[rohrpost] Nachgedanken zur Medientheorie-Debatte

Florian Cramer cantsin at zedat.fu-berlin.de
Fre Jan 21 14:05:32 CET 2005


Am Donnerstag, 20. Januar 2005 um 22:07:12 Uhr (+0100) schrieb Stefan Heidenreich:
 
> ich greife nur ein paar Punkte heraus, um es kurz zu halten.

...und ich antworte ebenfalls selektiv, um die Listen-Mitleser nicht zu
ermüden.

> Der Begriff "Medium" wurde im Sinn von McLuhan übernommen. In Kontrast 
> zu den "Massenmedien" der empirischen Sozialforschung. Mit der Idee, 
> Techniken, die Information vermitteln, speichern, übertragen (und 
> erweitert: verarbeiten, eben durch Algorithmen...)

Am letzten Punkt scheiden sich halt unsere Geister. Zwar bin ich
einverstanden, daß Speicherung und Übertragung keine neutralen
Operationen sind, die ohne Auswirkung auf die übertragene Information
wären.  Insofern gibt es Verarbeitungsprozesse (konkret: Filterungen)
innerhalb von Speicherung und Übertragung. Aber daraus wird umgekehrt
kein Schuh.  Nicht jede Verarbeitung - Algorithmen sind ein gutes
Beispiel - läßt sich als bloßer Speicherungs- und Übertragungsprozeß
beschreiben. Hier schießt die Medientheorie über ihr Ziel hinaus.
Algorithmik kann man mit Shannon nicht erklären (sondern z.B. mit
Leibniz und Turing), und auch ganze Klassen von Computern nicht, etwa
einen simplen Analogcomputer aus zwei Messbechern und einem Wasserhahn,
mit dem man Additionen und Subtraktionen berechnet.

> >>...die Dichotomie von "Substanz" und "Träger" zu hintergehen.
> >Das leuchtet mir ja ein. Aber dann noch von "Medien" zu reden, erinnert
> >mich an einen Atheisten, der zwar Gott abgeschafft hat, aber immer noch
> >vom heiligen Geist spricht.
> Vielleicht liegt der Fehler bei der "Substanz". Natürlich gibt es - ganz 
> nachrichtentechnisch - einen physikalischen Träger und ein Signal, das 
> verschiedenen Trägern aufgesetzt wird. 

...was eine Simplifikation aus der vor-Einsteinschen Physik ist, die in
technischen Anwendungsfällen noch gut genug funktioniert (auch wenn sie
bei der Entwicklung von Computerchips gerade an ihre Grenzen stößt); das
klassische Beispiel eines Kuhnschen Paradigmas, das eigentlich
überwunden ist, aber als Spezialfall fortexistiert. Die Medientheorie
stößt ja exakt auf die Widersprüche dieser Vorstellung von Signal und
Träger, wenn sie der Interferenz beider auf die Spur kommt. Da fehlt
mir die letzte Konsequenz zu sagen, daß dieses Signal- und Trägermodell
eine praktische Vereinfachung ist, auf der man keine Theorie, zumindest
keine allgemeine oder weitreichende, begründen kann. Und diese letzte
Konsequenz wäre eben, sich vom Begriff "Medium" zu verabschieden.

> Es gibt eine seltsame ideologische Blockade bei Zeichentheoretikern. Auf 
> den Einwurf, das man nicht mit dem Begriff "Zeichen" (und seiner immer 
> notwendigen Doppelung von Zeichen und Bezeichnetem) operieren will, 
> reagieren sie mit einer Art von formaler Ablehnung.

Weil es zwar auf technischer Ebene Information ohne Bedeutung gibt, nie
aber auf der kulturellen Ebene, sobald nämlich Wahrnehmungsprozesse ins
Spiel kommen, die immer auch Deutungsprozesse sind. Solange Menschen mit
der Technik hantieren, wird man die lästige "Bedeutung" nicht los.

> Man kann Elemente in Informationen isolieren (Bits, Words ...) oder das 
> Auftauchen von Aussagen (im Sinn von Foucault: Archäologie d.Wissens) 
> nachvollziehen, ohne sie als "Zeichen" zu begreifen, also als "etwas, 
> das für etwas anderes steht".

Saussure definiert Zeichen als Doppeleinheit von Signifikant
und Signifikat, nicht bloß als Signifikanten. Es steht somit nicht für
ein anderes, sondern schließt dieses andere in sich ein.  Und indem er
das Zeichen in Signifikant und Signifikat ausdifferenziert,
unterscheidet er exakt seine technische Komponente (= den Signifikanten)
von seiner kulturellen Komponente (= dem Signifikat), seine Syntax von
seiner Semantik, und liefert damit eine ausgezeichnete Vorlage für eine
technische Semiotik, alias Medientheorie, die die Signifikanten-Hälfte
von Zeichen untersucht.

> >Mit Peirce gesprochen, ist technische Medientheorie eine Semiotik, die
> >ihr Augenmerk auf indexikalische Zeichen legt.
>
> Von der technischen Medientheorie her gesehen, erscheinen die Ansätze 
> Pierce's und Saussures als Theorie-Antwort auf die Telegraphie, die eben 
> die grundlegenden Elemente von Signalen und deren Codierung ins 
> Bewusstsein rückt. Sie reagieren darauf, indem sie Modelle der alten 
> Grammatik reaktiveren, bzw. das Bedeutungsmodell der herrschenden 
> Interpretationswissenschaften auf elementare nachrichtentechnische 
> Einheiten herunterbrechen.

