AW: [rohrpost] betrifft: deutsche medientheorie

Harald Hillgärtner hillgaertner at tfm.uni-frankfurt.de
Don Okt 14 16:56:55 CEST 2004


Hallo,

der Diagnose vieler Einzelnamen kann man sich ja nur anschließen. Wobei es natürlich erstaunlich ist, wie viele "Einführungen" in die Medienwissenschaft in den den letzten beiden Jahren erschienen sind, obwohl es doch keine Medienwissenschaft gibt und dies zumindest bei den Bänden, in die ich rein geschaut habe, auch jeweils in den Einleitungen kritisch erwähnt wird. 
Aber diese "Institutionalisierungsschwäche", wenn man es so nennen möchte, wird ja auch schon seit längerem beklagt. Zumindest seit 1988 in dem Bd. "Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft" (in dem der Aufsatz von Hickethier im übrigen sehr lesenswert ist). Interessant ist sicherlich auch der groß angelegte Versuch, eine integrales Konzept von Medienwissenschaft zu entwickeln, in dem außerordentlich umfangreichen und teuren dreibändigen Handbuch "Medienwissenschaft" im Gruyter-Verlag (1999). Es ist in der Tat der Versuch, Publizistik, sozialwissenschaftliche Medienforschung und Geisteswissenschaft unter einen Hut zu bringen.
Aber vielleicht ist dies auch der falsche Weg, oder die falsche Fragestellung. Vielleicht wäre es fruchtbarer, nach gemeinsamen Gegenständen (wie Fotografie, Schrift, Computer, Rundfunk etc.) zu fragen. Vielleicht würden sich hier Spezifika im deutschsprachigen Raum herauskristallisieren. Etwa im Anschluss an Flusser oder an Kittler oder an Benjamin oder an Horkheimer/Adorno oder...
Ist es vielleicht am Ende gar kein Manko, keine disziplinierte Disziplin zu sein?
 
> In dem Moment jedenfalls, in dem die akademische Gründungswelle langsam 
> ausläuft, setzen (auch das ist nicht besonders neu) Phänomene wie 
> Guidenliteratur, Kanonbildungen, Schul(re)konstruktionen, nationalitäre 
> Unterscheidungen usw. ein. Eine Erklärung, die über eine Aufzählung des 
> status quo hinausgeht, müßte -- auch da schließe ich mich an -- allemal 
> historisch sein. Und es müßte daher auch von Bereichen die Rede sein, 
> die dank aktueller Umbenennungsstrategien nun scheinbar 
> unterscheidungslos unter "Medien" firmieren, wie z.B. der Publizistik 
> (die sich m.W. in den 1910ern als Ableger der Wirtschaftswissenschaften 
> institutionalisierte) oder der Film- und Fernsehwissenschaft post '68.

> Am 13.10.2004 um 22:34 schrieb Florian Cramer:

>> der Mensch also "den Medien" ohnmächtig ausgeliefert sei,

> PS dazu: Als Nachkriegsstrategie, die die medialen 'Verführungen' und 
> 'Manipulationen' des 'Dritten Reichs' als übermächtig deklariert, damit 
> die Verführten als ohnmächtig entschuldet und zugleich auch die 
> institutionelle Macht der Publizistik plus die exorbitanten 
> Gehaltsforderungen der Werbefuzzis begündet, ist das allemal 
> einleuchtend und vielleicht sogar 'deutsch'...

Der Begriff "ohnmächtig" trifft die Sache nicht. Je nachdem wie weit man "Medien" fasst, geht es doch vielmehr darum, ob Medien nicht als "apriori" aufgefasst werden müssen. Das hat wenig mit Macht und Ohnmacht zu tun.

Viele Grüße,
Harald Hillgärtner.