[rohrpost] unter den schauern des rausches

Tilman Baumgärtel mail at tilmanbaumgaertel.net
Sam Jul 7 09:32:22 CEST 2007


Hi!

Etwas off-topic, aber hoffentlich trotzdem interessant ist der folgende 
Text, den ich für die taz für dieses Wochenende geschrieben habe - in 
memoriam einer schon wieder halb vergessenen Berliner Institution von 
einst...

Gruesse,
T. B.

-----------------------------------SCHAPP!-------------------------------------------------------------------------
Unter den Schauern des Rausches

In ihrem Buch „Dancing in the Streets“ erzählt Barbara Ehrenreich die 
Geschichte des Feierns

Von Tilman Baumgärtel


War da nicht mal was? Am mächsten Wochenende? Dem ersten Samstag im Juli?

Irgendwie kommt es einem schon wie eine Erinnerung aus einer lange 
versunkenen Zeit vor, dass am ersten Juli-Wochenende einst die 
Loveparade durch Berlin zog. Der neue Organisator, Rainer Schaller, der 
Besitzer einer Kette von Fitness-Studios, hat nach den üblichen 
bürokratischen Querelen mit der Stadt Berlin die Konsequenzen gezogen 
und die Techoparty al fresco ins Ruhrgebiet verlegt. Ende August soll 
sie nun in Essen stattfinden, in den kommenden Jahren abwechselnd in 
Dortmund, Duisburg und Bochum. Dass die Loveparade noch einmal nach 
Berlin zurückkehrt, schließt er aus.

Das ist nun wohl das endgültige Ende einer Institution, die wie kaum ein 
anderes Event das internationale Image des Berlins der Nachwendezeit 
geprägt hat. Wer die hämischen Berichte im vergangenen Jahr über die 
„McFit-Parade“ oder die gehässigen Kommentare zur endgültigen Absage in 
diesem Jahr in der Berliner Lokalpresse gelesen hat, kann den Eindruck 
gewinnen, dass niemand in der Hauptstadt der Loveparade eine Träne 
nachweint. Der Tagesspiegel etwa kommentierte: „Techno ist zwar nicht 
tot, riecht aber schon recht streng, und es war absehbar, dass die mit 
diesem Musikstil untrennbar verbundene Parade irgendwann ein Ende haben 
würde.“ Dass man in Berlin an jedem Tag der Woche die Auswahl zwischen 
mehreren Techno-Partys und -Clubnächten hat, ist Lokaljournalisten, die 
so etwas zu Papier bringen, offenbar nicht bekannt.

Doch es ist zu spät, das Für und Wieder der Loveparade noch einmal 
aufzurollen, die Arbeitsplätze, den Imagegewinn und die Touristen 
aufzulisten, die die Stassenparty Berlin gebracht hat. Auch die 
inkompetente Organisation der Loveparade-Begründer oder ihre angebliche 
„Geldgeilheit“, die Debatte darüber, ob die Loveparade nun eine 
politische Demonstration war oder nicht, die Provinz-Raver in 
Kuhfell-Outfits und mit Deutschland-Fahne sowie die fehlenden 
Dixie-Toiletten gehören der Vergangenheit an. Der „preußische Karneval“ 
(DJ Westbam) ist vorbei.

Wer am kommenden Wochenende trotzdem einen Phantomschmerz fühlt, für den 
gibt es nun ein Buch, mit dem er sich friedlich in den Tiergarten legen 
kann. Er kann sich daran freuen, dass dessen Ökosystem in diesem Jahr 
nicht von Hektolitern Raver-Urin in Gefahr gebracht wird und er kann den 
Vögeln lauschen, die nun nicht mehr von donnerndem Techno aus ihren 
angestammten Revieren verjagt werden. Und er kann in aller Ruhe lesen 
statt im Tresor zu einem der traditionellen 12-Stunden-Sets von Sven 
Väth zu tanzen oder einem der anderen internationalen DJs zuzuhören, die 
– von Kenny Dope bis Kevin Saunderson, von Felix da Housecat bis Timo 
Maas – einst am „Love-Weekend“ in der Stadt auftauchten. Das rechte Buch 
für so ein beschauliches Wochenende ist - das bisher nur auf englisch 
veröffentlichte - „Dancing in the Streets“ von der amerikanischen 
Publizistin Barbara Ehrenreich, das die ebenso lange wie spannende 
Geschichte des Feierns erzählt.

Für mehr als 10.000 Jahre gehörte ausschweifende Feste mit Musik und 
Tanz ebenso zum menschlichen Alltag wie Arbeit, Essen, Kinderkriegen, 
Krieg und Tod. Man kann es sehen auf Vasen aus dem antiken Griechenland 
und auf Reliefen in ägyptischen Pyramiden, auf Wandgemälden aus dem 
alten Rom und auf den Gemälden von Pieter Brueghel: Menschen, die auf 
den Strassen feiern. Sie schlagen Trommeln und blasen auf der Flöte. Sie 
sind geschminkt, tragen Masken und Kostümen. Sie halten sich an den 
Händen oder drehen sich im Kreis, singen und tanzen, schnell und immer 
schneller, bis sie einen Zustand ekstatischer Glückseligkeit erreicht 
hatten. Wenn sie nicht mehr konnten, kehrten sie - gleichzeitig 
erschöpft und gestärkt - in ihr Alltagsleben zurück. Wie ein langer 
Ringelreihen ziehen sich solche Szenen von Afrika bis Indien, von Europa 
bis in den Nahen Osten.

