[rohrpost] Checkdisout #4: Wer glotzt TV? - RECAP

Mirko Kubein mirko at kubein.de
Don Jul 21 19:52:23 CEST 2011


Liebe Liste,


ich bin froh, auf folgende Veröffentlichung hinweisen zu können. Feedback, Tweets, Likes, Weiterleitungen, etc. sind sehr willkommen und werden dankbar registriert:

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Checkdisout #4: Wer glotzt TV? - Videodokumentation

http://checkdisout.com/2011/07/17/checkdisout-4-wer-glotzt-tv/
http://madeforfullscreen.de/post/3073583696/checkdisout

Am 18. Mai 2010 hat Checkdisout in Zusammenarbeit mit Made For Full Screen neue Perspektiven, Formate und Macher von Bewegtbildinhalten im Kunstverein Hamburg vorgestellt. Seitdem ist mehr als ein Jahr vergangen - sehr viel Zeit angesichts rasender Entwicklungs-Zyklen unserer Gegenwart. Wir haben uns trotzdem entschieden, so spät noch die Video-Dokumentation des Abends zu veröffentlichen. Schnee von gestern? Matthias Weber und Mirko Kubein zeigen, dass sich in der Zwischenzeit, vor allem in Deutschland, erstaunlich wenig getan hat.

Zu Gast bei "Checkdisout #4: Wer glotzt TV?" waren Stephanie Renner, die Mitbegründerin des Online-Musikvideo-Senders tape.tv, Frerk Lintz, Macher des unabhängigen Interview-Magazins FOLGE, Volker Heise, der mit zero one film u.a. das Fernseh-Experiment 24h Berlin produzierte und Nikolai Longolius von schnee von morgen, die für die Entwicklung und Umsetzung von Online-Angeboten wie dctp.tv und zuletzt spiegel.tv verantwortlich sind. 

Longolius widerlegte in seiner unterhaltsamen Präsentation zunächst einige Web-Video-Klischees: “Es stimmt einfach nicht, dass der Internet-User nur 10 Sekunden Zeit hat”. Volker Heise erzählte aus der Budget-Realität im öffentlich-rechtlichen Fernsehen: “2,7 Millionen, 2 Tatorte”. Frerk Lintz schilderte sein Einzelkämpfer-Dasein: “Ich komm nicht in die Sender rein, die Verlage wollen nicht wirklich was zahlen und ich will eigentlich nur meine Interviews machen.” Und Stephanie Renner polarisierte mit ihrer Aussage, dass “Entertainment auch immer etwas mit Faulheit zu tun hat.”

Die Diskussion zeigte vor allem die beeindruckende Leidenschaft und visionäre Ausdauer der vier Panel-Teilnehmer bei ihrer Arbeit und offenbarte gleichzeitig Fehleinschätzungen klassischer Sender zum Thema Web-TV. Nicht nur die budgetäre Schieflage zwischen großen TV-Produktionen und den nicht minder qualitativen Nischenproduktionen im Web, auch die generelle Ignoranz gegenüber technischen und inhaltlichen Innovationen aus dem Internet, wie sie die Diskutanten schilderten, ließ damals im Mai 2010 die Erkenntnis von Nikolai Longolius für alle gelten: “Die Fernsehwelt und die Internetwelt schmusen einfach nicht miteinander.”

Was ist seither passiert?

Besonders in technologischer Hinsicht war nur wenige Tage vor unserer Veranstaltung Großes vollmundig angekündigt worden: Google TV. Die einfache wie faszinierende Vision von Google dahinter war, Fernsehen und Internet (also vor allem Googles Internet-Service wie “Suche”) miteinander zu vereinen. Ein Jahr später, Ende April 2011 titelte das US-Media-Blog Mashable: What's the matter with Google TV? / Was ist mit Google TV los? In diesem Post legt Mashable-Redakteur Ben Parr die schleppende Absatz-Entwicklung von Logitechs Google-TV-Geräten offen: "Logitech expected to sell $18 million in Google TV-related products in Q4. But in its earnings report, the company revealed that it only sold $5 million in Google TV devices. Logitech also revealed that its inventory is up 28% in Q4 — thanks to all those unsold Google TV devices." Der während der Google Entwicklerkonferenz I/O in 2010 angekündigte Launch der neuen IPTV-Plattform war offensichtlich ein Fehlstart. Neben zu wenigen Google-TV-fähigen Geräten hatte auch das User-Interface, so Mashable, seine Schwächen. Für Frerk Lintz von FOLGE ein klares Experiment und Google-typisch, frei nach der Devise: “austesten, was geht”. Den mangelnden Erfolg von Google TV in Deutschland sieht Nikolai Longolius auch mit einem Image-Problem der Marke Google in Deutschland verbunden: “Ich glaube, dass das deutsche Street-View-Debakel Google in den nächsten Jahren davon abhalten wird, in Deutschland Innovationen bevorzugt auszuliefern. Das ist tragisch.”

