[rohrpost] Schwerhoeren

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Son Jun 12 13:42:47 CEST 2011


Schwerhoeren

So wie Herbie Flowers Basslauf Lou Reed gehoert

[Vorabversion, Richtigversion im n0name newsletter #152 (glaube ich)]

"Das Problem, das ich" mit Heavy Listening und Drone "habe ist", 
dass es so Mark Rothko ist. Bist Du Tuerkei oder wenigstens schwul?, 
kann man hier oder anderswo lesen. Aber Gendertheorien und 
Migrationsdiskurse (mit Betonung auf Kurse) greifen da nicht. Der 
globale Sound einer Global City, die eine neu(kultur)reiche, das 
bedeutet neuglobale City ist, weht her von der neu aufgemachten, 
nach der Eroeffnung sofort brummenden Kneipe mit DJ, direkt an 
Deiner Strassenecke, wo sich die Natives aus den Billigfliegern 
treffen, oder vom Flohmarkt mit integriertem Livemusikprogramm. 
Gemasht selbstverstaendlich mit dem Droenen dieser zahlenden 
Gaeste, die auf gebrochenen perfektem English ein Bier nach 
dem anderen bestellen muessen, vor der Kulisse des hippen 
Viertels. O, Amsterdam, o, Prag.

Dann sitzen, im Auto voller Subwoofer, den tiefen tiefen Klang der 
Motoren usw. hoeren, nein spueren. Und man sitzt wie vor Farbfeldern 
waehrend die tiefe Egopositionierung geschieht, wie auf dem kommoden 
Sofa in der Tate Modern. Oder der Schlagzeuger sitzt, schon wieder, 
aber naeher an die Produktion gerueckt, im Proberaum und hoert den 
anderen an ihren Tretmienen zu, macht sich zu, international, kann 
aber nichts mehr spielen, weil die Automaten uebernommen haben 
sollen. Nichts tun, spielen lassen. Keine Jukebox der Interaktion. 
Man darf den Klangraum auch verlassen, wenn es zu laut ist, was aber 
uncool waere. Der jetzt oder auch ohnehin arbeitslose Schlagzeuger, 
frueher fuer jeden Krach zu haben, ja dafuer sogar zustaendig, 
schaut betreten zu.

Organisation von Stille-sein. Der Krach und Laerm -- es gibt einen 
Unterschied -- meint so apolitisch soziale Resonanz statt Verhalten, 
wie schwer es doch ist, es zu hoeren, wie die Boersendaten auch 
ohne Data Visualization rattern. Sicher, es wird eine 
"DIY-Philosphie" heruntergebetet -- siehe den Film _Noise and 
Resistance_ von u.a. Julia Ostertag & Francesca Araiza Andrade -- im 
engeren Sinn eine Weltanschauung, innerhalb derer Noise politisch in 
Stellung gebracht und zum Motor der revolutionaeren "Osmose" fuer 
eine Alternative gemacht wird, oder aber auch, Kropotkin gelesen 
habend, fuer die anarchische Veraenderung der Welt ohne 
Machtuebernahme. Nur argumentieren die Filmemacherinnen auf 
Bildebene mit den gleichen oeden, das Medium nicht reflektierenden 
Dokumitteln.

Damit setzen sie nur die fuer sie richtigen Inhalte und Botschaften, 
ganz wie in der von ihren Protagonisten geschaetzten Musik, 
Hardcore, in die uebliche Inszenierung ein: In den Interviews sind 
die Interviewten brave Antworterinnen oder Predigende, obwohl 
Prediger ja rot/schwarz-geflaggt abgelehnt werden, die Gaertnerin 
und ehemalige Crass-Illustratorin Gee Vaucher kommt um die Ecke, wo 
die Kamera wartet, und sprengt Gewaechshauspflanzen mit Wasser, die 
Fotografie ist klar und deutlich und scharf gestellt draufhaltend, 
garnicht so Punk, d.h. die buergerlichen optischen Werte 
unterlaufend. Krach mit Attituede muss noch pogobar sein, 
Gitarrengriffe sind noch Gitarrengriffe, sogar von Maedchen 
erlernbar. Alle so unbestimmt freiheitlichen Vorstellungen eines 
gerechteren Systems werden dabei, rituell tradiert, der Abweisung 
des Kuenstlichen und Unnaturellen unterstellt, dort wo die 
selbermachende, machende, machende Transition-Kultur auf 
sich selbstverteidigende Hausbesetzer trifft. Immerhin, einer von der 
Band Seein Red spricht davon, dass Anarchowiderstand in die 
Institutionen des Sozialen (Arbeitsstelle, Familie usw.) getragen 
werden muesse, soll er nicht im Schweiss der Party verpuffen. Bei den 
aktuellen Debatten um die Bildung einer bewussten Arbeiterpartei 
eventuell eine Schnittmenge.

