[rohrpost] Fwd: Rez. digital: Wikipedia

Henning Ziegler mail at henningziegler.de
Don Jul 7 09:31:05 CEST 2005




Anfang der weitergeleiteten E-Mail:

> Von: "HSK (Christoph Schaefer)" <hsk.mail at GESCHICHTE.HU-BERLIN.DE>
> Datum: 6. Juli 2005 18:38:05 MESZ
> An: H-SOZ-U-KULT at H-NET.MSU.EDU
> Betreff: Rez. digital: Wikipedia
> Antwort an: H-NET Liste fuer Sozial- und Kulturgeschichte  
> <H-SOZ-U-KULT at H-NET.MSU.EDU>
>
> From:    Björn Hoffmann <bjoern.hoffmann at universalbibliothek.de>
> Date:    28.04.2005
> Subject: Rez. digital: Wikipedia
> ----------------------------------------------------------------------- 
> -
>
> Wikipedia Deutschland (Hrsg.): Wikipedia Frühjahr 2005 (DVD-ROM). Die
> freie Enzyklopädie. Berlin: Directmedia Publishing 2005. ISBN
> 3-89853-020-5; 1 DVD-ROM; EUR 9,90.
>
> Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
> Bjoern Hoffmann, M.A., Mannheim
> E-Mail: <bjoern.hoffmann at universalbibliothek.de>
>
> Der Berliner Spezialist für digitalisierte elektronische Bücher
> Directmedia [1], der sich vor allem mit der Herausgabe älterer, z. T.
> vergriffener Bücher und Reihen im Rahmen der sogenannten Digitalen
> Bibliothek einen Namen gemacht hat, darunter etwa ein Sammelband zur
> deutschen Literatur von Lessing bis Kafka, ausgewählte Werke von Marx
> und Weber, die Propyläen Weltgeschichte oder zuletzt die 36 Bände der
> Fischer Weltgeschichte [2], zeigt mit seinem jüngsten Engagement für  
> die
> freie Enzyklopädie Wikipedia sein Interesse, das Verlagsprogramm auch
> auf aktuelle Titel auszudehnen.
>
> Directmedia hat mit der DVD-Version 2005 [3] nun schon die 2. Ausgabe
> der sonst nur im Internet verfügbaren Wikipedia-Enzyklopädie [4] nach
> einer CD-ROM-Version [5] vom Herbst 2004 auf digitalem Datenträger
> vorgelegt. War die ursprüngliche Intention des Verlages mit der nur 3
> Euro teuren und als Sonderband bezeichneten CD-ROM den Versionswechsel
> der an sich kostenlosen Anzeigesoftware von Version 3 auf Version 4
> bekannt zu machen, durch den die Software nun ein echtes
> Bibliothekskonzept für alle weit über 100 Bände der Digitalen  
> Bibliothek
> verfolgt und auch unter anderen Betriebssystemen nutzbar ist, hat sich
> die Strategie der Berliner mit der Erhöhung des Preises auf 9,90 Euro
> anscheinend etwas gewandelt. Zwei Euro des Verkaufspreises gehen zwar  
> an
> die amerikanische Wikimedia Foundation [6] als Hoster der Wikipedia,  
> die
> im Gegenzug den mittlerweile im Internet bekannten Namen [7] zur
> Verfügung stellt, die Wahrnehmung im Buchhandel einer fast 10 Euro
> teuren DVD dürfte jedoch eine ganz andere als die einer faktisch nur  
> mit
> einer Schutzgebühr belegten Version sein. Die Wikipedia ist zu einem
> Produkt geworden, eine Rezension und Überprüfung der freien Inhalte
> unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten scheint geboten.
>
> Das Konzept der freien Enzyklopädie, das durch eine enorme
> Aufmerksamkeit vor allem im Internet durch die gute Verlinkungsstruktur
> und den hohen Pagerank bei sehr vielen Suchanfragen etwa in Google
> begünstigt und durch eine umfassende Berichterstattung in der Presse
> begleitet wird [8], wurde an anderer Stelle bereits ausführlich
> beschrieben. Hier sei auf den Überblicksartikel der beiden Wikipedianer
> Patrick Danowski und Jakob Voss hingewiesen, der kürzlich im Open  
> Source
> Jahrbuch 2005 [9] erschienen ist, und neben den üblichen Argumenten für
> eine freie Enzyklopädie auch auf die nicht unwesentlichen Probleme und
> Schwierigkeiten eingeht.
>
> Wie wertvoll ist nun die Wikipedia-DVD für die Geisteswissenschaften,  
> an
> der Wissenschaftler und engagierte Laien zu gleichen Teilen und quasi
> gleichberechtigt im Internet mitschreiben können? Dieser Frage soll im
> Folgenden anhand einiger, mehr oder weniger zufällig ausgewählter
> Beispiele aus der Geschichtswissenschaft, in denen sich der Rezensent
> auskennt, nachgegangen werden.