Drei weitere Services bzw. Produkte aus den USA, dem Heimatland des Fernsehens, haben im vergangenen Jahr für neue Aufmerksamkeit gesorgt. Zum einen hat Apple im September 2010 die zweite Generation seines Apple TV vorgestellt. Mit einem Preissturz und einer weiteren Miniaturisierung des Geräts hat Apple einen großen Schritt in Richtung Massenmarkt getan. Apple sitzt zwar in seinem walled-garden bestehend aus iOS, iTunes und Hardware, die Geschäfte laufen dennoch großartig. Die Margen auf Apple Produkte sind enorm. Und seit der cleveren Einführung von iTunes, das den Vertrieb von digitalen Inhalten zweifelsfrei revolutioniert hat, steht der Konzern unangefochten an der Spitze der digitalen Content Vertreiber. Von einem marktbeherrschenden Durchbruch ist Apple TV in Deutschland jedoch auch 2011 noch weit entfernt.

Den Wunsch vieler Nutzer nach mehr Flexibilität und vor allem “Inhalte zum Mitnehmen” erfüllt Boxee bereits seit 2007. Was zunächst als reine, zudem kostenlose, Software mit einem sehr smarten Bookmarklet begann, mit dem man Videos von beinahe allen Webseiten für den späteren Genuss zwischenspeichern und verwalten kann, wurde im Winter 2010 durch die ebenso in Deutschland erhältliche Hardware Boxee-Box erweitert. Laut Digitimes erwartet Boxee für 2011 zwar einen Absatz von rund 100.000 Einheiten der Box, der große Brückenschlag ist das aber auch nicht.

Schließlich bleibt noch Hulu, eine Online-Videothek nach dem Freemium-Prinzip, die vor allem die neuesten US-Serien aller großen TV-Stationen anbietet, bisher jedoch nur Nutzern mit amerikanischer IP-Adresse zur Verfügung steht. Was mit einigen gekonnten Einstellungen am Heimcomputer in Deutschland umgangen wurde, könnte demnächst vielleicht ganz einfach und legal werden. Hulu hat sich vor wenigen Tagen zum Verkauf angeboten und führt Gespräche mit Google, Yahoo und Microsoft. Je nachdem wer den Fisch angelt, der könnte ihn bald auf dem hiesigen Markt anbieten wollen.

Bereits auf dem Panel 2010 fiel das aus den USA bekannte Stichwort Social TV. Die Rolle bspw. von Twitter im TV hat sich zumindest jenseits des Atltantiks seitdem auch weiter gefestigt. Die Parallelnutzung von Twitter und Fernsehen ist für einige Fernsehsender dort ein "match made in heaven", doch in Deutschland findet man bis heute leider immer noch keine Anwendungen, die den Twitter-Visualisierungen von “Stamen” für die MTV Video Music Awards das Wasser reichen könnten. Korrigiere: Es gibt nicht mal etwas Vergleichbares im deutschen Fernsehen. WebTV-Experte Markus Hündgen fasst in einem Beitrag im ZDF-Blog “Hyperland” im Juni 2011 die aktuelle Lage sehr ernüchternd zusammen. “Für die Mitglieder des Social-TV-Clubs kann der lang gehegte Traum von der ‘Web-TV-Revolution’ deswegen schneller platzen, als gedacht,” meint Hündgen und begründet dies vor allem mit dem Fehlen einheitlicher Kommunikations-Standards bei den bisherigen Social-TV-Anbietern.

Mehr Inhalte!

