoismus, den von Istvan Kantor Anfang der 80er
Jahre in Montreal begründeten, scheint sich niemand zu interessieren,
obwohl er ja erst letzte Woche live und mit Originalprotagonisten
(Istvan, Gordon W., Niels Lomholt, Georg Ladanyi) in Berlin beim "Dept
Festival" zu erleben war.

Daneben gibt es eine Reihe von postsituationistischen Subkultur-Gruppen
der 90er Jahre, den man i.d.R. erst nachträglich das Label "Neoismus"
verpaßt hat, weil kein griffigerer Name zur Hand war. 

Und dann gibt es Neoismen, die als private Fiktionen und Obsessionen von
Historikern und Theoretikern betrieben werden. Dazu zähle ich neben dem
Neoismus von Stewart Home auch jenen Oliver Marcharts. Es verhält sich
hier mit dem Neoismus ähnlich wie mit der Kabbala. Da die Kabbala selbst
spekulativ ist, wird jeder ihrer Theoretiker und Historiker nolens
volens selbst zum Kabbalisten (so also auch Gelehrte wie Gershom Scholem
und Moshe Idel, oder christliche Kabbala-Interpreten wie Pico della
Mirandola, Johannes Reuchlin, Knorr von Rosenroth und Athanasius
Kircher). 

- Dies, und darin implizit das unendliche Fortschreiben des Phantoms
Neoismus bis heute, widerlegt aber die These von Neoismus als "letzte[r]
der Avantgarden". 


Gegenvorschlag: Wenn es eine vorerst letzte Kunst-Avantgarde gegeben
hat, dann die der "Net.art", d.h. jener Netzkünstler-Gruppe der 90er
Jahre, die sich Net art mit "." dazwischen nannte. Im Gegensatz zum
Neoismus gab es richtige, und sogar z.T. gute und formal innovative
Kunst in der Net.art, es gab Manifeste und eine Avantgarden-typische
Koppelung von Kunst- und Politkultur-Programmen, hier vor allem im
Anspruch einer antikorporatistischen "Netzkultur".  Neben dem
dot.com-Crash gab es auch einen Net.art-Crash in dem Sinne, daß sich die
Netzkunst eben nicht als Zentrum und Motor einer unabhängigen Netzkultur
bewies, sondern diese Netzkultur hauptsächlich von der Freien
Software-Bewegung und ihren technischen Erfindungen wie Weblogs und
Wikis geprägt wurde.


Interessant ist nun, daß Oliver zwar auch die Net.art als Zeitzeuge und
Begleiter aus erster Hand kennt, weitaus besser sogar als den Neoismus
[sofern letzterer sich sozial und nicht in Sekundärliteratur
manifestierte], aber Neoismus als Studienobjekt einer "letzten
Avantgarde" vorzieht. Weil es leichter ist, dem Widersprüchlichem seine
Bedeutung nachträglich zu definieren, ohne daß jemand zu widersprechen
wagt?

Achtung, wer behauptet, "über" Neoismus zu sprechen, ist der
gefährlichste Neoist von allen!

-F

-- 
c/o Media Design Research, Hogeschool Rotterdam
Overblaak 87, NL-3011 MH Rotterdam
http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/