[rohrpost] Betreff: Und SO36 bleibt / Aber ...

Matze Schmidt matze.schmidt at n0name.de
Fre Mai 15 18:22:58 CEST 2009


... nichts bleibt wie es war

          Es geht also weiterhin um das Gegenteil von dem was die Firma
          O2 gerade verordnet, naemlich beim Telefonieren ans
          Telefonieren zu denken oder beim Kunstmachen ans Kunstmachen
          zu denken?
                                                           (Wir selbst)


Ich glaube / Wir glauben, dass der Konflikt um die Lautstaerke vom SO36
in Berlin eine Frontlinie markiert, deren Effekte nun an vielen
angekriselten Space-to-be-Orten auftreten. Alle Konflikte mit Nachbarn,
denen es zu laut wird, bedeuten nie nur individueller Distress oder
blosz "Aerger", nicht fuer DEN Club in der Haupt-Stadt und nicht fuer
'irgendeinen' armen Laden in der Provinz, dem sein Claim zu teuer wird.
Die Forderungen der betroffenen Kleinunternehmer, die sie
privat-vereins-wirtschaftlich sind, an die sogenannte Politik fallen
dennoch un-entsprechend aus.

Ich erinnere mich, dass in den fruehen 1990ern in eben jener Provinz
einer im verschlissen-schwarzen Anzug mit Lehrauftrag auftrat, der
wie Martin Kippenberger aussah (demnach lebende Ex-SO36 Legende),
und uns privilegierten Mittelklasse-Studenten erzaehlte, dass
Ausstellungen in Kneipen doch auch gehen wuerden. Keiner kapierte voll
was gemeint war, am wenigsten vielleicht der im Anzug. Nachher sind wir
immer schlauer geworden. Was da herangezogen wurde, war die Frage nach
der Handlungsfaehigkeit und den Moeglichkeitsbedingungen fuer 'was man
so macht' im Nach-Wende-, aber damals noch Vor-Kriegs-Kapitalismus
Deutschlands. Bezogen aufs Heute koennte das heiszen, in und auf allen
Staetten, die nicht Oper, Staatstheater, nationale Galerie oder
Telekom-Park sind, also an allen Orten, die sich offen vermarkten
muessen, aber nicht schon sozialdemokratisch eingemeindet zermarktet
oder Player sind , waere eine andere Praxis denkbar -- Henri Lefèbvre,
Karl Marx usw. hin und her (Saskia Sassen, Naomi Klein allerdings
vergessend).

Einzufordern waere also eine groessere Perspektive, welche EURO-Betraege
als Loesung erstmal als, wenn auch pragmatische Oberflaeche
diskreditiert und das basale Dilemma zu begreifen hilft, in dem sich 
die 'freien' Feierflaechen befinden. Frei von Staatsgeld aber auch frei
sich zu verkaufen, wird diesen gerade ihre Stellung genommen, ihre
vermeintliche gemuetliche Unsicherheit -- von den Verhaeltnissen selbst
und nicht etwa von boesen Veranstaltungs GmbHs. Die Rede ist nicht vom
Monopolkleinkapitalismus. Aber 2,80 fuer 1 Bier sind fuer mich
inzwischen undenkbar. Also anti-antizipiert man derweil und
leicht apokalyptisch,  n o t w e n d i g  den irrealen Sozialismus in
selbst gemachten Wohnzimmerkonzerten, der Party bei freiem Eintritt und
in sowieso Zimmerlautstaerke. Das in einer einerseits anregend
ver-internationalisierten urbanen Situation, die jedoch andererseits
Verdraengungen & Bornierungen erwirkt, indem das "Boorlyn", also das
neue Brooklyn voller alter Quasi-Brooklyner als Menetekel in Berlin 
haust, inklusive allem inversiven Fremden- und Judenhass. Diese
Eigenmarginalisierung und dennoch Selbstinstandsetzung kann und will
mit den nun zu "freien Kulturzentren" erklaerbaren Etablisments
(Semi-Establishments!) mit ihrer oft kompletten Buehnentechnik nicht
mithalten (allein daraus resultiert die angeblich depressive Stimmung
bei solchen Wozikons, wie sie von laessigen Saengerinnen, die in echten
Studios aufnehmen und auf echten Konzerten auftreten, wohl zu recht
kritisiert wird).