Der Vorwurf, dass im und beim reinen Droenen Bedeutungsebenen 
nun nicht mehr zaehlen und wir ein Displayproblem haben (kannn nicht 
sehen wie ers macht), markiert jedoch vielleicht nur die relationale 
Unsicherheit von epistemischen sowie Trend-Anspruechen, 
um/ueberspielt mit der wohligen Noise-Sicherheit, gegessen schon 
vor 50 Jahren mit Fluxus und Stockhausen, der La Monte Young 
minimalistisch dazu bewegt, der Pate fuer Lou Reed ("We who have so 
much to you who have so little") zu werden, 'dessen' wilder 
a-symetrischer Doppel-E- und Double Basslauf, bekannterweise vom 
Stueckgutstudiobassisten Herbie Flowers geliefert, Tantiemen bis 
heute liefert. Das treibt nun Ulrich Krieger und uns in die Krise der 
Neuen Musik und das Displayproblem (also: wie Neue Musik 
vermittelbar und verstehbar machen) -- Laptop auf, Laptop zu -- 
bleibt. Diese Verweigerung jeglicher referentieller Mission im 
unpolitischen Krach, nichts direkt anschliessen zu lassen ans 
Gesellschafts_politische_, ist das Politikum, da es die Praktiken 
wieder in die Subjektivitaet der intersubjektiven Erfahrung 
einschliesst. Droenen wie Ritzen. Angst vorm sozialen Realistischen?
Wenn, dann auf beiden Seiten. Der Kunst-Industrial kommt gerade in 
den subventionierten Konzerthaeusern an. Der Ritual-Hardcore 
langweilt das Wochenendpublikum.

Darum nun Schwerhoeren als marktbalancierender Gegenentwurf bis zur 
Hoerigkeit. WAS? Das Ganze transkribieren (Score) und HD-verfilmen 
aber aussehen lassen wie 35-mm. Das Diktum Satres (?), dass die 
Melodien den Massen vorbehalten bleiben, waehrend die Elite mit 
Kunstmusik vorlieb nehmen muss, ist gedreht. Edgar Reitz liess bereits 
seinen musikstudentischen Laiendarsteller in Koeln sagen, wie die 
konzeptionellen Sgt. Peppers-Beatles so viel naeher ("live nicht 
reproduzierbar") an allen sind als alles Konzept.
Aber warum sollte man Partitur bauen aus Tonbandmaterial? Ginge es 
darum etwas historisch aufzuschliessen oder den unnachspielbaren 
Speicher auf Traegermedium (nochmal Reed: "It can't be done") 
doch noch spielbar zu machen, zur Errettung der lebendigen 
Spielbarkeit? Als ludditische Aktion, jedoch in Absprache mit dem 
Autor einer artistischen Klang-Industrialisierung? So als wuerde der 
Patron am Tisch gemeinsam mit seinen Halbleibeigenen speisen? 

Die Antwort, es sei die Rache der haendisch aufschreibbaren Musik an 
den Dilettanten, klingt plausibler. Noch plausibler aber klingelt die 
Erklaerung, Dilettanten koennten nun vom Blatt spielen. Hier liegt 
ein Schichtenspezifikum. Studierte, Menschen mit Bildungszugang, 
oder wie, haben die laengste Zeit die Moden der Unterklassen 
erfolgreicher als diese selbst nachgebaut. Jetzt kommen sie wieder 
oben bei sich an. Dorthin kann es jeder schaffen und sich jeden 
Scheiss aneignen. Da verlaeuft auch die letzte Verteidigungslinie 
der authentischen Authentizisten des Hardcore. Aber, wer ausser 
Studenten und Joblosen, hat schon Zeit Mittwoch nachts ins Haus zu 
gehen, zu saufen, sich Toxoscheiss anzuhoeren, durchzutanzen, 
auszuschlafen?

Touristen, der Feind. Denn noch naeher aber als die Beatles und die 
weltweite BBC im Satelliten-gestuetzten Summer of 1967 sind die in 
Deine Stadt, Deine Strasse eindringen, die Dir und nur Dir gehoeren 
sollte, aber nicht gehoert. Sie gehoert den Eindringligen ebenso 
nicht, hoerst Du das denn nicht? Der Transfair etwa des Chaos 
Computer Club waere nun der, den Arbeiter und echten Autor Herbie 
Flowers nach all den Jahren endlich auszuzahlen, und zugleich den 
Patron Reed an den Tisch zu bitten. Aber, man weiss es laengst, 
Flowers wurde ja bereits entlohnt. Jede Nachzahlung, bei allem 
Ruhm, fuer die wirkliche kreative Leistung, bestaetigt nur den 
Preis als Prinzip und die regulatorischen Fantasien fuer gerechten 
Lohn, welcher nie existierte und nie existieren kann, sonst waere er 
kein Lohn. Denn Lohn muss immer Unterbezahlung sein. Die 
Bereicherung, zumindest auf Geldebene gedacht, faende sonst nicht 
statt.

