[rohrpost] Nachgedanken zur Medientheorie-Debatte
Tilman Baumgärtel
mail at tilmanbaumgaertel.net
Mon Jan 17 03:26:21 CET 2005
Hallo Florian!
Wieso kann man solche begrifflichen Unklarheiten nicht einfach mal als
reizvolle Chance betrachten? Und warum muss man diesen etwas diffusen
Begriff "Medien" unbedingt in ein definitorisches Raster pressen?
Das sind rhetorische Fragen, auf die ich die Antwort natürlich selbst
weiss: damit man eine sinnvolle Diskussion führen kann, muss man Begriffe
haben, auf die sich alle geeinigt haben. Schon klar. Ich selbst habe in dem
Augenblick das Interesse an dem Wiki-Manifest verloren, als dort das Wort
"Medien" durch "Kultur" ersetzt wurde, offenbar, weil der Begriff Medien
als nicht definierbar betrachtet wurde. Ich glaube allerdings, dass eine
endgültige Definition von "Medien" schwierig bis unmöglich ist, zumal der
Gegenstand des Interesses sich dauernd verändert. N und? Hat Dich bei
Deiner Arbeit schon mal die Tatsache behindert, dass Du keine
hundertprozentig wasserdichte Definition von "Medien" hast?
Solche Begriffsdefinitionen und die daraus folgenden Methodendiskussionen,
die sich in Deutschland unter Akademikern ja grösster Beliebtheit erfreuen,
tragen für meine Begriffe wenig dazu bei, zu interessanten Ideen über die
Natur oder Bedeutung dieser Medien zu kommen. Höchstens dazu, einen
Standpunkt oder eine "Schule" zu begründen, die man dann gegen andere
Standpunkte oder Schulen verteidigen kann. Ich finde es besser, erstmal
ohne all zu festgefügte Begriffe an die Phänomene heranzugehen. Also nicht
mit dem Ziel einer Phänomenologie der "Medien", wie Du sie als "vierte
Schule" der Medienwissenschaft beschreibst, sondern als eine Phänomenologie
der vielen tausend Dinge, die mit diesem "Medien" gemacht werden. Kracauer
hat seine "Theorie des Films" auch erst am Ende seines Lebens geschrieben,
und ich finde, es ist sein uninteressantester Text über das Kino.
Ich halte es mit den Medien wie andere mit der Pornografie: ich kann sie
nicht definieren, aber ich erkenne sie, wenn ich sie sehe. Das mag zwar
etwas hemdsärmelig sein, ist mir aber lieber als immer spezialistenhafter
werdende und den Horizont einengende Definitionen. Oder gar Linguistik als
Unterabteilung der Medienwissenschaft, schauder!
Gruesse,
Tilman
PS: Irgendwie fehlt in Deiner ganzen Aufzählung übrigens die
"Medienarchäologie, deren Anspruch u.a. ja auch ist, durch die Ausgrabung
der Vor- und Frühgeschichte der Medien zu Aussagen über Medien heute zu
kommen...
At 00:40 13.01.2005, Florian Cramer wrote:
>Auf die Gefahr hin, ein abgedroschenes Feld neu zu beackern:
>
>In der Medientheorie-Debatte der rohrpost und auch im Wiki war oft die
>Rede davon, daß "Medien" ein unscharfer, unzureichend umrissener Begriff
>sei. In der Zwischenzeit bin ich auf einen Definitionsvorschlag von
>Hartmut Winkler gestoßen <http://wwwcs.upb.de/~winkler/medidef.html>,
>der beim ersten Lesen sofort einleuchtet, bei längerem Nachdenken
>jedoch weiterhin Fragen aufwirft. Hier ein Versuch, den Begriff
>historisch aufzuschlüsseln:
>
>- Der Begriff "Medium" stammt aus der Physik des 19. Jahrhunderts
>und ist eng mit dem (naturwissenschaftlich überholten) Konzept des
>Äthers verknüpft. - Siehe dazu auch Antje Pfannkuchens Arbeit "Vom Vortex zum
>Vortizismus" <http://www.newvortex.de/vortex.html>.
>
>Der Begriff des Äthers wird in metaphorischer Form noch für das
>Radio und andere Funktechniken gebraucht, z.B. wenn davon die Rede ist,
>etwas vom "über den Äther zu schicken". Diese Vorstellung existiert
>implizit auch im kommunikationswissenschaftlichen Modell vom Medium als
>Mittelstrecke zwischen Sender und Empfänger einer Botschaft, wie es
>Anfang des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen Varianten (u.a. im
>Strukturalismus, z.B. bei Jakobson, und in der angloamerikanischen
>Linguistik und Semiotik, z.B. bei I.A. Richards) formuliert wurde.
>
>- Die Computerkultur hat einen vergleichsweise präzisen Begriff von
>"Medium" bzw. "Medien" im Sinne von materiell soliden, in sich
>abgeschlossenen Speichern und Leitern, die von einer Lese-, Schreib- und
>Steuerungshardware abgekoppelt sind, bzw. nur materielle Komponenten der
>letzteren bilden.
>
>Also: Ein CD-Rohling ist ein Medium, ein CD-Laufwerk jedoch nicht und
>ein Computer schon gar nicht. Ein Halbleiter ist ein Medium, ein Chip
>jedoch nicht. Ebenso wenig ist, im Unterschied zum Äther-Modell, eine
>Funkstrecke ein Medium.
