[rohrpost] Tagung: Was ist ein Medium? - Vorträge online
Florian Cramer
cantsin at zedat.fu-berlin.de
Die Mar 7 19:03:40 CET 2006
Till:
> das finde ich jetzt aber nicht so ganz fair, die polemischen Stellen, die
> ja gerade im weiterem Textverlauf relativiert und nur als mögliche
> Perspektiven angeführt werden, aus der mail herauszureißen und
> nur darauf zu antworten!
Das mag sein - und bitte ich zu entschuldigen. Aber auch wenn man etwas
hypothetisch und polemisch einführt, setzt man damit ja ein Dispositiv,
und an dem habe ich mich gestört.
> „Das Anführen dieser beiden Polemiken soll deutlich machen, dass die
> Unterscheidung auf der Ebene des Motivs unabhängig davon ist, wie man sich
> dazu positioniert und auf welche Seite man sich stellt.
Damit bin ich eben nicht einverstanden, sondern störe mich schon an der
Unterscheidung als solcher, die ich simplifizierend finde.
> Fragen, die wir stellen wollen:
> - Warum ist die Nettime-Publikation nicht zustande gekommen?
Welche Nettime-Publikation meinst Du? Das alte "Read Me!"-Buch gibt es
doch nach wie vor.
> - Gibt es die Möglichkeit, Mailinglisten und Wikis oder andere Tools mit
> Publikationsvorhaben zu verbinden?
Ja, aber meiner Erfahrung nach nur unter folgenden Bedingungen:
(a) wenn das Forum (...Wiki, Mailingliste) offen ist, dann nur zu
allgemeinstmöglichen Themen und mit einer "neutral point of
view"-Vorgabe wie bei der Wikipedia. An der Wikipedia zeigt sich, daß
spezialisierte oder abseitige Themen, über die nur wenige Autor/inn/en
Expertise besitzen, dort kein gutes Umfeld vorfinden; siehe die
rohrpost-Diskussionen zu diesem Thema.
(b) wenn das Forum geschlossen und Teil eines zuvor wohldefinierten
Arbeitsprojekts ist. So kenne ich das aus der Vorbereitung von
Konferenzen oder aktuell eines "Software Studies"-Readers, der unter der
Beteiligung von rund dreißig internationalen Autorinnen und Autoren mit
einem speziellen Content Management System vorbereitet wird, was gut
funktioniert. Dabei gibt es auch ein Generationen- und Milieuproblem,
nämlich daß solche Projekte fast nur mit Leuten machbar sind, die mit
dem Internet sozialisiert und unter 45 Jahre alt sind, mit Ausnahmen,
die die Regel bestätigen.
> * Als Instrument des Diskurses (Diskussion einzelner Beiträge über
> Mailinglisten, Kommentieren der Beiträge im Wiki)
> * Um Kontexte im Buch mit zu distribuieren, wie weitere Texte, Audio- und
> Videotracks
> * Um in experimenteller Weise neue hybride wissenschaftliche Formate
> zu entwickeln
S.o..
> These: Würde am Anfang ein konkretes Ziel definiert, beispielsweise
> „Publikation plus Internetarchiv“, und würden am Projekt Personen teilnehmen,
> die über Publikationserfahrung verfügen (denn ein Tool ist ja kein Wunderding
> und deshalb werden unter experimentellen Bedingungen wahrscheinlich auch
> nur jene publizieren können, die dies auch vorher schon konnten), könnte
> in vielversprechender Weise experimentiert werden, eben weil es ein Motiv gibt.
Völlig einverstanden. Hinzu kommt auch, inwiefern die beteiligten
Personen selbst experimentierfreudig und Grenzgänger ihrer Disziplin
sind. Wer als Wissenschaftler Wert auf akademischen Diskurs legt, wird
sich auf das Experiment nicht einlassen, oder bestenfalls seine
Hilfskraft damit beauftragen, sein Manuskript in das Internetarchiv zu
stellen.
