[rohrpost] Interview: Gerald Nestler im aktuellen Kunstforum, Teil 2

Oliver Grau oliver.grau at donau-uni.ac.at
Mit Jun 24 15:45:38 CEST 2009


DB: In dem Projekt *CEOs* haben Toni Kleinlercher und du sechs fuehrende
VertreterInnen der Wirtschaft portraetiert. Wieso? Wird
Wirtschaftsbossen wie Hannes Androsch nicht ausreichend Aufmerksamkeit
in den Medien geschenkt?

GN: Uns ging es darum, subtilere Dinge herauszuarbeiten, die in
Zeitungsinterviews oder Fernsehdarstellungen nicht herauskommen: Gesten,
Haltungen, Ausdrucksweisen, Sprachausuebungen. Außerdem kennt man zwar
fuehrende Politiker, aber selten wirtschaftliche Entscheidungstraeger,
die bleiben, bis auf wenige Stars, im Hintergrund, hinter den von ihnen
gefuehrten Unternehmen und Brands. Sie besitzen meiner Ansicht nach
jedoch mindestens ebenso viel Macht oder spielen ihre Macht direkter
aus. Gleichzeitig geht es aber auch um die Frage: was kann das Portraet
als Kunstform heute?

DB: Aber warum schenkt ihr CEOs noch mehr Aufmerksamkeit, als diesen so
oder so zu Teil wird?

GN: Weil Aufmerksamkeit immer gerichtet ist und die Aufmerksamkeit, 
die wir ihnen schenken, eine andere Moeglichkeit anbietet und der
ueblichen Gerichtetheit widerspricht.

DB: Wie hat die Portraetreihe, die ihr fuer die Ausstellung *Re-Act* 
(2005) im Nikolaj Contemporary Art Center* in Kopenhagen
weiterentwickelt habt, funktioniert?

GN: Sehr gut, wie ich finde. Was auch sehr an der Unterstuetzung durch
Elisabeth Delin Hansen vom Nikolaj Contemporary Art Center und Marco
Evaristti lag. Es war fuer uns eine wunderbare Gelegenheit, die Arbeit
weiterzufuehren und ich denke, dass sie sich dadurch sehr entwickelt
hat. Das zeigt sich besonders, wenn man die Interviews parallel,
gleichzeitig nebeneinander betrachtet.

DB: Lauft ihr bei einer Zusammenarbeit mit CEOs nicht Gefahr von 
diesen im Sinne ihrer wirtschaftlichen Interessen instrumentalisiert zu
werden? Oder anders gefragt: repraesentiert ihr die Reichsten der
Reichen mit eurer Kunst?

GN: Da muss man zuerst einmal die Frage stellen, ob CEOs die Reichsten
der Reichen sind? Das glaube ich nicht einmal. Doch gerade wie wir das
Setting gemacht haben und wie die Aufnahmen funktionieren, ist die
Gefahr sehr gering, weil es ja auch darum geht, genau das zu
dekonstruieren. Durch die Selbst-Repraesentation der Teilnehmer wird die
Repraesentation von ihnen selbst konterkariert. Ich erachte die
Instrumentalisierung, die in vielen Ausstellungen über Sponsoren laeuft
oder auch jene in unternehmenseigenen Kunsthallen als viel bedenklicher.
In China mit seinem wirklich gigantischen und globalen Kunstmarkt sind
Museen einfach Unternehmen. Und Punkt! Ich glaube, dass unser Projekt
genau gegenteilig wirkt und eine Antiinstrumentalisierungsmöglichkeit
darstellt.

DB: Du arbeitest meist im Team. Was bedeutet der Begriff des Autors für
dich?

GN: Wie bereits angesprochen geht es mir vor allem darum, Rahmen zu 
bauen, in denen agiert wird; ob das nun eine Person ist oder etwas
anderes. Die Frage nach dem Autor ist für mich nicht sehr aktuell, da
wir in einer Situation sind, in der es sehr stark um Fluktuationen und
Bewegungen, um Prozesse und Kooperationen geht. Das geht natürlich auch
in Fragen um Copyright, Creative Commons und Formen der Kooperation
hinein.

