[rohrpost] Nachgedanken zur Medientheorie-Debatte

Stefan Heidenreich stefan.heidenreich at rz.hu-berlin.de
Mit Jan 19 18:18:20 CET 2005


Lieber Florian,

> Dem Begriff "Medium"
> liegt in seinem Wortsinn eine Vorstellung von immaterieller Substanz
> versus materiellem Träger zugrunde. 

wie selbst sagst, geht es der technischen Medientheorie (Kittler, Ernst, 
Siegert, Hagen, Pias, mir ...) gerade darum, diese Dichotomie zu 
verneinen, um Medien als technische, als materielle und physikalische 
messbare zu beschreiben. (Kabel, Felder, Schwingungen ...) Als Basis, 
nicht um dabei stehen zu bleiben.
Die Leistung einer von technologien und Materialitäten ausgehenden 
Medientheorie liegt gerade darin, die Dichotomie von "Substanz" und 
"Träger" zu hintergehen.

> schließlich ist die Debatte um Funktion und Eigensinn von Medien
> eine Neuauflage jener Debatte um die von Saussure eingeführte
> Begriffsdichotomie von "Signifikat" - als immaterieller Botschaft - und
> "Signifikant" - als materiellem Träger der Botschaft - in der Linguistik
> und Semiotik. 
Nein, bestimmt nicht. Das Konzept eines "Zeichens" tritt immer mehr 
zurück. Kittler hat die Doppelung von Signifikant/ Signifikat von Lacan 
importiert, ohne aber je Semiotik zu betreiben. Ein Begriff wie 
"Bedeutung", der mit der Zeichentheorie verbunden ist, ist für die 
technische Medientheorie nicht relevant. Niemand fragt nach einer 
semantischen oder pragmatischen Dimension, sondern es geht im Sinn 
Foucaults darum, wann und wie eine Technik, ein Medium oder eine 
bestimmte Aussage auftaucht. Das ist etwas ganz anderes als Zeichentheorie.

 > ... bleibt entweder
> eine Kulturwissenschaft von Leiterbahnen - und nichts anderem als
> Leiterbahnen, bzw. Leinwänden statt Bildern, Papier statt Texten, Vinyl
> statt Schallplatten - übrig 
die sich in freiwilliger Selbstbeschränkung eingräbt ...

> oder eine universelle
> kulturwissenschaftliche Basteldisziplin ...(Meine Sympathie gilt der
> letzteren insofern, als ich fürs Basteln bin.)
sehe ich genau so - dann schliesst sich die Frage an, was eine solche 
Bastelei als Wissenschaft qualifzieren würde und welches Wissen sich so 
gewinnen lässt.

> Doch bereits dann, wenn man nicht mehr über Leiterbahnen redet, sondern
> über Schaltungen, verläßt man das Feld der Medien im engeren technischen
> Sinne und metonymisiert den Begriff "Medium", ersetzt also das Ganze
> durch einen Teil von ihm. (Eine Schaltung ist kein Medium, sondern 
> technischer Apparat, dessen Medium elektrische Leiter sind.) 

das ist nun sehr eng geführt. Man kann auch den gesamten materiellen und 
physikalisch beschreibbaren Komplex hinter den beiden Funktionen 
"Speichern" und "Übertragen" als "technische Meiden" betrachten und hat 
damit einen relativ klaren Ausgangspunkt. Wobei ich auch nicht auf dem 
Begriff "Medium" bestehen will - man kann die Dinge auch als Speicher, 
Kanäle oder Informationstechnologien bezeichnen.

In dem Sinn ist es auch egal, ab es Kultinformatik oder Medientheorie 
heisst.

 > Technische Medienwissenschaft ist somit,
> pardon, auch nur ein institutionelles Label für eine spekulative
> Kultur-Informatik ..
(oder umgekehrt...)

> ... daß die Krise der in Tilmans Sinne definierten
> Medien mit der üblichen Verspätung auch die Universitäten erreichen
> wird.  "Medientheorie" und "Medienwissenschaft" werden dann, so wette
> ich, ebenso als Epochen-Phänomene enden wie einstmals die Kybernetik.

Sehe ich genau so - und die Symptome lassen sich nicht nur ausserhalb, 
sondern auch innerhalb einer technischen Medientheorie feststellen, die 
sich in universitären Zusammenhängen einigelt, sich in alter 
geisteswissenschaftlicher Tradition an historischen Details festbeisst 
und die Chance verpasst, zur Gegenwart von Kultur und Medien relevante 
Forschungen beizutragen.

Stefan