[rohrpost] Geert's Artikel
Sophia Nabokov
sophia_nabokov at yahoo.de
Die Mar 8 12:47:25 CET 2005
--- Florian Cramer <cantsin at zedat.fu-berlin.de>
schrieb:
Unter dem Label "Medienwissenschaft" segeln eben
völlig
verschiedene Disziplinen, (a) eine publizistisch
orientierte
Medienwissenschaft, wie Du sie oben beschreibst, (b)
eine
interdisziplinäre Kunstwissenschaft [der die von Dir
beschriebenen
Praxiskenntnisse ebenfalls gut anstehen] und (c)
schließlich eine auf
Computer fokussierte Technik-Kulturtheorie
>
Ja, diese Einteilung gibt es, was aber studiert man,
wenn man weder Journalismus machen will, noch den
Medienmaterialismus beschwören? Wenn man nun davon
ausgeht, dass man alle Medien der Neuzeit, also Text,
Radio und TV, unter den neuen Bedingungen des Netzes
noch einmal neu erfinden könnte, dann müsste man die
Konventionen lernen, um sie auch brechen zu können.
Also, einerseits verlangt ein experimentelles
I-Net-Radio ja irgendwie auch Radio Handwerk,
gleichzeitig aber auch die Phantasie vom Material her
zu denken. Das hatte ich ja an deinem Wiki kritisiert,
dass du nicht vom Material ausgegangen bist, also
nicht die Möglichkeiten des copy und paste benutzt
hast, um Texte zu verarbeiten, die schon da waren als
mails, sondern in der journalistischen Konvention
alles noch mal zusammengefasst hast.
Materialbewusstsein ist doch irgendwie auch wichtig,
oder? Das fängt doch schon mit Texten an. Es müsste
also, wie ich finde, einen Studiengang geben, wo es
weder arti-furti (schreibt man da so?) zugeht, noch wo
man Drehbuchanalysen macht, um dann Skript-Doktor zu
werden oder Journalismus lernt und wie man die
Konventionen erfüllt im Radio, der Zeitung oder dem
Fernsehen, wo es aber auch nicht allein um technische
Medienwissenschaften geht, sondern wo man theoretisch
den Zusammenhang bedenkt von sozialen Verhältnissen
und Mediengebrauch und auch Experimente macht. Dabei
ist das Studium der Konventionen deshalb so wichtig,
weil sie sonst sich einfach unbewusst einschleichen.
Persiflagen und Travestien sind ja auch eine
Materialästhetik, denn sie übertragen „Inhalt“ oder
„Form“ wie ein Automat. Auch um Anti-PR zu machen,
braucht man PR-Wissen. Es müsste also sozusagen eine
Ausbildung für eine kritische Medienpraxis geben.
Liebe Grüße,
Sophia
Am Montag, 28. Februar 2005 um 19:38:08 Uhr (+0100)
schrieb nabokov:
> ich habe gerade den Artikel in Lettre gelesen. Da
> hattest du gesagt, dass Medientheoretiker
> programmieren können sollten.
Das war ein Zitat aus einem rohrpost-Beitrag von mir,
das ich gerade
nicht zur Hand habe, aber, falls mich meine Erinnerung
nicht sehr
trügt,
nicht auf sämtliche Medientheoretiker gemünzt war,
sondern nur auf
solche, die sich mit Computern, Software und
Computernetzen
befassen. Es ging darum, daß es so, wie es z.B. für
Musikwissenschaftler
selbstverständlich ist, Partituren lesen und als
Klavierauszug spielen
zu können, ein Computer-Medienwissenschaftler
wenigstens in der Lage
sein sollte, ein einfaches Basic-Programm zu
schreiben.
> Nun mal eine ganz naive
> Frage: Es gibt doch ein Verhältnis zwischen dem
> sichtbaren Ablaufen eines Programms, seiner
> sogenannten Oberfläche und dem Code des Programms.
Sehr ähnlich verhält es sich ja mit Partitur und
Aufführung in der
Musik (und Partituren für mechanische Instrumente sind
in der Tat
Programmcodes).
> Aber ist der Code nicht auch nur eine Oberfläche -
für
> den Programmierer?
