[rohrpost] betrifft: deutsche medientheorie

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Die Okt 19 18:06:28 CEST 2004


Am Montag, 18. Oktober 2004 um 11:01:12 Uhr (+0000) schrieb geert:

> Ich persoenlich glaube das die DMT eine wirkliche Bereicherung waere
> fuer das internationale neue Mediendiskurs.  

[...]

> Was fehlt ist das 'abartige'. Damit meine ich das zitieren von
> Nietzsche oder Foucault. Es geht um begrifflichen Reichtum, vielleicht
> sogar Poetik um ueber die Sprache der Sachverwalter hinauszukommen. 

Was Du also als die Stärken oder das Potential deutscher Medientheorie
(und -spekulation) siehst, ließe sich auf ein plakatives Schlagwort
bringen: Merve-Verlag. 

Nun schwächelt dieser seit einiger Zeit, genaugenommen
seit über einem Jahrzehnt, als Theorieverlag, und ist mit seinen Autoren
alt geworden. (Die Titel, die www.merve.de unter der Rubrik "Neue
Technologien" verzeichnet, u.a. von Kittler, Oswald Wiener, Heinz von
Foerster, Zizek, stammen fast ausnahmslos aus den 80er und frühen 90er
Jahren. Das zuoberst aufgeführte Buch, ein Sammelband zur ars electronica 1989,
wird einem Baudrillard-Zitat beworben, das heute reichlich überholt
klingt: "Alle unsere Maschinen sind Bildschirme, wir selbst sind
Bildschirme geworden und das Verhältnis der Menschen zueinander ist das
von Bildschirmen geworden.") Die Rolle als subversiver Importeur,
eklektischer Filter, Denkprovokateur, inoffizieller Diskursinstitution
und Gegen-Suhrkamp, die Merve einmal hatte, nimmt heute textz.com ein,
letzteres sogar im juristischen Sinne und radikaler als Merve es jemals
gewagt hätte. Nur stellt sich textz.com mit seiner Textauswahl, wie z.B.
"Heidegger für Analphabeten", quer zu einer Vereinnahmung als "deutsch".
Ebenso qualifizieren sich nur die wenigsten Texte auf dem Server als
"Theorie". Stattdessen versammelt und verzeichnet textz.com einen
"Diskurs", bzw. tangentiale Diskurse (im Plural), der zu weiten Teilen
auch ein Diskurs über Medien ist. In gewisser Weise löst textz.com somit
medial und epistemologisch ein, was gerade in Merve-Bänden als
Diskurstheorie beschrieben, aber kaum umgesetzt wurde.·

Vielleicht löst sich das Problem der Definition einer "deutschen
Medientheorie", und überhaupt der Abgrenzung von Kritik und Theorie - um
auf Verenas Einwände einzugehen - wenn man stattdessen von einem
deutschsprachigen Mediendiskurs spricht (und zwar durchaus im Singular,
um ihn nicht völlig zu verwässern), der heterogene Äußerungen und Praxen
von digitaler Kunst, Universitätspublikationen, Verfertigen von
Gedanken in Mailinglisten-Beiträgen etc. einschließt. - Und textz.com ist
dafür der beste Metapher, nicht eine kanonisierende Institution, weil es
selbst ein Hybrid all dieser Diskurse ist.


> Konkret ginge es mir um die Frage wie Eurosprachen (Deutsch aber
> vielleicht auch andere...) sich global positionieren. Deutsch wird von
> 100 millionen Leute gesprochen, wird aber trotzdem oft heruntergeredet
> als bedeutungslos und provinziell. Ich bin damit ueberhaupt nicht
> einverstanden. 

Ich sehe dies etwas anders. Deutschsprachige akademische Medien- und
Kulturwissenschaften kapseln sich vom Rest der Welt ab, weil sie in ihren
Heimatländer nur auf Deutsch kommuniziert und unterrichtet werden, 
ihre akademischen Konferenzen nur auf Deutsch abhalten, und nur auf
Papier und auf Deutsch publizieren. Ich finde es
dringend nötig, die universitäre Lehre in Deutschland zu
internationalisieren, zumindest Teile von Studiengängen auf Englisch
anzubieten, M.A.- und Doktorarbeiten auf Englisch schreiben zu lassen,
und Konferenzen und Publikationen genauso zweisprachig anzubieten, wie
es nichtuniversitäre Festivals und Konferenzen schon lange tun. - Daß
hier in Rotterdam Universitäts- und Kunsthochschulstudiengänge komplett
auf Englisch angeboten werden, sehe ich als großen Vorteil gegenüber
Deutschland. An meiner Freundin, die ihre projektierte Dissertation
nicht auf Deutsch schreiben kann, und ihrer institutionellen Odyssee
durch Berlin, die sehr wahrscheinlich in Holland enden wird, sehe ich
die fatalen Folgen dieser Anachronismen.

> Oder noch konkreter: soll eine Tagung ueber Deutsche Medientheorie in
> Amsterdam auf Englisch gehalten werden? 

Ja, unbedingt, sonst wird das nur ein preaching to the converted, sprich
eine Konferenz für Leute, die diese Theorien ohnehin schon auf Deutsch
gelesen haben.

-F

-- 
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