DB: In deinen *Zeichnungen* *drawing options* (2005), die du in
Einzelausstellungen im Kunstraum Innsbruck und Plattform Raum für Kunst
in Wien kontextualisiert hast, unterlaeufst du geschickt den Begriff des
Originals. Was bedeutet Reproduktion, Kopie und Sampling für dich im
Verhaeltnis zum Originalitaetsbegriff?

GN: In *drawing options* geht es um Begriffe und ihre kulturelle
Bedeutung, spezifisch im Vergleich Oekonomie * Kunst. Was bedeutet
*Option*, *Zeichnung*, wie unterlaufen, ueberschneiden sich Begriffe in
zwei verschiedenen Feldern, die zumindest das eine verbindet, dass sie
veroeffentlicht sind? Kann man daraus etwas ziehen, ein Verhaeltnis
aufzeigen und kulturelle Interpretationsformen aufzeigen? Was bedeutet
*Konzept* aus oekonomischer Sicht bzw. kuenstlerischer? Man kann es so
ausdruecken, dass in *drawing options* zwei Moeglichkeiten gezeichnet
werden, um sie ineinander zu transformieren. Mich interessieren Derivate
als kulturelle Form, auch im Vergleich zu Kopie und Sampling. Für die
Ausstellung hat der Klangkuenstler Peter Szely eine 4-Kanal Komposition
beigesteuert und ich habe mit Renata Poljak und Julian Wong ein Video
gemacht. Zusaetzlich wird das in der Arbeit auch dadurch gespiegelt,
dass ein Verhaeltnis konstruiert wird, das die kuenstlerische
Veroeffentlichungsform der Edition in Beziehung zu einer
kapitalistischen Parallelform, dem Boersenkontrakt, und somit den
Derivaten bringt. Original koennte in diesem Zusammenhang zum obsoleten
Begriff werden, als Kunstwerk und als Person. Genau deshalb spielt Kunst
und Wirtschaft in ihrer Verschmelzung heute wieder mit dieser Aura. Aber
das System will sich natuerlich legitimieren, und was taugt besser als
Kunst, um das Urteil dann historisch-kulturell-medial implementieren zu
helfen?

DB: Dein *projectfriend~ship* beschreibst du als *eine initiative, die
zugleich globaler kuenstlerischer work-space für sound und visual art,
prozessorientierte kooperation internationaler kuenstlerInnen - friend -
und mobiles ausstellungsmedium - ship - ist.* Was war der Grundgedanke
und woraus besteht die Hardware dieses Projekts?

GN: Bei *friend~ship*, das ich gemeinsam mit Oliver Irschitz bis 2005
gemacht habe, hat mich besonders interessiert, mit
Vermittlungsmoeglichkeiten zwischen virtuellen und realen Raeumen zu
arbeiten. Es ging darum eine Entsprechung zwischen dem Virtuellen und
Realen üeber das *ship* zu finden. Dieses war mobil, es konnte an fast
jedem Ort andocken, sich nomadisch bewegen, unterschiedliche Menschen
konnten sich einbringen, das war die Idee.

DB: War *friend~ship* eine veritable Plattform für die Zusammenarbeit
zwischen WissenschaftlerInnen, KuenstlerInnen, MusikerInnen und
VertreterInnen der Wirtschaft? Ist das Konzept aufgegangen?

GN: Ich hatte schon das Gefuehl. Bei c_bite zum Beispiel haben wir uns
in die CeBIT eingeschleust und diesen Megaevent verarbeitet. Die
Zusammenarbeit auf einem *Territorium*, in dem wir uns ja ohne
Zugangserlaubnis aufhielten, war nicht nur Kernpunkt des Projekts,
sondern auch das Spannende. Leute aus verschiedenen Situationen wie
Kunst, Geisteswissenschaft, Naturwissenschaft usw. waren in einer
gemeinsamen Struktur eingebunden, jeder konnte selbst agieren und es
entstand trotzdem ein gemeinsames Ganzes. Es war ein Experiment.