Gewiß. Allerdings gibt es einen relevanten
Unterschied. Der
Perl-Einzeiler
"print int(rand(10))"
...druckt auf der Kommandozeile eine Zufallszahl
zwischen 0 und 9 aus.
Beobachtet man dieses Programm nur auf der Ebene
seines sichtbaren
Ablaufs bzw. seiner Ausgabe, dann kann man nur durch
Raten und
aufwendige Wahrscheinlichkeitsanalyse - oder, in
Programmierer-Jargon:
"reverse engineering" - darauf schließen, wie es
funktioniert. Auf
dieser Differenz beruhen sämtliche
Geschäftsgeheimnisse und -modelle
der
kommerziellen Softwareindustrie. Nun kann man als sog.
Medientheoretiker, wie z.B. Lev Manovich, bewußt einen
phänomenologischen Ansatz wählen und sich allein die
Outputs und deren
Ästhetik ansehen. Dies jedoch zu tun, weil man die
"print
int(rand(10))"-Ebene schlicht nicht kennt und
versteht, steht jedoch
auf
einem anderen Blatt. Und dann passieren eben Dinge wie
die Verleihung
einer goldenen ars electronica-Nica an einen
gewöhnlichen, noch dazu
auf
third-party-Code basierenden Ethernet-Sniffer, weil
die Macher sich
selbst geschickt als "Radical Software Group" und ihr
banales Produkt
unter dem Namen "Carnivore" vermarkten.
> Der Code, der kann ja praktisch
> gedacht wichtig sein, aber eigentlich interessant
wäre
> doch das Verhältnis zwischen dem Binärcode und der
> Programmierungssprache, oder?
Wobei die Programmiersprache, wenn es sich um eine
"echte" (d.h.
Turing-vollständige) handelt, alle Funktionen zur
Verfügung stellt, die
auch der Binär-Maschinencode bietet.
Ich stimme Dir zu, daß die Differenz von
Programmiercode und
Programmablauf dazu verführt, gewissermaßen einem
Hardware-Platonismus
aufzusitzen. (Dahingehend kann man auch die technische
Medientheorie
der Kittler-Schule kritisieren.) Ich halte
"Oberflächen" bzw.
"Interfaces"
nicht per se für einen trügerischen Abglanz einer
Hardware-Wahrheit,
sondern die Frage ist, wie - wiederum in
Programmierjargon - "mächtig"
diese Oberflächen sind, "mächtig" nämlich im Sinne
eines technischen
empowerment statt einer Entmündigung der Nutzer.
Unix-Shells,
LISP-Umgebungen, aber auch das originale von Alan Kay
konzipierte
Smalltalk-/Squeak-GUI sind solche mächtigen
Oberflächen, weil sie
Turing-vollständigen, programmiererischen Zugriff auf
Computer
erlauben;
ebenso, wie ein Klavier ein "mächtigeres" Instrument
ist, wenn es nicht
nur Fertig-Software in Form vorgestanzter
Pianola-Rollen abspielen
kann,
sondern auch eine Tastatur besitzt, oder ein Herd ein
mächtigeres
Kochinstrument ist, wenn er nicht nur Fertiggerichte
aufwärmen kann.
Es gibt viele Medienwissenschaftler, die über Computer
theoretisieren,
sie aber nur als Instant-Produkt aus
Anklick-Bedienperspektive kennen -
analog zu hypothethischen Musikwissenschaftlern, deren
Kenntnis von
Musikinstrumenten sich aufs Schallplattenhören (nicht
einmal Mixen oder
Scratchen) beschränkt, oder Restaurant-Kritiker, die
weder kochen
können, noch etwas von Lebensmitteln verstehen.
Insofern war meine Forderung weder originell, noch
provokativ, sondern
bestürzend banal!
> Also, wenn man eine
> eigene Programmiersprache schreiben würde, dann
würde
> man schon ein bisschen mehr durchblicken.
Source-Code
> schreiben ist ja dagegen nicht besonders erhellend.
Ich gebe Dir ja recht, aber man könnte heutzutage
schon über solche
banalen Mindeststandards glücklich sein.
> Der Code ist eher so ein Symbol für Tiefsinnigkeit,
> weil man keine Religion mehr hat und der
> „scholastische Ideenhimmel“ auch aus der Mode
gekommen
> ist. So eine Art Ersatz, wo eher eine Sehnsucht sich
> ausdrückt.