Das mag ja sein. Ich behaupte nur, daß man die Grammatik und
Interpretation nicht so einfach los wird, indem man ahistorisch ein a
priori der Technik behauptet, und Technik für bedeutungsfrei hält.
Auch wenn man sich rein formal mit den Interna der Technik befaßt, also
z.B. mit der Algorithmik von Computersoftware, hat man es plötzlich mit
(formalen) Grammatiken zu tun, für deren Verständnis Telegraphenmodelle
nicht sonderlich hilfreich sind.  Der technischen Medientheorie, wenn
sie dies tatsächlich so verfechten würde, würde hier das Maß und die
Bescheidenheit fehlen, die Grenzen ihres Ansatzes einzuräumen. Das wäre
unseriös. Kein Physiker würde behaupten, daß sich alles mit Physik
erklären läßt und man auf Mathematik und Logik entweder verzichten
könne oder es sich bei ihnen nur um Spezialanwendungen der Physik
handele.

> >Medientheorie erinnert mich insofern an Windows
> >und die seit Jahrzehnten irrationale Erlösungshoffnung, daß es nach dem
> >nächsten großen Update endlich zuverlässig wird, nur weil niemand Lust
> >hat, sich mit so etwas altem, langweiligen und unbunten wie
> >Unix-Terminals abzugeben.
>
> ich weiss nicht, was dann auf Theorie-Seite Unix / Linux entsprechen 
> soll. 

Die philosophische Ästhetik seit Burke und Kant sowie die linguistisch
geprägte Kulturwissenschaft seit Peirce und Saussure. Nicht daß ich
behaupten würde, daß diese stringent wären und Antwort auf alle Fragen
lieferten. Ebensowenig tut dies Unix / Linux als
Computer-Betriebssystem, siehe u.a. das "Unix Haters Handbook" und die
ständigen Buffer-Overflow-Sicherheitslücken wegen der fehleranfälligen
Speicher-/Pointerverwaltung von C. Nur scheint mir die Medientheorie das
Rad abermals neuzuerfinden und, u.a. wegen ihres McLuhanschen Ballasts,
mit insgesamt zweifelhaftem Gewinn, fast analog zum bekannten Spruch
"those who do not understand Unix are condemned to reinvent it, poorly".

> Die Idee, dass es ein Manifest oder ein fixes Set 
> theorie-methodischer Regeln geben müsste, wird zumindest innerhalb des 
> Ansatzes einer technischen Medientheorie nicht verfolgt. 

Es gibt aber eine Reihe von Grundannahmen oder -ideologemen, nämlich 

1. ein a priori der Technik, zumindest als provokative Setzung;

2. ein Verständnis der Technik als strukturell asemantisch, aber
   diskurshistorisch signifikant;

3. daraus abgeleitet die Neuschreibung von Kultur- bzw. Diskursgeschichte 
   als Technikgeschichte, bzw. als auf Technikgeschichte begründet;

4. eine philosophische Opposition zu Geistesgeschichte und dem Begriff 
   des Geistes und der Subjektivität.

Wichtige Gewährsmänner dafür sind Nietzsche und Heidegger - letzterer
mit seiner antiidealistischen Philosophie des Zeugs - sowie, wie von Dir
selbst erwähnt, Lacan und Foucault. (Nun könnte man dekonstruktiv
analysieren, inwiefern diese Namen nicht selbst eine Geistesgeschichte
konstituieren, daß die technische Medientheorie diese Geschichte fortschreibt 
und den unsystematischen McLuhan alteuropäisch in sie zurückerdet.)

> >Gar nichts würde solch eine Bastelei als Wissenschaft qualifizieren. 
> >Kultur- bzw. Geisteswissenschaften einschließlich Kunst- und
> >Medienwissenschaft "Wissenschaft" zu nennen ...
>
> Wofür plädierst du? Für Selbstauflösung? 

Wieso muß man sich auflösen, wenn man sich nicht mehr "Wissenschaft"
nennt?  In anderen Ländern studiert man nicht Medienwissenschaft,
sondern "media", nicht Literaturwissenschaft, sondern "literature",
nicht Kulturwissenschaft, sondern "culture" oder "cultural studies",
etc.  Diese Aufrichtigkeit wäre in meinem Sinne.

> Und noch immer sind Universitäten ein Ort, an dem dieses Wissen
> kultiviert werden kann - auch wenn sie gerade zu höheren Schulen
> geschrumpft werden - und man nach Alternativen suchen müsste.

Das unterschreibe ich vollständig. Das Problem ist, daß diejenigen, die
diese Alternativen suchen und entwickeln könnten, wegen ihrer
politischen Identifikation sprachlos und in Kaninchenstarre vor dem
Schröder-Bulmahnschen Zerstörungswerk verharren und mitansehen, wie eine
linke Regierung ein zweites Mal nach den 70er Jahren die Universitäten
zugrunderichtet, diesmal aber systematischer mit der Dienstrechtsreform
und ihrem Revolver an den Schläfen des Nachwuchs sowie, schlimmer noch,
der deutsch-europäischen Verfachhochschulung in Bachelor-Mogelpackung.

Rafael und die Wissenschaftsakademie Berlin/Eliteuniversität, bitte
übernehmen!

-F

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