>
> Beispiel Historikerstreit: Der Artikel der freien Enzyklopädie enthält
> neben einigen Zitaten aus der Dokumentation der Kontroverse, die den
> Gehalt der Auseinandersetzung um die Thesen Ernst Noltes verdeutlichen
> sollen, im wesentlichen eine Definition und eine Würdigung der
> Kontroverse aus heutiger Sicht. Die Definition des Streits geht dabei  
> an
> dem Kern der Debatte weitgehend vorbei, da die von Habermas vor allem
> kritisierten Teile von Noltes Thesen von Auschwitz als Reaktion auf  
> eine
> vorgelagerte asiatische Tat im Osten zwar in den Zitaten auftauchen,
> aber in keiner Weise erläutert oder gar bewertend eingeordnet werden.
> Die Würdigung aus heutiger Sicht bleibt überdies vollständig
> unverständlich, wenn es dort heißt: „Aus heutiger Sicht liest sich
> vieles, was im "Historikerstreit" diskutiert wurde, als die Ouvertüre  
> zu
> den Debatten um den Einsatz der deutschen Bundeswehr in Krisengebieten
> weltweit.“[10]
>
> Beispiel Investiturstreit: Der Artikel wirkt auf den ersten Blick
> solider, was man an der Strukturierung des Textes erkennt. Doch schnell
> wird ersichtlich, dass der Text im besten Fall noch nicht fertig ist.
> Weder wird hier die europäische Dimension des Konfliktes deutlich, noch
> wird auf die Überwindung des Streites (Ivo von Chartres) hinreichend
> eingegangen. Der Gang nach Canossa durch Heinrich IV dagegen wird
> ausführlich behandelt, wodurch der Eindruck erweckt wird, dass in
> Canossa die Investitur behandelt wurde. Unklar bleibt auch die  
> Dimension
> des Streites, der hier nur als ein reiner Machtkonflikt zwischen Papst
> und Königtum um die Einsetzung von Bischöfen erscheint, nicht aber als
> ein grundsätzlicher Konflikt, der die Grundfeste des  
> salisch-ottonischen
> Herrschaftssystems erschütterte. Auch die Wirkung des Streites auf die
> deutsche Geschichte bleibt im Dunkeln, jeder Hinweis auf die durch die
> Lösung des Investiturstreits eingeleitete Territorialisierung des
> Deutschen Reiches fehlt. Die Wikipedia geht über historisierende
> Beschreibungen im Stile einer Personengeschichte selten hinaus.[11]
>
> Beispiel Merkantilismus: Waren die beiden ersten Stichproben zumindest
> nicht grob falsch, kann man das von vielen Formulierungen des Artikels
> zum Merkantilismus nicht mehr behaupten, der Merkantilismus wird hier
> als „vorherrschendes Wirtschaftssystem im Zeitalter des Absolutismus“
> bezeichnet, der „die mittelalterliche Zunft- und Stadtwirtschaft“
> abgelöst habe, als bedeutendster Vertreter wird Jean-Baptiste Colbert
> bezeichnet. [12] Hier wird der Eindruck erweckt, dass es sich beim
> Merkantilismus um ein einheitliches Wirtschaftssystem gehandelt habe,
> dessen wirtschaftstheoretischen Grundpfeiler von einem französischen
> Staatsbeamten gelegt worden sei. Das Gegenteil ist der Fall und in der
> historischen Forschung besteht darin auch kein Zweifel, dass der  
> Begriff
> des Merkantilismus letztlich nur sehr unterschiedliche
> praktisch-wirtschaftspolitische Maßnahmen in Europa bezeichnen kann,  
> die
> gerade keiner einheitlichen Linie folgten. Die Bewertung am Ende des
> Textes zeigt zudem, dass der Artikel eher zur Verschleierung des
> merkantilen Wesens als zu seiner Erhellung beiträgt: „Adam Smiths Werk
> Wohlstand der Nationen und die französische Revolution machten  
> letztlich
> dem Merkantilismus ein Ende und bereiteten den Weg für den
> Liberalismus.“[13]
>
> Erschwerend für das Verständnis bleiben auch die formalen Mängel der
> Texte, wenn das Tempus der Darstellung wechselt (Investiturstreit),  
> neue
> und alte Rechtschreibung munter durcheinander gehen (besonders z. B. im
> Artikel Goethe) oder keine Einheitlichkeit im Umgang mit Verlinkungen
> besteht. So werden häufig Verlinkungen völlig ohne sinntragende  
> Funktion
> gesetzt, wenn beispielsweise bei einem französischen Politiker ein Link
> zu Frankreich gesetzt wird.