Technisch gesehen, sind die Entwicklungen im Grenzbereich zwischen Web und TV also kaum weiter als vor einem Jahr. Doch schon damals wünschte sich Nikolai Longolius, statt immer nur über die neuesten technischen Möglichkeiten zu diskutieren, einfach mehr gute Inhalte: “Ich glaube, vielmehr stellt sich gerade die Frage der Sinnhaftigkeit. Ganz viel davon ist einfach echte Scheiße.” Eine Erkenntnis, die in dieser drastischen Form wohl auch heute noch Bestand hat. Lobenswert ist grundsätzlich, dass große Player es sehr vereinzelt immer wieder wagen, teure Content-Experimente zu starten. Zu den kläglich gescheiterten Angeboten kann sich nach Holtzbrincks WatchBerlin, dem vielgelobten Hobnox, nun auch das im Verlauf des letzten Jahres eingestellte Telekom-Webvideo-Portal 3min.de zählen. Frerk Lintz: “3min.de fand ich von Anfang an sehr unkonzeptionell und wenig fokussiert. Hat mich selber auch wenig interessiert, weil ich nicht kapiert hatte, wo die hin wollen. Wussten sie wahrscheinlich selber nicht.” Wieder einmal wurde viel Geld verbrannt.

Aus den Fehlern der anderen lernt hoffentlich das von uns freudig erwartete und zumindest unter Kulturfernsehen-Liebhabern mit einem Imagevorsprung ausgestattete öffentlich-rechtliche Web-Angebot ARTE Creative, das Ende 2010 startete. Projektleiter Alain Bieber, der bei Checkdisout #2 noch als Kämpfer für innovative Printformate mit Lead-Award-Chef Markus Peichl stritt, zieht auf Anfrage eine positive Zwischenbilanz: “Die Entscheider hier sind alle glücklich & happy mit ARTE Creative; es geht mit kleinen Schritten vorwärts, aber es geht voran...”. Bisher arbeitet ARTE Creative autark und nur online, die Anbindung an den Sender ist jedoch im Zuge gemeinsamer Projekte in Arbeit. 

Die Frage, wie sich dieses reine Online-Angebot mit dem in letzter Zeit viel diskutierten Rundfunkstaatsvertrag verträgt und wann die “Privaten” auch dagegen auf die Barrikaden gehen, wie kürzlich mit ihrer Klage gegen die Tagesschau-App, stellen wir hier besser nicht zu laut. Denn wir halten diese öffentlich finanzierte Tobewiese für kreative “Bewegtbildmacher” unter den bestehenden Marktbedingungen für unschätzbar wertvoll. Denn so wichtig Experimente sind, um Neues überhaupt entwickeln zu können: sie haben leider keinen Markt. Das beweisen die oben genannten, gescheiterten Web-Portale, und für das Fernsehen attestiert Volker Heise im Mai 2010 auf unserem Podium ähnliches: “Ja, es stimmt: es gibt eine Innovationsfeindlichkeit im deutschen Fernsehen. [...] Innovativ sein bedeutet: Geld ausgeben.” 

Panel-Teilnehmer Nikolai Longolius, der nach Checkdisout #4 maßgeblich an der Entwicklung und Umsetzung des erst im Juni 2011 gestarteten Web-Kanals spiegel.tv beteiligt war, gibt nach einer aktuellen Anfrage allerdings zu bedenken: “Obwohl ich den aus Gebührengeldern produzierten Content sehr schätze, müssen wir sehr aufmerksam sein, welche Geschäftsmodelle mit diesen Subventionen erschwert werden und welche unmöglich gemacht werden.” Mit seinem neuesten Projekt zeigt er sich aber sehr zufrieden: “Spätestens mit dem Projekt spiegel.tv gibt es wirtschaftlich erfolgreiches webTV in Deutschland. [...] Es ist mir persönlich sehr ans Herz gewachsen, da es momentan die Art und Weise repräsentiert, wie ich in Zukunft fernsehen möchte.”

Als seltenes Beispiel für einen gelungenen Spagat zwischen privat und öffentlich-rechtlich, zwischen Web und TV kann die sehr junge Zusammenarbeit von tape.tv und dem Anfang Mai 2011 auf Sendung gegangenen Spartenkanal ZDF.kultur gelten: die zuerst live im Netz gestreamte und einen Tag später im TV ausgestrahlte Musik-Sendung on tape. Online first jetzt also auch im TV? Die sinnvolle Nutzung eines Rückkanals, sowie die Einbindung sozialer Netzwerke in die laufende Sendung sind Features, wie sie bei Checkdisout #4 Wer glotzt TV? auch von tape.tv-Mitbegründerin Stephanie Renner angesprochen und gewünscht wurden. Ein Jahr später sind sie in einer kleinen Nische im deutschen Fernsehen also endlich Realität.

