[rohrpost] Ankündigung: Berlin, 21.7., Disputation über algorithmische Literatur

Florian Cramer fc-rohrpost at plaintext.cc
Die Jul 18 00:18:03 CEST 2006


Liebe rohrpost,

wer Lust und Zeit hat, am...

- Freitag, dem 21.7., 10:00 Uhr in die 
- Freie Universität Berlin, 
- Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, 
- Habelschwerdter Allee 45 ("Silberlaube"), U Thielplatz
- oberes Stockwerk nahe Mensa, Raum JK 28 208

...zu kommen: Ich verteidige meine Doktorarbeit "Exe.cut[up]able
statements - Poetische Kalküle und Phantasmen des selbstausführenden
Texts".  Anbei füge ich das Inhaltsverzeichnis und einen Abschnitt von
S. 252-255 über Jeffrey Shaws "Legible City".  (Den Gesamttext darf ich
vor Abschluß des Verfahrens nicht veröffentlichen, entsprechende
Anfragen daher bitte an mich privat.)

Wer meine Texte kennt, wird kaum überrascht sein, denn die Arbeit
kombiniert und systematisiert nur, womit ich mich in den letzten zehn
Jahren viel beschäftigt habe. Mit "Words Made Flesh" 
<http://pzwart.wdka.hro.nl/mdr/research/fcramer/wordsmadeflesh/> liegt
seit letztem Jahr auch eine englischsprachige Sachbuch-Kurzfassung -
ohne die philologischen Teile und mit stärkerem Fokus auf Computerkultur
- vor.

Vielen Dank auch an die rohrpost; ohne ihre (zwar seltenen, aber
interessanten) Debatten und ohne die daraus entstandenen Begegnungen
wäre meine Arbeit eine andere geworden, besonders in Abschnitten wie dem
folgenden.

-F


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Textkitschwelten: Jeffrey Shaws Legible City


Somit formuliert jodis Kunst eine Antithese zu sogenannter
,,interaktiver`` und ,,multimedialer`` Kunst, auch solcher, die Schrift
und Spiel verbindet. Dies zeigt beispielhaft der Vergleich mit Jeffrey
Shaws Computerinstallation The Legible City, die zwischen 1989 und 1991
entstand, Dauerexponat im Karlsruher ZKM ist und als Klassiker ihres
Genres gilt. [Vgl. popper:electronic , S. 110f.; block:p0es1s, S. 14
nennen die Arbeit einen ,,Meilenstein der sprachorientierten
interaktiven Medienkunst``.] Ihre Hardware kombiniert eine
videoprojizierte dreidimensionale Graphiksimulation mit einem
Heimtrainer-Fahrrad als Navigationsinstrument. Die Projektion zeigt
abstrakt-kubische 3D-Repräsentationen der Städte New York, Amsterdam und
Karlsruhe, die Betrachter auf dem Fahrrad durchfahren können. Die
Architektur der Städte besteht aus dreidimensional berechneten
Buchstaben und Wörtern, die von Shaws Künstlerkollegen Dirk Groeneveld
verfaßt wurden. Zwei Jahre bevor das Computerspiel Doom immersive
3D-Spielwelten mit subjektiver Betrachterperspektive auf handelsübliche
PCs brachte, mußte die Installation technisch aufwendig auf Silicon
Graphics-Computern programmiert werden, wie sie damals von
Hollywood-Studios für digitale Spezialeffekte eingesetzt wurden. In
einer Generalkritik der Netzliteratur erhebt Stephan Porombka die
Legible City zur Referenz elektronischer Poesie schlechthin, indem er
auf denkwürdige Weise von technologischem Aufwand auf künstlerische
Qualität schließt:

  ,,Nichts, was in den 90ern für den Computer geschrieben wurde, konnte
  sich mit einer Installation messen lassen, wie sie etwa Jeffrey Shaw
  mit Legible City realisiert hatte -- technologisch nicht und auch
  nicht konzeptionell. Immerhin hatte Shaw einen mehrere zehntausend
  Mark teuren Silicon Graphics Crimson Computer eingesetzt, um die
  richtigen Effekte zu erzielen. Nur mit einem solchen Gerät ließ sich
  dem Rezipienten vermitteln, dass die eigene Aktivität mit der Bewegung
  des digitalen Bildes auf der Leinwand gleichgeschaltet war.``

Mit seinem Satz von der ,,eigene[n] Aktivität``, die in der
Installation ,,gleichgeschaltet`` werde, formuliert Porombka, ohne
es zu beabsichtigen, eine naheliegende Kritik an dem Werk. Auf ihrer
einfachsten Ebene ist die Legible City ein alternatives Nutzerinterface
zum Lesen von Texten auf dem Computer, das die konventionelle Emulation
zweidimensionaler Druckseiten auf Computerbildschirmen durch eine
immersive dreidimensionale Textlandschaft ersetzt. Deren Gebrauch
erscheint intuitiv dank der Simulation eines anthropomorphischen,
euklidischen Raums sowie des Fahrradfahrens als eingeübter Kulturtechnik
der Bewegung in Räumen. Die Arbeit ist daher das perfekte Beispiel
digitaler Kunst als ,,interaktiver`` Simulation ,,virtueller
Realität`` durch Nutzerschnittstellen, deren Anthropomorphismus soft-
und hardwareseitig aufwendig realisiert wird, mit dem Produkt einer
Installation, die an Hightech-Ausstellungsorte elektronischer Kunst
gebunden ist.

Wahrscheinlich ohne Wissen des Künstlers knüpft die Legible City an
Campanellas Stadtutopie der Città del sole mit ihren philosophischen
Mauerbildern an, bleibt jedoch Technikspielzeug. Sie ist nicht, wie
Frank Popper suggeriert, [popper:electronic , S. 111.] eine Fortsetzung
der ,,parole in libertà``, der Befreiung von Sprache von ihren
konventionellen typographischen und grammatikalischen Begrenzungen; denn
Marinetti zielt auf eine Befreiung der Schrift von Anthropomorphismen
ab, Shaws Installation jedoch erlegt dem Text den dreidimensionalen
Stadtraum als Restriktion, ,,contrainte``, auf, die sich jedoch nicht
als solche exponiert, sondern illusionistisch verschleiert. Die
Schrift wird nicht befreit, sondern in eine pseudointeraktive
Kitschwelt gesperrt. Auch im Vergleich zu anderem Buchstabenkitsch,
buchstabenförmigen Bauklötzen und alphabetischen Spielzeugen zum
Beispiel, wie sie seit dem 19. Jahrhundert verbreitet sind, ist die
Legible City in ihrer Interaktion höchst eingeschränkt. Es ist schlicht
falsch, was Shaw über sein Werk schreibt:

  ,,Travelling through these cities of words is consequently a journey
  of reading; choosing the path one takes is a choice of texts as well
  as their spontaneous juxtapositions and conjunctions of meaning.``

Denn die ,,juxtapositions`` sind nicht spontan, sondern Teil einer
vorab determinierten Menge mathematischer Kombinationsmöglichkeiten,
die in jene Software eincodiert sind, die die Installation steuert,
ohne jedoch wie in jodis Netzkunst sichtbar gemacht, geschweige denn
ästhetisch ausgestellt zu werden. Es ist schlicht unmöglich, daß ein
Wort auf dem Bildschirm erscheint, das nicht dem Computerprogramm zuvor
eingeschrieben wäre. Und da seine ,,conjunctions`` durch kombinatorische
Algorithmen und simulierte Raumdimensionen eingeschränkt sind, ist es
eine Illusion der Interaktivität, Spontaneität und Intuitivität, die
Shaws Arbeit verkauft, ohne diese Illusion kritisch -- oder überhaupt --
zu reflektieren.  Deutlich wird dies an Shaws Aussage:

  ,,The handlebar and pedals of the interface bicycle give the viewer
  interactive control over direction and speed of travel. The physical
  effort of cycling in the real world is gratuitously transposed into
  the virtual environment, affirming a conjunction of the active body in
  the virtual domain.``

Shaw erkennt also weder den Illusionscharakter seiner Arbeit, noch ihre
Struktur eines künstlichen behavioristischen Systems, in dem Körper und
Technik in ein prekäres Verhältnis wechselseitiger Kontrolle treten. Es
ist die Maschine, die hierbei gewinnt, weil sie den Aktionsrahmen
vorgibt und vom Fahrradfahrer nicht umprogrammiert werden kann.

Diese künstlerische Dummheit charakterisiert nicht nur Shaws Arbeit,
sondern das gesamte Feld sogenannter ,,interaktiver Kunst``, die sich
auf einem simplifizierten, reduktiven Verständnis von Interaktion als
kybernetischer Rückkopplung und Reiz-Reaktions-Schemata gründet, einen
Behaviourismus, den in black boxes versteckte Maschinenalgorithmen
noch zusätzlich restringieren. Vergleicht man wiederum traditionelle
Buchstaben-Spielzeuge, so sind diese interaktiv in einem viel
umfassenderen, anthropologischen Sinne, weil sie keine künstliche Welt
vorgeben, sondern frei zur Welt in Beziehung gesetzt werden können,
abgesehen davon, daß sie ihre ,,cities of words`` auf bescheidenere
Weise verkörpern.



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Inhaltsverzeichnis

1 Von Kalkül und Phantastik 7
  1.1 Einleitung 7
  1.2 Techno-Wortpoetiken 14

2 Prototypen der Sprachalgorithmik 23
  2.1 Sprachmagie 23
      Lautpoesie 23
      Cut-ups 29
  2.2 Pythagoräisches Denken 32
      Discordia concors 32
      Acumen- / argutia-Rhetorik 35
      Serialismus 38
      Naturwissenschaftliche Ästhetik 41
      Pythagoräisches versus magisches Denken 43

3 Kabbalistik und ars combinatoria 45
  3.1 Kabbala 45
  3.2 Ramón Llulls ars 50
  3.3 Alphabetum, figurae und Orbis pictus als Benutzerinterfaces 57
  3.4 Kombinatorische Kreisscheibengedichte 60
  3.5 Wortwechseldichtung 64
      Rhetorische Wortstellungsfiguren 64
      Permutationsdichtung von der Antike bis zur Frühneuzeit 65
      Proteusvers-Dichtung im 17. Jahrhundert 73
      Justus Georg Schottelius' Stammwörter-Lehre 79
      Georg Philipp Harsdörffers Wortkombinatoriken 81
      Stanislaus Mink von Weinsheuns Proteus-Poetik 85
      Leibniz, Dissertatio de arte combinatoria 87

4 Quirinus Kuhlmann, XLI. Libes-Kuß 89
  4.1 Mathematische Permutation 93
  4.2 Strophenbau 97
  4.3 Stammwörter und ihre allerley Bindungen 99
  4.4 Lullische principia 104
      Kuhlmanns Dichtung ,,nach Kircherus Wunderweise" 104
      Antonymien und Metonymien 107
      Principia relativa 111
      Exkurs: Georges Perec und Abraham Abulafia 115
      Sprengung der principia relativa 118
      Principia universalia 119
      Principia absoluta 121
  4.5 Discordia concors: Der ,,Wechsel" als Fügung von Gegensätzen 122
  4.6 Intertextualität des Gedichts 124
      Harsdörffers Wechselsatz 124
      Salomonisches reverse engineering 125
  4.7 Weisheitskunst und Wechselrad 129
      Di Menschen Weißheit fassen 129
      Rekonstruktion des Wechselrads 132
      Kreiskalküle: Zusammenfassung 139
  4.8 Rotæ Mundi 141
      Omnium rerum, heus! vicissitudo 141
      Glücksrad 148
  4.9 Salomonische Fama 151
  4.10 Ekstatische Algorithmik 155

