[rohrpost] Neuerscheinung: Jürgen Riethmüller: Kontrollgesellschaft außer Kontrolle
Dragan Espenschied
drx at a-blast.org
Don Mar 2 19:17:38 CET 2006
Neuerscheinung:
Jürgen Riethmüller:
Kontrollgesellschaft außer Kontrolle. Perspektiven kritischer Theorie
im Zeitalter der Globalisierung.
Stuttgart, merz & solitude 2005
Andrea Jenewein:
Ein sehr interessantes Buch, das viel diskutierten Ansätzen wie
'Empire' von Negri und Hardt aber auch den zahllosen
globalisierungskritischen Publikationen der letzten Jahre einen
alternativen und recht eigenständigen Ansatz entgegenstellt, ist
jetzt bei merz & solitude erschienen: Kontrollgesellschaft außer
Kontrolle von Jürgen Riethmüller.
Sven Opitz, Autor des von Laclau her argumentierenden Werks
"Gouvernementalität im Postfordismus" (2004) schreibt dazu im intro:
'Neben der wissenschaftlichen Normalliteratur mit ihrer diszipliniert
kalkulierten Zielsetzung entstehen manchmal Bücher, die in ihrem
Anspruch so unvernünftig überbordend sind, dass es nur eine Freude
ist, ihnen bei ihrem Treiben zuzusehen. Jürgen Riethmüller jedenfalls
will es wissen. Auf knapp 800 Seiten probt er einen Parforceritt
zwischen kritischer Zeitdiagnostik und akademischem Zettelkasten,
Manifest und Gesellschaftstheorie, angeregter Feuilletonistik und
Subkulturanalyse. (...) Worum geht es genau? Als Referenzpunkt dient
die von Gilles Deleuze angestellte Beobachtung, dass die Gegenwart
durch Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen gekennzeichnet sei.
Riethmüller bezieht diese These auf die globale Restrukturierung des
Kapitalismus nach neoliberalen Imperativen und gelangt auf dem Weg
einer kulturtheoretischen Analyse zur Diagnose der
Kontrollgesellschaft außer Kontrolle: Heute herrsche eine Krise der
Zeichen, die Bedeutungen seien von ihrem Gegenteil oft
ununterscheidbar geworden. Dadurch könnten öffentliche
Begründungsdiskurse eine paradoxe Form annehmen. So hört man
neuerdings, dass Bomben den Frieden sichern, die
Arbeitszeitverlängerung den Arbeitsplatzmangel beseitigt und die
Folter zugunsten der Menschenrechte waltet. Aufgrund der zirkulären
Struktur der Paradoxie reproduzieren sich die hegemonialen
Verhältnisse in 'rasendem Stillstand' (Paul Virilio) – was wiederum
neue Anforderungen an jede kritische Praxis stellt.'
Ulrich Kriest ergänzt im lift stuttgart: 'Warten Sie mit Roman Herzog
auch noch immer auf den großen Ruck, der diese Gesellschaft wieder
fit for fun macht? (...) Wenn - mit Karl Marx gesprochen - die
gesellschaftliche Entwicklung ihre Dynamik aus sozialen Widersprüchen
bezieht, was geschieht dann, wenn die Bedeutung der kulturellen
Symbole, Zeichen und Dinge kontinuierlich ausgedünnt wird, wenn an
die Stelle von Widersprüchen Paradoxien treten? Ist der "Ruck"
vielleicht sogar die Krankheit, als deren Lösung er sich geriert? Und
wie sieht eine gelähmte Gesellschaft eigentlich genau aus, in ihren
Teilbereichen Kultur, Politik, Philosophie, Neue Medien oder Arbeit.
Heraus kommt ein inspiriertes und inspirierendes Theorie-Surfen in
der Manier der Cultural Studies, die nach möglichen
Anknüpfungspunkten für Kritische Theorie sucht. Weil es keine
gültigen Makrotheorien mehr gibt, geht es mit Luhmann, Adorno,
Theweleit, Lacan, Foucault, Deleuze und Derrida ins paradoxale
Handgemenge. (...). Spannend und ausgesprochen unterhaltsam ist so
ein dialogisches Schreiben allemal. (..) Man braucht vor dem
unterhaltsamen Brocken nicht in die Knie zu gehen, sondern kann an
jeder beliebigen Stelle einsteigen und sich theoretisch fit
machen ...'
Was relativ abstrakt als Versuch der Neuformulierung kritischer
Theorie angekündigt ist, besitzt jedenfalls einen ungeheuren Mehrwert
in der beeindruckenden Fülle des zitierten Materials und in der
besonderen Qualität des Autors, auch schwierigste Theoriegebäude kurz
und verständlich zu erläutern. Dadurch gewinnt das Buch vor allem
auch für Studenten, die sich mit diversen Positionen der kritischen
oder poststrukturalistischen Theorien oder aber der Kulturtheorie
ganz allgemein auseinander setzen müssen, einen nahezu unbezahlbaren
Wert.
P.S.: Rezensionsexemplare auf Anfrage bei
birgit.haasen at merz-akademie.de