Bis ins 14. Jahrhundert waren solche Spektakel selbstverständlicher Teil 
der menschlichen Existenz - nicht nur in „primitiven Gesellschaften“ wie 
denen der australischen Aborigines, sondern auch in europäischen 
Bischofsstädten. Im Westen endet der Spaß mit dem Anbruch der Neuzeit, 
mumifizierter Relikte dieser vergangenen Exzesse sind in Deutschland 
etwa das Münchner Oktoberfest oder der Kölner Karneval. Den Teilnehmern 
der oft spontanen Lustbarkeiten des Mittelalters - in dem in einigen 
Gegenden Europas jeder dritte Tag ein Feiertag war - dürften solche 
Veranstaltungen freilich nur noch wie harmlose Schrumpfformen ihrer 
vergangenen Feste erscheinen: In Utrecht sollen während eines Ausbruchs 
der „Tanzmanie“ 200 Menschen so lange auf einer Brücke getanzt haben, 
bis diese einstürzte und die Tänzer in den Fluten des Rheins ertranken – 
an soviel Einsatz könnten sich auch die hartgesottensten party people in 
Technoclubs wie dem Berliner Berghain noch ein Beispiel nehmen.

Für Ehrenreich entspringen das menschliche Bedürfnis, gemeinsam zu 
rhythmischer Musik zu feiern, dem Notwendigkeit, heterogenen Gruppen von 
Menschen ein Gefühl von communitas zu geben und so zu solidarischen 
Kollektiven zusammen zu schweißen. Der gemeinsame Tanz führt zu 
ekstatischen Momenten, die Hierarchien nivellieren und für eine 
begrenzte Zeit zur kollektiven Erfahrung von absoluter 
Gleichberechtigung beitragen: Im Karneval des kolonialen Trinidads und 
bei den Saturnalien der Römer übernahm die Herrschaft während der Feiern 
sogar kurzeitig die Aufgaben des Gesindes. Aber beim Feiern wurden nicht 
nur die gesellschaftlichen Normen frü kurze Zeit außer Kraft (in Irland 
sollen im 16. Jahrhundert bei Festen Priester auf der Strasse mit 
Schweinen kopuliert haben, bevor sie wieder auf die Kanzel 
zurückkehrten). Sie erlaubten ihren Teilnehmern auch ein temporäres 
Gefühl von selbstvergessener Transzendenz.

Nietzsche beschreibt diesen Zustand in ”Die Geburt der Tragödie aus dem 
Geist der Musik” so: "Jetzt ist der Sklave freier Mann, jetzt zerbrechen 
alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder 
"freche Mode" zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem 
Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten 
nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der 
Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem 
geheimnisvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äußert sich 
der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit: er hat das Gehen 
und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend in die Lüfte 
emporzufliegen... Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk 
geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten 
Wonnebefriedigung des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern 
des Rausches."

Das antiken Griechenland personifiziert das Bedürfnis nach zeitweiligem 
Ausscheren aus der profanen Lebenswirklichkeit in dem Party- und 
Drogengott Dionisus, den Ehrenreich den “ersten Rockstar” nennt. Viele 
Eigenschaften des antiken Dionisus leben in frühen Darstellungen von 
Jesus fort, dessen Evangelium ja bis heute beim Abendmahl mit Hilfe von 
Wein körperliche erfahrbar gemacht wird - freilich nur in kleinsten Dosen.

In der Tat scheint die Kirche im Europa des Mittelalters einer der 
führenden Clubbetreiber gewesen zu sein: viele der religiösen Feste 
wurden offenbar mit Sang, Tanz und Gelärme nicht nur vor, sondern 
tatsächlich im Gotteshaus ausgetragen. Eine ganze Reihe von Synoden und 
Konzilen des 13. Jahrhundert verdammen das Tanzen in der Kirche. Den 
Kirchenvätern waren diese Feiern – die Michail Bachtin in seinem 
Rablais-Buch als frühe “Gegenkultur” beschreibt und von denen die Kirmes 
der Gegenwart ein matter Abglanz ist - suspekt, weil sie ihre Autorität 
untergruben und zu spontanen Volksaufständen führen konnten.

Die allmähliche Abschaffung der Volksfeste des Mittelalters durch Kirche 
und weltliche Machthaber führte in der frühen Neuzeit in Europa zu einer 
Welle der “Melancholie“. Aber es war nicht nur der Klerus und der Adel, 
die auf karnevaleske Ausschweifungen verzichten konnten. Auch 
Militarismus, Industrialisierung und Kapitalismus brauchten für ihre 
„Einschließungsmilieus“ (Foucault) Fabrik und Kaserne ausgeschlafene und 
leistungsbereite Arbeiter, keine ausgepowerten Partyleichen mit Kater 
und wundgetanzten Füssen.