Solche Experimente haben ja auch den Nachteil, für die Beteiligten
anstrengend zu sein und Zeit zu kosten, die niemand hat. Außerdem
spielt die institutionelle Position und Reputation derjenigen eine
Rolle, die das Experiment leiten, kurzum: ob sie als Kollegen anerkannt
sind. Wenn etwa eine angesehene Fachzeitschrift, ein Fachverlag, ein
angesehener Wissenschaftler oder Fachjournalist ein solches Experiment
initiieren würde, gäbe es sicherlich größere Bereitschaft, daran
mitzuwirken.
> - Könnte man hier nun eine Struktur inszenieren, in der der Diskurs in Kontakt
> kommt mit konkreten künstlerischen und/oder medienaktivistischen Projekten?
Ich halte es für eine Illusion zu glauben, daß man diesen Kontakt über
ein solches Experiment herstellen kann. Wenn Akademiker dies nicht von
sich aus tun, werden sie es auch in anderen Zusammenhängen sein lassen.
Man kann die Wissenschaft nicht von außen zu etwas beglücken, zu dem sie
keinen inneren Antrieb hat.
Dieses Problem ist ja nicht auf das Fach Medienwissenschaften
beschränkt. So gibt es nur wenige Literaturwissenschaftler, die auch
essayistisch, in Feuilletons und im engen Kontakt mit dem
zeitgenössischen Literaturbetrieb arbeiten (wie im deutschsprachigen
Raum z.B. Karlheinz Bohrer und Gert Mattenklott) und auch nur wenige
vergleichbar arbeitende Kunsthistoriker (wie Dieter Daniels und
Hans-Dieter Huber).
> und dadurch auf das - sagen wir mal - „Denken“ zurückwirkt. Da nun aber ein
> im Speichermedium imaginierter Adressat und ein tatsächlicher Rezipient
> auseinander fallen, könnte mit der Adressatenimagination gestalterisch
> gearbeitet werden. Neue Formen der Distribution zu schaffen, berührt also
> auch dann, wenn in ihnen nicht kollaboriert wird, die Theorieproduktion.
> Welche Distributionsformen wären für die PRODUKTION von Theorie fruchtbar?
Bitte mißverstehe mich nicht, wenn der folgende Satz brutal klingt: Du
wirst die "Produktion" von Theorie nicht beeinflussen können, wenn Du
selbst kein standing als Theoretiker besitzt. Die Wörter "Theorie" und
"Theoretiker" sind dabei beliebig durch andere Wörter wie
"Kunst"/"Künstler", "Journalismus/Journalist" oder
"Wissenschaft"/"Wissenschaftler" ersetzbar.
Außerdem zucke ich bei der Formulierung "Produktion von Theorie" leicht
zusammen. Eine Theorie ist ja eine Sichtweise, die durch Anschauung
gewonnen wird, statt auf Planvorgabe in Arbeitsverhältnissen hergestellt
zu werden. Womit wir wieder bei unserem Ausgangsdisput wären.
Deiner ganzen Hypothese scheint mir eine strukturelle Verwechselung von
"Theoretiker" und "Wissenschaftler" zugrundezuliegen. Ein
Wissenschaftler kann, muß aber kein Theoretiker sein und umgekehrt. Zum
Beispiel stützen sich die deutschen Kultur- und Medienwissenschaften
maßgeblich auf Theoretiker, die nie Lehrstühle innehatten; Aby Warburg
und Walter Benjamin. Klassische Medientheorien des Radios stammen sogar
von Dichtern: Marinetti, Chlebnikov, Brecht und Enzensberger. Umgekehrt
steht in keiner universitären Stellenausschreibung, daß es Aufgabe von
Wissenschaftlern sei, Theorien zu formulieren. Viele gute
Wissenschaftler würden die Bezeichnung "Theoretiker" schon aus
Bescheidenheit zurückweisen.
-F
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