Mikro-a-tonale Grenzen sollen das nun ja vermeiden helfen. So als 
Dienstleistung bei Indienstnahme der Ohren. Hoer, dies ist nur noch 
Schall und keine Interpretierbarkeit mehr -- Rezipient. Ulbrichts 
"Yeah Yeah Yeah" und die Dekandenz, der kopierte Dreck aus dem fernen 
Osten und Schluss machen in Monotonie. Reset, Anfang fuer weitere 
Verhandlungen. Haette ich mich zu entscheiden zwischen Schwerhoeren, 
schwerhoerend und schwerhoerig, demnach zwischen Tun, passivem 
Aktivsein und Zustand, fiele meine Wahl aufs erstere. Weil, das 
geht vorbei. Wenn die Vaeter verlernt haben, sprichwoertlich ihr 
Gehirn um- oder abgebaut haben beim jahrelangen Nicht-Zuhoeren und 
Monologisieren, erscheint das wie das Analogon fuer den Drone, 
dessen Vielwegekommunikation immer erst nach dem Geraeusch 
zustandekommen kann, dann wenn das Schwerhoeren vorbei ist.

Ist das Heavy Listening zur Anti-Ware gegen das Einfache 
konzipiert, zerfaellt diese Nicht-Kommunikation in ein 
Gelingen ausserhalb der Setzung und Haltung ("Kein Ton mehr!", wie 
oft hat man das als Schueler schon gejodelt, gekreischt, gekotzt, 
gefluestert von Lehrern gehoert?). Drone-Diktatur oder 
freizeitparkiges Brummen. Die Freizeit der einen im Park ist 
zuforderst mal die Arbeitszeit der anderen, die gerne im Park 
liegen wuerden, der ihnen gnaedigst von der herrschenden, 
nichtarbeitenden Klasse geoeffnet wurde. Was genau wollen die 
zahlenden Gaeste aber sehen und hoeren, erfahren? Die schier 
unbeschreibbaren Sensationen wie Schwaene auf dem Wasser, wild 
geklebte Plakate, andere zahlende Gaeste, nicht-zahlenden Gaeste, 
eine wildplakatierte Jugendkultur mit wiederum zahlenden Gaesten, 
doch, ja, auch die Denkmaeler und dann die Absetzung davon ins 
nur Anti-Pittoreske, ein wenig roter, oder neuer, post-femischer 
pinker (!) Stern. Diese, in allen Kleinsteilen und Dimensionen 
unbeschreibbaren Empfindungen, die Wahrnehmungen und ihre 
Herstellung bleiben nun uebrig, ohne einen Begriff davon zu haben. 
Solche Begriffslosigkeit ist nicht so leicht und die Sensitivitaet 
abzueglich des Gross(deutschland)veranstaltungs-Bummsfallera kommt 
in karnevalesker Wochenend-Trans-Verkleidung, die nun auch 
tagsueber getragen werden darf.

Aber nochmal zurueck zu allem. Der ehemalige Crass-Schlagzeuger 
Penny Rimbaud zieht in_Noise and Resistance_ die Nachkriegszeit, in 
der er geboren wurde, heran, um auf die Notwendigkeit des 
Selbermachens fuers Proletariat in Krisenzeiten hinzuweisen. Das 
macht er genauso schulmeistlerich wies hier steht. Wenn nichts da 
ist, mach es selbst! zeigt aber an, wie es mit der organischen 
Zusammensetzung der Gesellschaft aussieht. Seine Kenntnisse was das 
Selber bei Problemen mit dem Computer angeht sind, wie er offen 
zugibt, dann beendet. Dass blasierte deutsche Bands wie Tocotronic 
an dieser Stelle nur Wohlstandshobby kritisieren koennen ("Macht es 
nicht selbst") und die DIYler ueberall Ungleichverteilung sehen und 
sich vom Kleinstbuergerlichen Leben zu verabschieden suchen, findet 
Entsprechung im standorttragenden Drone der Heavy Listening 
Sounddesignergruppe mit einem org hintendran: "Coming to Berlin 
Neukoelln". Doch, aber, nein, nicht der Bass macht mehr den Beat, 
der Herzschlag des Wettbewerbs macht den Bass. Kommunismus 
oder Communismus, Kommunisten oder Anarchisten, diese 
Oeffentlichkeitsmache gehoert jetzt schon VW. So wie Herbie Flowers 
Basslauf Lou Reed gehoert und das Stadion des Stadionrock nicht 
der  M a s s e n k l a s s e  -- ein anderes Thema. Ach ja, wie 
uebersetzt man doch gleich das in Hochschulkreisen momentan 
angesagte "empowerment", mit "Mitwirkungsmoeglichkeit" = Gewerkschaft,
mit Aktivierung = DIY, oder mit Bemaechtigung = KP? Letzteres meint 
der FAZische-Marxist Dietmar Dath, wenn er "DJ" schreibt.

Matze Schmidt

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