Man kann es ja, wie oben, tiefer hängen. Wenn man von
einem
Restaurantkritiker oder Ernährungswissenschaftler
erwartet, daß er
einen
Kochlöffel bedienen kann und ein strukturelles
Mindestverständnis
seines
Metiers hat, ist man noch lange kein Scholastiker.
Aber es gibt diesen
Vorwurf (und das geht jetzt nicht gegen Dich) oft von
Leuten, die
insgeheim genau wissen, daß ihnen das
Mindest-Handwerkszeug für
Computer-Medientheorie in Gestalt eines
Informatiker-Erstsemesterwissens
fehlt.
> Also unter Medientheoretiker würde ich mir dann eher
> jemanden vorstellen, der auch mal eine Kamera führen
> kann, Audio schneidet, weiß, wie eine
> Zeitungsredaktion aussieht, wie das Drama-Schema von
> einem Hollywoodfilm aussieht, wie Theater von innen
> funktionieren, wie PR läuft, wie Wirkungen erzeugt
> werden sozusagen, vielleicht auch wie man eine
> Ausstellung wirkungsvoll aufstellt oder Radio macht
> usw.
Jetzt sind wir wieder mitten in den Problemen, die die
unseligen
Begriffe "Medientheorie" und "Medienwissenschaft"
wegen ihrer Unschärfe
kreieren. Unter dem Label "Medienwissenschaft" segeln
eben völlig
verschiedene Disziplinen, (a) eine publizistisch
orientierte
Medienwissenschaft, wie Du sie oben beschreibst, (b)
eine
interdisziplinäre Kunstwissenschaft [der die von Dir
beschriebenen
Praxiskenntnisse ebenfalls gut anstehen] und (c)
schließlich eine auf
Computer fokussierte Technik-Kulturtheorie, für welche
die o.g. Punkte
weniger zentral sind.
> Das alles ist dann am Ende für die Zukunft des
Netzes
> wichtiger als Source-Code als Gedicht aufzusagen
oder
> die ewigen Beschwörungen der Materialität der Medien
> usw.
Prinzipiell sehe ich da keinen Widerspruch.
Kameraführung und
Computerprogrammierung sind zwei Kulturtechniken, die
man als
Theoretiker verstehen sollte, wenn man über Film bzw.
Software
schreibt. Auf der anderen Seite ist die Gefahr Deines
Ansatzes,
einen Konservatismus gerade auch in der praktischen
künstlerischen
Gestaltung des Netzes zu befördern. Ich finde es
interessanter, sich
eine Website aus einem strukturellen Verständnis von
Daten und
Programmierung zu entwickeln, als aus der Dramaturgie
von
Hollywood-Filmen (wie man es vielleicht machen würde,
wenn man in einer
Agentur arbeitet und einen Produkt-Werbeauftritt
kreiiert).
Sourcecode als Gedicht aufzusagen ist vom Ansatz her
nichts anderes als
das, was z.B. Dziga Vertov in seiner radikalen
Materialästhetik der
Kameraführung oder Experimentalfilmer wie Stan
Brakhage, Peter Kubelka
und Werner Nekes mit ihrer Neuerfindung von
Filmsprache aus dem
Filmbild
bzw. der Differenz von Filmbildern heraus. Oder die
Neuerfindung
der Dichtung aus einem radikalen Zerlegen und
Neuzusammensetzen von
Grammatik, Phonetik und Typographie in der Lyrik der
russischen
Futuristen, der Wiener Gruppe, der konkreten Poesie
und der
amerikanischen language poetry.
Was man künstlerisch oder für die Zukunft des Netzes
wichtiger hält,
ist
Ansichts- und Geschmackssache. Im Falle von Computern
und
Programmierung
muß man aber noch so weit kommen, daß deren technische
Basics überhaupt
erst Allgemeingut sind. So weit wie z.B.
Musikwissenschaftler, die
das Funktionieren von Musikinstrumenten und die
künstlichen Sprachen
von Partituren selbstverständlich kennen und
beherrschen, sind
Computer-Medienwissenschaftler noch lange nicht.
-F
--
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