GN: Du hast 2004 nicht davor zurueckgeschreckt direkt in das Herz der
oesterreichischen Wirtschaftspolitik, die oesterreichische
Industriellenvereinigung, zu gehen und dein Projekt *Form 4 Enlitened
Elevation* zu realisieren. Wie bist du mit diesem sowohl politisch,
geistes- und ideengeschichtlich vorgepraegten Ort und den Menschen
umgegangen? Ist dir der Bruch mit oder im System gelungen?

GN: Auch hier fand ich interessant, wie man ein spezifisches System der
Kommunikation und Interpretation * und eine politische Lobby ist genau
das * innerhalb ihres eigenen Feldes mit realen Stimmen konfrontiert,
die ein *Abseits* bedeuten, sei dies durch Ausgrenzung, Peripherisierung
oder interne Systemfehler. Das Projekt fand zu einem wesentlichen Teil
in einem Paternoster statt, der der Hauptzugang zu den Stockwerken im
Gebäude ist. Die BesucherInnen konnten in den Loop dieses Liftes
einsteigen und sich mit den performativen Stimmen der AkteurInnen
auseinandersetzen oder von Außen eine Art Sampling dieser individuellen
Positionen an sich akustisch und visuell vorbeiziehen lassen. Für mich
hat das Ganze auch etwas Filmisches, wobei der Film in vertikalen
Bewegungen ablief. Die Aufzeichnung erfolgte in der Vorstellung der
Mitwirkenden, die auch die Handlungen gestalteten. Die *Filmprojektion*
passierte somit vor der *Aufnahme*. Der Bruch liegt bereits im System,
wobei es natuerlich Brueche sind. Somit musste er mir nicht gelingen. Es
ging mehr darum, den geschlossenen, geschuetzten Raum zu oeffnen und
Wahrnehmung von Bruechen zu ermoeglichen. Es hat mich sehr interessiert,
inwieweit und in welcher Form man kuenstlerische Autonomie und
Diskursivitaet innerhalb eines solchen Raumes für die Dauer einer
Ausstellung entwickeln kann und mit den Menschen kommuniziert. Die
oesterreichische Industriellenvereinigung ist nicht gerade berühmt für
ihre Nähe zu Kunst. Andererseits wäre es absurd und gesellschaftlich
dramatisch, wenn eine ökonomische Elite keinen Diskurs mit anderen
gesellschaftlichen Positionen fuehren wuerde. Das Haus der Industrie ist
z.B. einer der zentralen Orte für Vortraege von Personen internationalen
Zuschnitts weit ueber oekonomische Meinungsmacher hinaus. Mit Kunst
verhaelt es sich allerdings anders. Und prinzipiell herrschte in
Österreich mit der blau-schwarzen Regierung ein sehr problematisches
Klima. So gesehen ist es vielleicht schon ein Erfolg, dass dieses
Projekt stattfinden konnte.

DB: Bist du der Virus der Wirtschaft?

GN: Vielleicht gibt es noch eine etwas kleinere Entitaet, da ich finde,
dass die Wirtschaft oft wie ein Virus agiert. Ich gehe in die Struktur
hinein, um von innen zu schauen, wie es nach außen funktioniert, wie man
in dem System agieren kann und welche Aufbrueche man dort machen kann.
Eine Virussequenzierung sozusagen.

DB: In *nowhere - ein welt raum spiel* setzen du, Sylvia Eckermann,
Christof Cargnelli und Oliver Irschitz euch in einem modifizierten
Ego-Shooter-Spiel mit wissenschaftlichen Fragestellungen auseinander.
Kannst du euren Ansatz etwas naeher erlaeutern?

