[rohrpost] Preistraeger 1. Junggesellenpreis für Netzliteratur

Johannes Auer auer at kunsttot.de
Sam Nov 12 09:08:28 CET 2005


  1. Preis:
Florian Cramer: http://plaintext.cc


Lobende Erwähnungen:

René Bauer: nic-las
[http://www.nic-las.com/]

Frank Klötgen: Endlose Liebe - Endless Love
[http://www.hirnpoma.de/trashical/]

Dirk Schröder: Macelib
[http://macelib.hor.de/]


http://www.junggesellenpreis.de

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Begruendung der Jury:

1. Preis:
Florian Cramer: http://plaintext.cc

Die Jury hat den 1. Junggesellenpreis für Netzliteratur Florian Cramer
für seine Arbeit http://plaintext.cc zugesprochen, weil sie ästhetisch
reizvoll und mit einem durchdachten und gewitzten Konzept zeigt, was
Netzliteratur heute bedeuten kann. Zudem bringt sie die Idee des Preises
auf den Punkt.

Florian Cramer hat eine kleine autopoetische Junggesellenmaschine
gebaut, die ironisch einen „Kurzschluss bei Bedürfnis“ inszeniert. Die
prekäre Selbstverliebtheit, in der das Programm nach bestimmten Regeln
immer wieder anderen Text aus Texten erzeugt, vermag die Benutzer
gleichwohl in ihren Bann zu ziehen. Sie lockt auf falsche Fährten, die,
wenn man ihnen nur beharrlich folgt, doch zu überraschenden Entdeckungen
führen.

Der Automat - drei Maschinchen in einer - kontaminiert digitalen Code
mit poetischem Text: in Echtzeit eingelesene Daten des Computersystems,
auf dem er läuft, mit Passagen aus George Batailles „Geschichte des
Auges“ und einem Email-Dialog zwischen Florian Cramer und der
australischen Dichterin Mez. Jeder neu entstandene Text hat eine
bestimmte Anzahl von Transformationen und typographischen Formatierungen
durchlaufen. Visuell wird dabei ein Bezug zum Manuskript von George
Perecs Hörspiel „Die Maschine“ hergestellt, in dem sich ebenfalls ein
Textgenerator nach sich selbst verzehrt.

Dass aktuelle und historische Bezüge zur Kunst der Junggesellenmaschinen
so geschickt und dicht programmiert und dass mit der Reverenz an OULIPO,
die Werkstatt für potentielle Literatur, auch bezeugt wird, von welcher
poetischen Tradition http://plaintext.cc sich im Verfahren herschreibt,
unterstreicht die Preiswürdigkeit dieser Arbeit.



Lobende Erwähnung:

René Bauer: nic-las
Weitere Beteiligte: Joachim Maier, Daniel Staib

Nic-las ist eine soziale Software, die sich kollaborativ und konkreativ
nutzen lässt, die aber auch selbständig am Inhalt mitschreiben kann und
so zum autopoietischen Netzprojekt wird. Das Projekt von René Bauer ist
seit 1999 in Entwicklung, wird stets wieder mit neuen Ideen und
nützlichen Erweiterungen verbessert und hätte für seine innovative
Einzigartigkeit schon längst ausgezeichnet werden müssen.

In der Nutzung des elektronischen Zettelbaukastens sind Autor und Leser
gleichgestellt, beide können am Entstehungsprozess des Textes
mitarbeiten und erhalten eine Palette von neuen Werkzeugen, welche
Begriffsstrukturen automatisch organisieren, Kontext aus externen und
internen Quellen hervorbringen und Objekte einbauen. Das
„Digital-Unbewusste“ zeigt unvermittelt Dinge, die gelöscht wurden. Das
„Looking Glass“ ermöglicht es, auf fremden Webseiten Kommentare anzubringen.

Das Medium ist Teilnehmer, Agent beim Lesen und Schreiben, es wird zu
einer sozialen Plastik, die sich ihre Struktur und Inhaltlichkeit selbst
erarbeitet.