Kultur als Kultur

Warum also moeglichst nicht-subjektives Kriteln? Weil diese Umsatz
machen-muessenden und aber prekaeren Haeuser einen post-buergerlichen
oder neo-buergerlichen Kulturbegriff, ganz im Sinn von ausgewaehlten
Gemaelden in ausgewaehlten Kneipen, nun auf sich bezogenen erweitert
wissen wollen und Gefolgschaften auf Petitionswebseiten anrufen.
"Theater fuer alle." Punk fuer alle. War Punk nicht umsonst die
Verschiebung der Kritik am Bestehenden auf den Style? Aber war er nicht
auch die Infragestellung des Kunstbegriffs und der Produktion von
Bedeutung ueberhaupt, in seiner in- und exkludierenden also ihrer
Schichtbildenden Definition? Und ist der gemeinte nachrevolutionaere
Club (und damit sind alle Clubs gemeint) nun nicht genau d'accord mit
der Kultur/wirtschaft, die bestimmt, wer kulten darf und wer nicht, nun
wieder sich nach aussen abschlieszend ideologisch bei eben dieser
angekommen?

Hi,

ist es ueberall dasselbe, Understream will an die Offiziellkulturtoepfe?

Gruss

M


Was wollen die Kulturalisierungsgegner?

Was will die DJ-Culture, Jugendkultur, electronic culture, Technokultur,
Graffity und Street Art (sic!) als Kultur usw.? Sollen wir das nun in
einem 3-Minuten-Lied erklaeren oder in einem Film à la S.I.? Das Dilemma
ist eigentlich simpel: Mit dem oekonomischen Druck waechst in der
"Kreativen Klasse" -- von der digital Bohème bis zu den oekologistischen
Sound Studies, von den Flohmarkt-Working Poor bis zu weiteren vom Sektor
der Warenproduktion Abhaengigen -- offenbar die ideologische
Verbuergerlichung zusammen mit einem ungebrochenen Verhaeltnis zu Kunst
und Staat. Bei dem Versuch sich auf die Biotope und Inseln ausserhalb
der Deklassierung zu retten, kann einem in der Gesellschaft der
Dienstleister, d.h. ausserhalb der Fabriken, nichts anderes einfallen
muessen als "Wer nichts darf, bleibt Wirt". Nicht aus Ideenlosigkeit,
sondern aus Realitaetslosigkeit, also der Entfremdung vom Erkennen der
eigenen Stelle. Vorzuwerfen ist folgerichtig nicht, dass man sich
verkaufen muss. Sondern, dass das emazipative Hurendasein (orthodox
verstanden) _falsch_ reflektiert und ueber die geforderte Rettung im
Kleinen ("Wer Banken rettet, soll auch uns retten") strohhalmisiert
fetischisiert wird. Die Unterkultur soll endlich Hochkultur und dabei
wenigstens ein biszchen abgesichert werden. Wobei ja ausgerechnet in
dieser Stadt einige, geleitet von der politischen Zentrale fuer Bildung,
in ihrem Klassenunterschiede-abbauen-Projekt daran arbeiten, den
wenn auch indifferenten Unterschied -- denn was heiszt unten und was
hoch? -- beider zu leugnen. Der Begriff der Kultur in seinen
Unterschieden wird von Republiktreuen geradezu aufgesaugt und damit
vorerst und scheinbar unverwendbar.

Man kann ja immer noch "Enteignet Springer" und Bertelsmann und
Universal, und Siemens uebrigens auch rufen. Aber wir koennen ja
schlecht "Enteigent das Esso" rufen, weil das Bier dort im Verein zu
teuer ist und ich dort nicht auch auf der Buehne in *dem* Laden spielen
darf, den Blixa Bargeld (winkt mit seiner Amex Gold Card) nach 15 Jahren
Abwesenheit als (zu) klein empfindet etc. pp. Grosse Buehnen fuer jeden
und zwar umsonst? Oder geht es in dieser Kommune traditionalistisch
breitenkonsensmaeszig ohnehin ums respektvolle Leben und leben lassen.
O2 World bitte nein, danke!, aber wir sind der Gegenpol, liebe
Regierung honoriere das, sonst kommen die 200.000 Arbeitsplaetze in der
Kultur/wirtschaft nie? Was hier angestrebt wird, erscheint wie ein
»Culture Mainstreaming« und »Culture Budgeting« -- Gerechtigkeit
zwischen den Haeusern herstellen, so dass Kleine und Grosse gleichen
Zugang zu den oeffentlichen Haushaltsmitteln haben. Was bleibt da von
einer Gegenoekonomie uebrig?