GN: *nowhere* ist ein virtueller Wissensraum, der sich mit der
*Glaesernen Kette*, einer Gruppe von Kuenstlern und Architekten,
beschaeftigt, die um 1920 utopische Potentiale erforschten. Das hat uns
sehr interessiert, auch weil manche ihrer Vorstellungen in unser Heute
projiziert waren. Wir schauen zurueck und koennen uns gleichzeitig
fragen, welche Potentiale utopischen Denkens sind verloren gegangen und
sollten wieder staerker ins Blickfeld kommen? Und was hat sich aus ihren
Vorstellungen entwickelt? Vieles ist heute existent, aber in ganz
anderer Form. Ueberhaupt ist das Thema Utopie für uns wieder spannend,
wenn nicht sogar zwingend, um Alternativen und Lebenswelten
selbstbestimmt zu kreieren. Auch, um prekaeren Arbeitsverhältnissen,
globalen Entwicklungen begegnen zu koennen und zu versuchen, andere
Strukturen entgegenzusetzen. *nowhere* ist eine interaktive, digitale
3D-Collage aus Bildern und Klaengen und spiegelt eine Art
gesellschaftlicher Collage, in der Personen verschiedener Bereiche und
Felder neue Zusammenhaenge gemeinsam entwickeln und die BesucherInnen zu
AkteurInnen werden, die durch den 3D-Raum navigieren.

DB: Ist Interdiziplinaritaet heute eine große Chance der
zeitgenoessischen Kunst?

GN: Interdiziplinaritaet ist für mich eine ganz uebliche Art und Weise
zu arbeiten. Kunst war meinem Erachten nach immer schon
grenzueberschreitend, und gerade spannende Projekte arbeiten mit
unterschiedlichen Mitteln und überschreiten die Grenzen. Natuerlich
liegt darin eine große Chance. In meiner Praxis ist es meist gar nicht
anders moeglich, als mit unterschiedlichen Menschen zu kooperieren. Für
mich ist Kunst nicht persoenlich, vom Autor her betrachtet. Sie ist
komplex, mehrdimensional in ihren Inhalten und Techniken und kooperativ.
Sie verortet sich - auch im Virtuellen - und kann dadurch Menschen
erreichen und persoenlich werden.

DB: Die Grenze und oder der Ueberschneidungsbereich zwischen Kunst und
Nicht-Kunst spielt in deinen Werken eine wichtige Rolle. Hat es für dich
eine Bedeutung, die Inszenierung einer kunstspezifischen Situation zu
vermitteln?

GN: Mein Zentrum ist das Kunstsystem, das zugleich ein Mittel ist, 
weil es die groeßten Moeglichkeiten bietet. Du kannst in diesem System
vieles machen, was in anderen stringenteren Systemen nicht moeglich ist.
Ich habe wie gesagt auch ein starkes Interesse, in die Wirtschaft
hineinzugehen, die heute viele Funktionen des Oeffentlichen uebernimmt.
Ich finde, man sollte viele privatisierte Bereiche heute wieder als
oeffentlich re-definieren und bearbeiten. Und da geht es nicht darum,
dass das als Kunst unbedingt erkennbar ist, sondern Moeglichkeiten
bietet, Angebote gibt, eine andere Sichtweise aufmacht und die Leute
prozessual mit hinein nimmt. Im Kunstkontext geht es schon darum,
Realisierungen zu finden, die eine Idee, ein Projekt, ein Konzept mit
Kunstmitteln erlebbar und verstaendlich machen.

Dieter Buchhart: Wie wichtig ist Aesthetik in deinen Arbeiten?

Gerald Nestler: Aesthetik entwickelt sich bei mir aus der Arbeit  
heraus. Da ich haeufig Rahmen und Situationen entwickle, in denen sich
das jeweilige Projekt abspielt, entwickelt sich die Aesthetik innerhalb
dessen. Aesthetik ist aus dem Begriff der *Aisthesis* als bewusste
Wahrnehmung eine Grundbedingung der Kunst, wenn man will als
*Aisthetisierung* ein Feld in dem Welt erzeugende - und das heißt heute
meist immer auch Wert erzeugende - Strukturen und Prozesse durch neue
Zusammenhänge wahrnehmbar, bewusst, hinterfragbar, verortbar und neu
zusammensetzbar werden.