[rohrpost] Minus delta t, „Bangkok project 2005“

beate zurwehme beate at zurwehme.org
Mon Dez 19 14:04:39 CET 2005


„Bangkok project 2005“, Intervention, 2005
Jorgen Sparwasser & Sascha Anderson
Minus delta t, 2005
Porno Inc. Retrospektive, MMK Frankfurt.
kuratiert von Sascha Anderson

http://netzwissenschaft.org/
http://netzwissenschaft.org/bangkok_project/
(live pictures)

news [alfred 23 harth earth simulation engine]

Am Ansan-Berg, hinterm Haus,vergeht stellenweise das tiefe Rot & Gelb 
der Blätter, die krummen Pinien mit Elstern drauf drängen durch und 
auch die grossen Lotusblätter am Tempelpond hängen schon abgeknickt wie 
Lampenschirme. Wenn ich sie anfasse & von innen betrachte, knistert es 
wie dickes Pergament. Zwei, drei kleine, kurze Blüten im Meer der 
alten, olivbraunen sind frisch & diese seltsamerweise violett. Die 
Farbe einsiedelnder Erleuchteter?

Soonjoo rätselt an ihrer neuen Installation. Sie hat sich von 
hundertfünzig Jahre alter Minhwa-kunst beflügeln lassen. Hier wurden 
auf fantastische Weise Paul Klee, David Hockney und wie sie alle 
heissen vorweggenommen, namenlos. Soonjoo baut ein sich wiederholendes 
Motiv – Tiger & Elster – auf ihre Weise neu. Der letzte koreanische 
Tiger wurde 1923 erlegt. Vom Ansan gesehen,taucht die rote Sonne in 
dunkles Grau über vielschichtigen Hügelhorizonten. Darunter glimmen 
Millionen weisse Neons wie Perlmutt. An der felsigen Quelle auf der 
Anhöhe hocken zwei Mudangs – Schamaninnen – vor Kerzen & beschwören das 
fliessende Quellwasser, oder, was weiss ich,das weiss nicht einmal der 
Multimediahimmel. Eine klopft Steine aufeinander, murmelt, die andere 
wedelt reine Luft mit einem gigantischen Fächer. Incense verströmt, ich 
mache mich unsichtbar ...

Noch vor etwa 25 Stunden hatte ich mich auf dem Airport von Sacheon 
verdächtig gemacht, nur mit einem Rucksack bekleidet, äh, ich meine: 
befrachtet, eine Kappe aufm Kürbis mit nem „Y“ drauf & es wird mir 
klar, dass ich so den Londoner Suicide-Bombern von den CC-TV-Bildern 
ähnele mit meinem Dreitagesbart. Der Flughafen ist ausserordentlich 
scharf bewacht, da in knapper Entfernung, in Busan, ein APEC-Gipfel 
startet. In einem gläsernen Palast am Meer palavern die Anführer des 
Bunte-Binder-Stamms, immerhin alle mächtigen der Welt, einschliesslich 
der Russen, ausser den Europäern, Afrikanern & Ost-Südamerikanern. Mir 
geht auf, dass diese Alphas fast alle meinen Alters sind – ich mochte 
nicht tauschen! Was mache ich mit meinen Träumen, wenn die Spezies der 
Turban- & Bartträger mit rohölfarbenen Augen ausgestorben ist? Wer 
zeigt mir dann die Derwisch-Tänze & Sufi-Töne? Mein Hausverwalter in 
Sachsenhausen? Alle meine Probleme hätten ja mit einem Schuss gelöst 
sein können, der mich vorsorglich am Airport von Sacheon eliminiert 
hätte. Ich bin zur Zeit wieder schiessbegeistert und lasse keine 
Schiessbude aus. Das gibt mir Erfolgserlebnisse, sofort. Aber die 
Koreaner sind lieb. Geröntgt ist mein Rucksack voller Kabel & seltsamer 
Devices: Kopfhörer, iPod, Heizkissen, Mikro, Ladegeräte & Dica. 
Letztere brauchte ich bis zum letzten Batterietropfen, da ein Ladegerät 
nicht funktionierte. Denn innerhalb von drei Stunden vom Haus bis zum 
Leihwagen hatte mich ein fliegender Sessel an die warme 
inselzerklüftete Südküste gebracht.Das Heizkissen wurde überflüssig.

Für zweieinhalb Tage brauchte ich genau die Gage meines jüngsten 
Auftritts auf, für Flug, Wagen, Hotels. Zum Gedenken an Yun Isang hatte 
ich ein Streichquartett mit elktronischen Einsprengseln komponiert und 
nun hielt es mich nicht mehr in Seoul. Ich wollte die Gegend um 
Tongyeon kennenlernen,wo Yun Isang aufgewachsen war.

Seoul ist immer noch voller Wunder. Wenn ich eine neue Gegend 
expeditiert habe, ist mittlerweile in mir bekannten Quartiers wieder 
eine Attraktion entstanden. So jetzt mit dem waghalsigen Neubau der 
Loop-Galerie,wo Soonjoo ihren mutierten Tiger in den Stall stecken will 
...

Oder Itaewan:zwischen einer futuristisch kostbar angelegten 
Subway-Station und dem nagelneuen Samsung-Museum mit drei fabelhaften 
Gebäuden der Stararchitekten Kolhaas/Botta/Nouvel & einer hochaktuellen 
Exhibition von Matthew Barney & Björk erstreckt sich eine wild-urbane 
Strasse vibrierend im Stil des St. Marks-Place in New York, alle 
Hautfarben sind dabei & gleich einen Block links davon gibts eine 
riesige Moschee & auf der andren Seite teure Villas & kleine Strassen 
wie im Tessin ...