>
>- Das Wort Medientheorie geht auf Marshall McLuhan zurück, auch wenn der
>Begriff des "Mediums" im Sinne einer Kommunikations- und Kulturtechnik
>bereits früher, z.B. in Siegfried Kracauers "Theorie des Films" von 1960
>zu finden ist. Leider hat McLuhan eher zur Verwirrung, denn zur
>Definition des Begriffs beigetragen, indem er z.B. elektrisches Licht
>und Handfeuerwaffen als Medien analysiert. "Medium" ist für McLuhan
>somit weitgehend synonym mit Technik im allgemeinen, und wird von ihm
>nur mit der Einschränkung versehen, daß es Technik als Extension
>menschlicher Fähigkeiten beschreibe. (Kubricks "2001" ist, zu weiten
>Teilen, eine praktische Meditation dieser Theorie.)
>
>Die Frage ist nur, inwiefern dies nicht auf alle Technik zutrifft und
>Medientheorie in diesem Sinne schlicht Kulturwissenschaft der Technik
>ist. (In diese Richtung scheint zeitgenössische deutsche
>Medienforschung, wie sie z.B. am Berliner Helmholtz-Zentrum betrieben
>wird, zu tendieren.)
>
>- Ein zweite Art der Medientheorie und -forschung begreift Medien
>wörtlicher als Kanäle im Sinne von Shannons Informationstheorie und
>analysiert die kulturelle Implikationen von Leiterbahnen, elektrischen
>Aufzeichnungstechniken und Schaltungen. (Dies trifft für die von
>Friedrich Kittler und seinen Schülern in den 80er und 90er Jahren
>praktizierte Medienwissenschaft zu.) q}llerdings metaphorisiert und
>metonymisiert letztlich auch sie den Begriff des Mediums, wenn sie z.B.
>von Radio und Computer als Medien spricht, und nicht bloß von Funkwellen
>und Halbleitern.
>
>- Eine dritte Art der Medienforschung, die international verbreitetste,
>begreift "Medium" schlicht als Kürzel für "neues Medium". In den 1960er
>war ihr Hauptgegenstand Radio und Film, in den 1970er und 80er Jahren
>Fernsehen und Video, in den 1990er Jahren Computer und Internet. Diese
>Medienwissenschaft firmiert als allgemeine geisteswissenschaftliche
>Rand- und Experimentaldisziplin, die alles beherbergt, was aus dem
>Raster etablierter geistes- und kunstwissenschaftlicher Disziplinen
>fällt. Analoges gilt für "Medienkunst" im Verhältnis zu zeitgenössischer
>Ausstellungskunst.
>
>
>- Eine vierte Art der Medienforschung leitet sich aus der dritten ab:
>Aus kritischer Unzufriedenheit darüber, nur temporär das jeweils "neue"
>zu beschreiben, sucht sie aus ihrem Forschungsfeld einen allgemeinen
>Begriff des Mediums und ihrer Disziplin zu gewinnen. Im Unterschied zum
>zweiten Typus der Medienwissenschaft geht sie also nicht
>quasi-strukturalistisch von einem technischen Begriff der Information,
>des Kanals und des Mediums aus, um daraus konkrete Beobachtungen zu
>abzuleiten, sondern beginnt phänomenologisch mit der Beobachtung eines
>als "Medien" zunächst nur heuristisch umrissenen Felds, um daraus
>Begriffe abzuleiten.
>
>Hierzu zähle ich auch [hoffentlich zu Recht und mit Bitte um Korrektur,
>falls ich daneben liegen sollte], Hartmut Winklers Medienwissenschaft und
>Definitionsvorschlag des Begriffs "Medium". Mit McLuhan stimmt er darin
>überein, Medien als technisch, formal und tendenziell unsichtbar [also
>vom Menschen als zweite Natur angeeignet] zu begreifen, im Unterschied
>zu McLuhan jedoch schränkt er sie auf symbolische und
>kommunikative Techniken ein. Anders als eine an Shannon
>orientierte "harte" Medienwissenschaft durchbricht er das
>Sender-Empfänger-Schema zugunsten des Begriffs der Vernetzung, der
>Berücksichtigung von fluiden "Praxen" über bloße "Niederlegungen" im
>Sinne von Produkten und Technik hinaus, und der Vorstellung
>gewissermaßen eines hermeneutischen Zirkels zwischen Praxen und
>Niederlegungen. [Der auch dem McLuhanschen Postulat vom Medium als
>Botschaft widerspricht.]
>
>Winklers Medienbegriff ist inklusiv, nicht exklusiv, und schließt daher
>auch solche Definitionen des Mediums ein, die im Sinne der zweiten
>Medienwissenschaft metonymisch bzw. metaphorisch ist, also z.B. das
>Medium als Institution. (Der Nachteil hierbei ist eine Unschärfe des
>Worts Medium: Was ist gemeint, wenn vom Medium Radio die Rede ist?
>Funkübertragung oder Senderbürokratien?)
>
>Problematisch bleibt auch die Unterscheidung von Medien und Zeichen bzw.
>Zeichensystemen. Winklers Text verwendet beide Begriffe parallel, ohne
>daß klar würde, wie genau Zeichen bzw. Zeichensysteme von Medien zu
>unterscheiden wären. Welchen Anspruch hat Medienwissenschaft, wenn sie
>zugleich auch Zeichenwissenschaft ist? Träte sie also an die Stelle der
>Semiotik, müßte dann z.B. Linguistik künftig eine Unterdisziplin der
>Medienwissenschaft sein?
>
>-F
>
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>--
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>
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