[rohrpost] betrifft: deutsche medientheorie

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Mit Okt 13 22:34:17 CEST 2004


Am Mittwoch, 13. Oktober 2004 um 20:23:04 Uhr (+0000) schrieb geert:
 
> ich moechte fragen wer interessiert ist sich ueber die frage zu auessern
> ob es eine deutsche medientheorie gibt/gaebe/geben sollte. 

Vorschlag: 

Es gibt und gab nicht eine deutsche Medientheorie, sondern verschiedene
deutsche Medientheorien und -theorieansätze, die oft auf spezifisch
deutsche oder zumindest kontinentaleuropäische Philosophie- und
Denktraditionen rekurrieren.  Für eine Medientheorie, die ihre eigene
Denktradition begründet hätte, ist schon der Begriff "Medium" zu schwach
und zu schwammig, es sei denn, man ist ein kreativer unsystematischer
Kopf wie McLuhan oder Lev Manovich - und damit nicht sehr deutsch, oder
zumindest kein deutscher Universitätsprofessor.

Beispiele für die Rekurrenz deutscher Medientheorien auf
Philosophietraditionen sind leicht aufgezählt: Walter Benjamins Thesen
zu Reproduzierbarkeit, Kult- und Ausstellungswert im "Kunstwerk"-Aufsatz
schreiben hegelianisch-geistesgeschichtliche Denkfiguren fort, die
Radiotheorie Brechts und ihre Fortschrift von Enzensberger 1970 einen
utopischen Marxismus bzw. Anarchismus, denen ebenfalls historische
Fortschritts- und Erlösungsgedanken zugrundeliegen. 

Die Informationsästhetik Max Benses kombiniert Peirces Semiotik mit
Shannons Informationstheorie, jedoch mit dem kontinentaleuropäischen
Impetus, künstlerische Programme der Abstraktion und des Funktionalismus
der Vor- und Nachkriegsavantgarden fortzuschreiben. Friedrich Kittlers
Medientheorie kombiniert Foucaults Diskursanalyse mit Heideggers
Technikphilosophie mit Nietzsches Projekt (und Schreibgestus) einer Ver-
und Zerstörung idealistischer Denktraditionen. 

(Von den o.g. Autoren sprechen allerdings nur Enzensberger und Kittler
wörtlich von "Medien" und "Medientheorie", vermutlich, weil erst sie
auf McLuhan reagieren.)

All diese Zuschreibungen sind zugegebenermaßen grobkörnig.  Dennoch sind
die o.g. Theoretien ohne diese Referenzen kaum nachvollziehbar. Einer
angloamerikanischen, an empirisch-analytischen Denktraditionen
geschulten Leserschaft z.B. Kittlers Gesamtprojekt der "Austreibung des
Geistes aus den Geisteswissenschaft" schlicht unverständlich sein.

> wenn es franszosische philosophie gibt, warum dann auch nicht deutsche
> medientheorie? 

Gegenfrage: Du sprichst von französischer Philosophie, aber nicht von
französischer Medientheorie. Was wäre denn letztere? Doch auch nur
Baudrillard und Virilio, und höchstens noch, wenn man den Begriff sehr
dehnt, Deleuze/Guattari? 

> waere deutsche medientheorie ein exportprodukt oder eher
> ein gelungerer fehlschlag? 

Gewiß kein Exportprodukt, bis auf die Theorien der Vorkriegszeit, die im
weitesten Sinne Medien zum Gegenstand hatten, also neben Brecht und
Benjamin auch Kracauer und Adorno/Horkheimer. Ich wüßte nicht einmal,
welche deutsche Nachkriegs-Medientheoretiker, außer Friedrich Kittler,
in nennenswertem Umfang ins Englische übersetzt sind.

> ist der often spekulativen ansatz zeichen
> seiner staerke oder verbirgt sich hinter der begriffslawine eher
> ohnmacht, kulturpessimismus und mangel an praktischen kenntnissen der
> (neue) medien und seinen pragmatischen funktionalitaeten?

Letzteres: Ja. Seit den 1990er Jahren nennt jeder
Geisteswissenschaftler, der etwas auf sich hält, auch "Medien" als sein
Forschungsgebiet. Das praktische Analphabetentum auf diesem Gebiet, die
Nicht-Beherrschung elementarer "neu-medialer" Kulturtechniken
(angefangen mit E-Mail) und grundsätzliches technisches Nichtwissen
spotten jedoch jeder Beschreibung und liefern immer wieder
Real-Gelehrtensatiren.

Auch Deiner Diagnose von Ohnmacht und Kulturpessimismus stimme ich zu.
Daß "die Medien" autonom seien, der Mensch also "den Medien" ohnmächtig 
ausgeliefert sei, und daß dies das Ende traditioneller Kultur bedeute,
ist der rote Faden, der sich durch praktische alle deutschen
Medientheorien zieht, deren Autoren ungefähr vor 1955 geboren wurden.
Man findet dieses Leitmotiv entweder in pessimistisch-negativer Färbung
vor oder, in dialektisch-spiegelbildlicher Verkehrung, als Bejahung
eines postmodernen "Stop Making Sense". 

-F


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