Lobende Erwähnung:

Frank Klötgen: Endlose Liebe - Endless Love

Nach Spätwinterhitze (2004) wartet Frank Klötgen wiederum mit einem
digitalen erzählerischen Leckerbissen auf. Sein neues Netzprojekt
Endlose Liebe - Endless Love ist eine gelungene Persiflage auf
Liebestragikomödien, die sich in zwei, drei, vier oder mehr Akten
durchspielen lässt. Endlose Liebe ist ausgestattet mit 19 Liebes- und
Leidensliedern, die Klötgen selbst mit der Band Marylin's Army singt.
Klangvolle und skurrile Requisiten ergänzen die reduzierte
Bühnenlandschaft des als "Trashical" bezeichneten Online-Musicals.
Lieder und Musik wurden von Joachim Schäfer komponiert.

Klötgen ist einer der wenigen deutschsprachigen Netzliteraten, die einen
Weg gefunden haben, Narration und Dramaturgie gewinnbringend mit dem
Medium Internet zu verbinden und sich dabei vor allem der Handlung
gegenüber verpflichtet sehen. Es gelingt ihm außergewöhnlich gut, die
uns geläufigen Mittel des Internets für seine skurrilen Geschichten
einzusetzen. Er arbeitet nicht mit hochauflösenden 3D-Grafiken, nicht
mit Flash-Animationen oder Code-Effekten, sondern mit unseren
Erwartungen, Wünschen, Sehnsüchten und Lastern.

Endlose Liebe - Endless Love ist in mehrfacher Hinsicht ein
doppelbödiges Theaterstück; es benutzt die performativen Mittel des
Computers und inszeniert den Bildschirm auf einfache Weise als
Guckkastenbühne. Hier nun spielen sich die Szenen und Akte des Stücks
ab. Die Figuren sind allesamt lediglich weiß auf schwarzem Grund
skizziert. Einzelne Dialoge erhalten ihren eigenen Rahmen in
Pop-up-Fenstern. Die sieben Protagonisten des Stücks liefern sich
amüsante Liebeskämpfe und Verwicklungen bis zum Mord. Der Ausgang aus
dem Irrgarten der Gefühle ist nicht leicht zu finden. Die Geschichte
kennt mehrere unterschiedliche Verläufe.


Lobende Erwähnung:

Dirk Schröder: Macelib

Ins Zentrum von Maclib stellt Dirk Schröder seinen aufwendig
programmierten Gedichtegenerator Wording, der jedoch nicht beliebige
Gedichte erzeugt, sondern versucht, ein ebenfalls computererzeugtes
Gedicht anzuzeigen. Das gelingt immer nur näherungsweise, da weitere
Algorithmen dieses Prozess stören. Alle verwendeten Programmcodes stellt
Schröder im Quelltext zur Verfügung. Außerdem kontextualisiert er sein
Projekt durch eine umfangreiche Linksammlung, die auf wichtige Texte und
Material zur automatischen Textgenerierung verweist.

Der ganze Aufwand, und genau darauf zielt das Projekt, deutet letztlich
auf die Frage, die alle Gedichtmaschinen aufwerfen: Wenn der Text
beliebig neu generierbar ist, was genau macht dann noch die Qualität des
einzelnen Produktes aus? Oder anders gefragt: Muss nicht eine originär
menschliche Leistung, wie Intuition oder Unberechenbarkeit hinzutreten,
um aus einem Textkonstrukt ein Gedicht zu machen?

Dirk Schröders gelungene und konsequente Arbeit hat die Jury durch ihre
Originalität, die Komplexität ihrer Fragestellung und Ausführung
überzeugt. Georges Perec hat sein erwähntes Hörspiel damit enden lassen,
dass die Maschine am Schluss zusammenbricht, als sie ein Goethe-Gedicht
verbessern soll.

Auch Schröders Maschine läuft auf ein zerstörerisches Ende zu. Während
der Interessierte sich in den letzten sechs Wochen mit dem Generator
beschäftigen konnte, veränderte sein Verhalten gleichzeitig, kaum
merklich, die Webseite von Macelib. Dieser einprogrammierte langsame
Tanz der Webseiten endet am 11.11. um 24 Uhr mit einem furiosen Finale.
Das Metaprogramm von Macelib erstellt aus den „Abfall“-Daten von Wording
sowie den gesammelten Benutzerdaten ein Tableau und löscht Macelib. Wer
bei der Aufführung von Macelib nicht dabei war, wird also nur noch das
Schlussbild sehen und eine Dokumentation lesen können, die das Versäumte
beschreibt.


http://www.junggesellenpreis.de




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http://auer.netzliteratur.net
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