Vielleicht sollte ich doch die Maschine mithilfe meines 
Heizkissenrucksacks an mich reissen & in den gläsernen Palast von Busan 
steuern dollarn, wo Wilhelm Busch, Kotz-Omi, Puten, Who & wie sie alle 
wohl heissen vor Kerzenduft & Felsquellwasser Steine aneinanderklopfen 
& Fächer beschwörend wedeln. Zielen kann ich jedenfalls & was für ein 
Geschrei würde das dann danach geben! Vielleicht hätten dann die 
Europäer endlich die Nase vorn – haben sie das nicht? Verdient? Welch 
witzig-naive Fantasie! Ich sags euch, die Mudangs haben mich 
verzaubert. Ich sollte zur Entspannung vielleicht mal wieder einen 
Hollywood-Film angucken, oder mit der deutschen Elf nach Paris pilgern. 
Oh Nein! Na ja, lieber ists mir, dass die Chinesen meine CDs kopieren. 
Das ist doch die neue Waffe! Am Ansan-Berg, hinterm Haus, vergeht ...

Ok, ich bin zurück & im Garten schüttelt Soonjoo unsern kleinen 
schwarz-weissen Kater vom Pinienbaum. Jetzt sind ihre aktuellen 
Rastafari-Locken voll mit Piniennadeln gespickt - sowieso besser als 
Barney & Björk zusammen ... eben reine Generation „X“!

Die kurze Zeit im Inselreich um Tongyeon am Meer hat mir den Kopf 
verdreht: im perlmuttfarbenen SM3 raste ich über Brücken & 
Inselserpentinen, nur um hinter jeder Nadelkurve ein erneutes „Oh“ und 
„Ah“ auszuseufzen beim Anblick des inselbetupften blauen Meers, der 
Fischerboote & nachts der bunt illuminierten Strandhotels. In Seoul 
macht Autofahren keinen Spass. Hier konnte ich alles aufholen.

Hakdong liegt wie ein Mini-Vegas im Naturschutzgebiet an einem 
Kieselsteinstrand vor einer mächtigen Bergkette in deren Nischen sich 
Felsbäche & Tempel verstecken, die Fauna ist prächtig & unberührt. 
Überall Düfte von Eukalyptus, Pinien, Mandarinen. Bambuswälder, 
Kamelienblüten, Orleander; Palmen & Ginkos. Kürbisse zum Kauf am 
Strassenrand zwischen Hanoks – alten traditionellen Schwungdachhäusern 
– und natürlich jede Menge Fisch- und Austernrestaurants. Nach einem 
Tag im Rausch der Sinne – Touristen gibts hier nicht ausser mir! – 
kommen mir Tränen, als mir wieder einfiel,wie sehr sich der ach so 
fälschlich geschundene Yun Isang vergeblich danach sehnte, wieder in 
seine Heimat zurückkehren zu können – sie ist unvergleichlich schön!

Die äusserst liebenswerten Menschen, wie der Bauer, den ich nachts 
mitnehme, die drei uniformierten Schoolgirls mit Dauerlutschern, oder 
der dicke Polizist, der mich zu einer Kreuzung eskortiert; auch alle 
anderen Begegnungen: sie sind immer positiv gestimmt & verbessern die 
Laune permanent.

Der Kieselsteinstrand gehört mit seinem Geräusch der zurücksinkenden 
Kiesel nach jeder sanften Welle – laut Tafel - zu den 100 schönsten 
Klängen Koreas. Nun möchte ich die anderen 99 sofort kennenlernen & in 
mein nächstes Poesie-Album einbauen. Zwei kennen wir schon: Soonjoo & 
die Herbstlotusblätter ...

Sacheon ist eine derbere Hafenstadt. Nachts eine pittoreske Kulisse mit 
seinem Fischmarkt, den von innen rot leuchtenden Strassenbudenzelten, 
dem neonbunten Amüsierviertel für Seemänner & ganz dunklen verlassenen 
Gassen. Am nächsten Morgen ist natürlich wieder überall 
Sonnenscheinbetrieb. Kaum zu fassen, dass hier regelmässig 
September-Typhoone alles zu Mus machen.

Nachdem ich noch über einen prächtigen Brückendreiklang hinweggeschwebt 
war & die Insel Namhae umrundet hatte – die Reisfelder, getrockneten 
Tintenfische & Persimmonbäume konnten mich garnichtmehr schocken – 
kehrte ich in einem Well-being-Rasthaus mit gestampftem Lehmboden und 
typisch tradtionellem Interior ein.Da gabs dann eine doppelte Kürbis 
suppe mit Reisgnocci, Nüssen & gutem Tee.

Anschliessend noch ein Gang über einen Landungssteg, vorbei an Anglern, 
dem ewig saubren grün-blauem Wasser & ich kann mich nicht trennen vom 
Wunsch, mal so einen bunten alten Fischerkutter dort zu steuern. 
Vielleicht das nächste Mal. Soonjoo muss dann wieder helfen ...

Vor der Kurzreise hatte ich angestifteterweise einen sitzenden Tontiger 
geknetet.Nach meiner Rückkehr aus dem südlichen Inselreich macht er 
Männchen – der Ton hat sich beim Trocknen zusammengezogen. Ein sich 
bewegender Tiger aus Ton. Das bewegt mich so wie Welt-nach-richten!

Heute Abend mache ich gleich eine Tonelster.Vielleicht fliegt sie & 
macht sie dann Töne, hahaha!( Aber keine Sorge,danach übe ich noch 
Saxofon. Denn demnächst geht’s dreimal nach Japan & im nächsten Jahr 
zweimal nach Deutschland ...)