Das kann ein Lied natuerlich nicht alles fragen und sagen, vor allem
aber _alles nicht sagen_, denn Songs sagen ja auch nichts selbst. Was
fuer uns ging, war ein nostalgisch-kritisches Soengchen, welches ganz
nah am Kitsch (den wir automatisch verwendeten) planlose Wunschgedanken
aufruft, dass etwas anderes gehen muss. Zum Beispiel Kultur ohne Kult
und ohne systemische Enteignung und die Aufhebung der Trennung von
Kultur und allem anderen, z.B. Arbeit. Und dass es mit einer
imaginierten Automnomie in der aktuell normalisierten + militarisierten
Klassengesellschaft der BRD nun endlich vorbei sein muesste. Besonders
in Anbetracht des von Adornolesern kuerzlich entdeckten posthistoire
des Pop (kurz erklaert: Epochen & Stile sind vorbei, keine Avantgarde
mehr, keine Orientierung mehr, nichts geht mehr fuer die Industrie als
Konsensmaschine versus alles geht fuers D.I.Y., aber nur atomisiert) als
Positivum. Wobei die sich daran anschlieszende Nischensuche pop-immanent
zu bleiben scheint oder eben Pop fuer das Leben selbst gehalten wird,
oder man den Scheinselbstaestheten, der bestaendig am Material arbeitet,
eben auch heimlich am liebsten von oben gefoerdet wissen will. Von Wegen
Nachgeschichte oder Geschichtslosigkeit, suchen sich die
P2P-MP3s-Hoch-und-Runterladenden nicht ihren Geschichtszusammenhang? Die
belesene Elite mit Bibliothek, Plattensammlung und Presseausweis
unterschaetzt die Massen-Individuen, waehrend die Negris sie als neue
Multis ueberschaetzen.

Wir sammeln jetzt kein Geld fuer den politischen Schallschutz, aber wir
wuenschen uns widerspruechlich in der Konsequenz, dass Ihr irgendwie 
bleibt. Nicht als Denkmal, nicht als Ballast der Republik-Ball, nicht
als The Exploited oder Opfer fuer 12,- Eintritt und nicht als
halbsubventionierter Kult(ur). Wenn also demnaechst der Kredit kommt,
dann nicht mehr und nicht weniger als das legale Mittel.

Matze Schmidt

PS: Wenn in der Walpurgisnacht oder am 1. Mai im Norden 
Neukoellns Scheiben von kleinen Laeden eingeschmissen werden (wurden 
sie?), weil diese sich an der Gentrifizierung beteiligen wuerden, dann 
zeugt das von einem heftigen Miszverstehen der Lage am 
wirtschaftlichen Rand dieser untersten unfreiwilligen Gehilfen der 
oberen 'Gentrifizierer'. Zur Erinnerung: 1929 fuehrte das Massaker der 
Polizei an Bewohnern der Stadt, befohlen von der Sozialdemokratie, zur 
Spaltung der Arbeiterinnenkraefte zwischen KPD und SPD und 
ermoeglichte so mit den Faschismus in D.land. Schichten- und 
Klassenspalterische Aktionen, Hass gegen Objekte mit demoralischer 
Wirkung auf die Menschen dahinter und mit direkter Wirkung blosz 
gegenueber den Versicherungen, die das bezahlen, fuehren nur zu einer 
absurden Gegengentrifizierung. Oder war es Neid? Wird demnaechst der 
Kellerclub vom Anti Verdraengungs Team gestuermt? Zersplitterung der 
Widerstaende -- aufgeloest in Staende des Widerstands mit 
Teile-und-herrsche-Nebeneffekt fuer den Staat.

2. Mai 2009