5 Algorithmische Totalkunst 159
  5.1 Partitur und Performance 159
      La Monte Young, Composition 1960 159
      George Brecht, Lamp Events 160
  5.2 Totalkombinatorik der Schrift 161
      Daniel Georg Morhof, Jonathan Swift, Quirinus Kuhlmann 161
      Jorge Luis Borges, La Biblioteca de Babel 165
      John Barth, The Literature of Exhaustion 169
      Novalis, Das Allgemeine Brouillon 172
      Sade, Les 120 journées de Sodome 175
      Stéphane Mallarmés Livre 176

6 Sprachalgorithmik in Strukturalismus und Kunstavantgarden 179
  6.1 Ferdinand de Saussures Anagramm-Studien 179
  6.2 Roman Jakobson und Velimir Chlebnikov 180
  6.3 Tristan Tzaras dadaistischer Poesie-Algorithmus 182
  6.4 Marcel Duchamps Erratum musical 184
  6.5 Kurt Schwitters' i-Kunst 186

7 Stochastische Poetiken 189
   7.1 Konkrete Poesie und Informationsästhetik 189
       Eugen Gomringers Konstellationen 189
       Max Benses Informationsästhetik und ,,künstliche Poesie" 191
   7.2 Markov-Ketten-Poesie 196
   7.3 Abraham M. Moles' permutationelle kunst 200
   7.4 Stochastische Philologie in Italo Calvinos 
       Se una notte d'inverno un viaggiatore 205
8 Algorithmik als Chaos und Restriktion 207
   8.1 John Cages Indeterminismus 207
   8.2 Oulipo 210
       Pataphysik 210
       Raymond Queneaus 100.000 Milliarden Gedichte 211
       Oulipotische Pataphysik und contraintes 213
   8.3 Erzählformeln: Italo Calvino, Vladimir Propp, Plots Unlimited 216
   8.4 Spekulatives Programmieren 219
       Psychogeographische Computer 219
       Adrian Wards Auto-Illustrator 221

9 Rekursion 225
   9.1 Gorgias' Lob der Helena 225
   9.2 Rekursion als hack 226
   9.3 Rekursive Texte 228
   9.4 Exkurs: Rekursion des Spiels bei Harsdörffer 230
   9.5 Sprachrekursion in Alvin Luciers I am sitting in a room 233
   9.6 Rekursion von Schrift und Erzählung: John Barths Frame Tale 244

10 Algorithmik als ästhetische Denkfigur 247
   10.1 Quellcode und ASCII Art: jodi, Location 247
   10.2 Textkitschwelten: Jeffrey Shaws Legible City 252
   10.3 Quellcode-Ready Mades: jodi, soldier.c 255
   10.4 Programmiersprachen-Poesie 263
        ALGOL-Lyrik des Oulipo 263
        Software in der Konzeptkunst 264
        Perl Poetry 266
        jabberwocky.pl 267
        jaromil, forkbomb 270
        Graham Harwood, London.pl 271
   10.5 Codeworks 275
        Alan Sondheim 279

11 mez, _Viro.Logic Condition][ing][ 1.1_ 283
   11.1 Textanalyse 283
   11.2 Poetik der Ansteckung 295

12 Künstliche Intelligenz, Poesieautomaten und ihr Scheitern 301
   12.1 Athanasius Kircher und Quirinus Kuhlmann 302
   12.2 John Searles chinesisches Zimmer 306
   12.3 Georges Perec, Die Maschine 308
   12.4 Hans-Magnus Enzensbergers Poesie-Automat 311
   12.5 Ferdinand Schmatz und Franz-Josef Czernin, POE 313

13 Schlußfolgerungen 319
   13.1 Medien?  319
   13.2 Sprache und Schrift 321
   13.3 Hypertext?  325
   13.4 Systematisierung und texttheoretische Implikationen 327
   13.5 Algorithmik und Phantastik 330

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