Diese Geisteshaltung führte zu einer moralischen Verdammung jeder Art 
von kollektivem Ausrasten - unkontrollierte Feierlust führt nicht nur 
zum individuellen Niedergang, sondern kann für die “protestantische 
Ethik” der Neuzeit nur im kollektiven Blutrausch münden. Diese Haltung 
spiegelt sich noch in einem Artikel, den Gustav Seibt 1997 in der 
Berliner Zeitung veröffentlichte: Es sei “bedenklich und auch 
verwunderlich, dass so gar niemand sich vor dem Massenfest Love Parade 
gruselt, das ganz ungeniert die Entmächtigung der oberen Gehirnregionen 
ins Werk setzt und mit der kollektiven Zerstörungslust spielt.” Um mit 
Nietzsche zu sprechen: der Arme ahnt „freilich nicht, wie leichenfarbig 
und gespenstisch“ solche Bedenken sich ausnehmen, „wenn... das glühende 
Leben dionysischer Schwärmer vorüberbraust.“

Bei der Loveparade ist es übrigens nie zu Akten “kollektiver 
Zerstörungslust” gekommen - höchstens zu individuellen Zusammenbrüchen 
wegen Dehydrierung, Hitzeschlag oder einer Überdosis Drogen. Wie in 
Woodstock, wie beim Karneval in Brasilien oder Trinidad gehört es zu den 
erstaunlichsten Eigenschaften derartiger Festivität, dass sie trotz der 
vielen Teilnehmern und der extremen Begleitumstände (Hitze, laute Musik, 
Gedrängel) meist friedlich und gewaltfrei verlaufen.

Der Grund dafür liegt für Ehrenreich in dem “kollektiven Vergnügen” und 
in der spontanen Zuneigung zum Mitmenschen, welche die Teilnehmer an 
solchen Veranstaltungen empfinden - ein Konzept, für das die englische 
ebenso wenig wie die deutsche Sprache einen eigenen Begriff hat. “Warum 
ist davon so wenig übrig geblieben?”, fragt sie immer wieder in ihrem 
Buch. (Die mangelhafte Historisierung der Loveparade oder der Berliner 
Clubgeschichte sind ein leuchtendes Beispiel für dieses Phänomen.) In 
Deutschland dürfte die Instrumentalisierung von Massenspektakeln durch 
die Nationalsozialisten - denen Ehrenreich ein eigenes Kapitel widmet – 
der wichtigste Grund dafür sein, warum gemeinsame Bewegungen zu strikten 
Rhythmen bis heute einen schlechten Ruf haben.

Ein weiterer Grund dafür, dass die Geschichte des Feierns bis heute 
weniger bekannt und schlechter erforscht ist als die Geschichte der 
Kriege oder der Arbeit, dürfte in der ephemeren Natur derartiger 
Erfahrungen liegen. Am nächsten Morgen ist die Party vorbei, und all die 
lieben Menschen, mit denen man gestern einvernehmlich gerockt hat, sind 
nur noch schemenhafte Gestalten. Nicht umsonst ist Techno nie die 
emanzipatorische, gesamtgesellschaftliche Bewegung geworden, die sich 
viele ihrer Propagandisten erhofft hatten. Doch vor allem ist das 
zügellose Tanzen auf den Strassen kaum noch mit dem heutigen 
Arbeitsethos und dem Zeitgeist einer auf Leistung ausgerichteten 
Gesellschaft zu vereinbaren. (Barbara Ehrenreich selbst hat deren 
Exzesse in ihren letzten Büchern über die Dienstleistungsgesellschaft 
und die working poor dramatisch beschrieben.)

Doch Relikte der alten Feste findet Ehrenreich trotzdem in der 
Gegenwart. Beginnend mit den Happenings, Acid Tests und Be-Ins der 
Hippies beobachtet sie eine „Gegenzivilisation“, die den Exzess als 
Antidot zum Elend des Alltags wieder ins Recht setzt. Die Rituale von 
Sport-Fans sind ein Beispiel, das sie ausführlich diskutiert, Ereignisse 
wie der Notting Hill Street Carnival, die Proteste gegen den G8-Gipfel 
in Seattle oder - ja, genau! – die Loveparade ein anderes. Die Party, 
bei der für kurze Zeit die Regeln nicht mehr gelten und alle Menschen 
Brüder und Schwestern werden, geht also weiter - wenn auch nicht mehr in 
den Strassen von Berlin.

Barbara Ehrenreich: Dancing in the Streets. A History of Collective Joy, 
Metropolitan Books, 25 Dollar

-- 
Dr. Tilman Baumgärtel 
Film Institute, College of Mass Communication, 
University of the Philippines
www.tilmanbaumgaertel.net