Auch wer die radikale Haltung von Volker Heise nicht teilt, der vor einem Jahr sagte: “Mich interessiert überhaupt nicht Web-TV im Internet, sondern mich interessiert Internet im Internet, genauso wie mich Fernsehen im Fernsehen interessiert und nicht Kino im Fernsehen”, da Heise damit (Monitor-)Grenzen zieht, die längst aufgelöst wurden, wird zustimmen, dass es nur eines der Ziele sein kann, das heutige Fernsehen technisch sauber auch ins Internet zu übertragen und dort für immer verfügbar, nutzbar, sortierbar etc. zu machen. Dass die Masse der Zuschauer aber selbst für diesen simplen Schritt erst einen gewissen Anlauf brauchte, zeigt die erst seit Kurzem enorm steigende Akzeptanz von Fernsehen im Internet.

Volker Heises Haltung wird nachvollziehbarer wenn man einen anderen Satz von ihm hinzunimmt: “Du musst ja versuchen, für dein Medium, in dem du arbeitest, Formen zu finden, die diesem Medium entsprechen.” Dazu noch ein letztes Beispiel aus dem Verlauf des letzten Jahres für die mögliche Zukunft bewegter Bilder. Nur wenige Tage nach unserem Panel kam das erste iPad in die Verkaufsregale. Seither wurde es vor allem als möglicher Ablöser für klassische Printprodukte gesehen. Das von zwei Berlinern unabhängig produzierte iPad-Magazin Astronaut Video/Magazine zeigt jedoch, dass haptische Navigation auf einem handlichen Bildschirm insbesondere auch für Videos neue erzählerische Dramaturgien und Zusammenhänge herstellen kann. In ihrer ersten Ausgabe vom Juni 2011 entwickeln die Herausgeber um zwölf zum Teil exklusiv produzierte Filme dezent interaktive Geschichten, verbunden mit Text, Foto und Musik. Da geht sicherlich noch mehr, aber auch das ist ein gelungener, erster Schritt in die richtige Richtung. Wie sich allerdings solche Independent-Video-Magazine auf Dauer finanzieren lassen, ist wohl trotz App-Store weiterhin unklar. Filme bleiben weiter aufwendiger und teurer als ein Text. Frerk Lintz wurde auf dem Panel gefragt, wieviel er denn mit FOLGE verdient. Seine kurze, wie erschreckende Antwort damals: “Nüschte.” Auch heute ist FOLGE für Frerk nicht direkt lukrativ. Seinen Lebensunterhalt verdient er über andere Projekte.

Die große Web-vs-TV-Revolution ist im vergangenen Jahr demnach wieder ausgeblieben. Aber es stellt sich ohnehin die Frage ob wir statt eines radikalen Umbruchs nicht vielmehr mitten in einem schleichenden Prozess stecken dessen Ende nicht absehbar ist. Nikolai Longolius wirft dazu ein: “Ich glaube nicht, dass die nächsten Jahre von großen technischen Innovationen geprägt sein werden, sondern dass sich die Innovationen der letzten Jahre endlich durchsetzen werden.”

Wir werden sehen, wer morgen noch TV glotzt. Wie es weitergehen könnte, würden wir gerne mit Euch diskutieren.

Viel Spaß zunächst mit den Videos. Die kompletten Interviews unserer Sprecher und ein Transkript von Checkdisout #4: Wer glotzt TV? finden sich unter http://checkdisout.com

Mirko Kubein und Matthias Weber, 14.07.2011

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Text und Videos online unter:
http://checkdisout.com/2011/07/17/checkdisout-4-wer-glotzt-tv/

http://vimeo.com/​mffs/​cdo4teil1
http://vimeo.com/​mffs/​cdo4teil2
http://vimeo.com/​mffs/​cdo4teil3

Die Videos sind unter folgender CC-Lizenz veröffentlicht:
http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/

Die nächste "Checkdisout #5: Stadtgespräch" findet übrigens am 7. September 2011 statt. Mit dabei diesmal u.a. Carlo Ratti, der Director des MIT Senseable Cities Lab (http://senseable.mit.edu/)

Weitere Infos und die Vides zu den letzten Veranstaltungen finden sich unter: 
http://checkdisout.com
http://madeforfullscreen.de



Vielen Dank und herzliche Grüße,
Mirko Kubein



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