>
> Fazit: Die drei von dem Rezensenten aus den mittlerweile über 200.000
> Artikeln willkürlich herangezogenen Begriffe haben schwerwiegende  
> Mängel
> gezeigt, sowohl was die inhaltliche Qualität, aber auch was die formale
> Umsetzung betrifft. Zwar hat die Wikipedia als kollaborativ angelegte
> Enzyklopädie keinesfalls den Anspruch, fertig oder vollständig zu sein,
> von einem Lexikon aber, das man käuflich erworben hat, und sei es nur
> für 10 Euro, erwartet man zurecht auch, dass es zumindest keine allzu
> groben Fehler enthält. Das kann von den hier intensiv betrachteten
> Artikeln jedenfalls nicht behauptet werden, wobei die Stichprobe von
> drei Artikeln natürlich nicht ausreichend sein kann, um die Qualität  
> der
> gesamten Anwendung zu beurteilen. Als Nachschlagewerk im
> wissenschaftlichen Umfeld ist unter dieser Einschränkung die
> Wikipedia-DVD nur unter Vorbehalt einer weiteren gründlichen Prüfung  
> der
> Fakten nutzbar, da grundlegende Aussagen, Bewertungen und  
> Einschätzungen
> noch gründlicher hinterfragt werden müssen als bei etablierten
> Nachschlagewerken der Geschichtswissenschaft mit einem die Qualität
> sichernden Peer-Reviewing-Prozess und einem Herausgebergremium wie dem
> Lexikon des Mittelalters oder dem kleinen Pauly.
>
> Dennoch ist die Wikipedia ein interessantes Projekt, das die Idee der
> wissenschaftlichen Allmende sehr konsequent umgesetzt hat und in einer
> beachtlichen Zeit eine Enzyklopädie in kollaborativer Arbeit erstellt
> hat, dass man nur staunen kann. Zudem ist das Potenzial der Wikipedia
> durch seine Hypertextstruktur und durch seine rein digitale
> Erscheinungsform im Prinzip unbegrenzt.
>
> Zu einer brauchbaren Textqualität zumindest im  
> geisteswissenschaftlichen
> Umfeld scheint allerdings noch ein weiter Weg zu sein, der Einsatz im
> universitären Umfeld ist nur dann anzuraten, wenn man zugleich die Mühe
> und Zeit auf sich nehmen möchte und kann, die Fehler und  
> Ungenauigkeiten
> der Textsubstanz gleich auszubessern, wobei hier das Internet der DVD
> natürlich vorzuziehen ist, da man die Änderungen nur online anbringen
> kann. Der Dank der Wikipedia Gemeinschaft dürfte einem dann freilich
> sicher sein.
>
>
> Anmerkungen:
> [1] Vgl. <http://www.digitale-bibliothek.de/> (20.04.2005).
> [2] Einen Überblick zu wissenschaftlichen Rezensionen dazu unter:
> <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/type=rezcdrom>
> (20.04.2005).
> [3] Vgl.  
> <http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Wikipedia-Distribution>
> (20.04.2005).
> [4] Die deutsche Version: <http://de.wikipedia.org/wiki/Hauptseite>
> (20.04.2005).
> [5] Vgl. <http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Wikipedia-CD>
> (20.04.2005).
> [6] Vgl. <http://wikimediafoundation.org/wiki/Home> (20.04.2005).
> [7] Nach Angabe von alexca.com hat die Wikipedia längst sehr viel mehr
> Zugriffe als etwa britannica.com:
> <http://www.alexa.com/data/details/traffic_details? 
> &range=2y&size=large&compare_sites=britannica.com&y=t&url=www.wikipedia 
> .org/#top>
> (20.04.2005).
> [8] Siehe hierzu den umfassenden Pressespiegel zur Wikipedia:
> <http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Pressespiegel> (20.04.2005).
> [9] Vgl.
> <http://www.opensourcejahrbuch.de/2005/pdfs/ 
> OpenSourceJahrbuch2005_online.pdf>
> (20.04.2005),  hier: S. 393-408.
> [10] Vgl. den Artikel „Historikerstreit“. DB Sonderband: Wikipedia
> Frühjahr 2005, S. 201346.
> [11] Vgl. den Artikel „Investiturstreit“ . DB Sonderband: Wikipedia
> Frühjahr 2005, S. 216835.
> [12] Vgl. den Artikel „Merkantilismus“. DB Sonderband: Wikipedia
> Frühjahr 2005, S. 294470.
> [13] Vgl. den Artikel „Merkantilismus“. DB Sonderband: Wikipedia
> Frühjahr 2005, S. 294471.
>
>
> Diese Rezension wurde redaktionell betreut von:
> Christoph Schäfer <schaefer.h-soz-u-kult at gmx.de>
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> URL zur Zitation dieses Beitrages
> <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-3-017>
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