[rohrpost] Interview mit Chrisoph von LIeven

susanne gerber cu at cucusi.de
Son Mai 22 10:51:44 CEST 2011


Interview mit Christoph von Lieven, Energieexperte der  
Umweltschutzorganisation Greenpeace,

Donnerstag, 19. Mai 2011



Greenpeace weist schon im April weit außerhalb der 30-Kilometer- 
Sperrzone radioaktive Substanzen in der Luft nach und fordert einen  
weiteren Sperrbereich um das AKW Fukushima. Jetzt muss die japanische  
Regierung eingestehen, dass Weidegras in 60 Kilometern Entfernung  
kontaminiert ist. Damit ist das Gift schon längst in die Nahrungskette  
gelangt. Eine Ausweitung der Sperrzone erfolgt hingegen nicht.  
Christoph von Lieven, Energieexperte der Umweltschutzorganisation  
Greenpeace, wirft der japanischen Regierung und der AKW-Betreiberfirma  
Tepco vor, die Menschen für den Fortbestand der Atomindustrie zu opfern.

Mehr und mehr gelangen genauere Informationen über das Reaktorunglück  
in Japan an die Öffentlichkeit. Seit den Explosionen in Fukushima  
werfen Sie der Betreiberfirma vor, Fehlinformationen zu verbreiten und  
Erkenntnisse zurückzuhalten. Sehen Sie sich jetzt in Ihren Vorwürfen  
bestätigt?

Christoph von Lieven: Für uns war es natürlich interessant zu erleben,  
wie Tepco eingeknickt ist und jetzt, mehr als zwei Monate nach der  
Reaktorkatastrophe allmählich mit der Wahrheit rausrückt. Sie haben  
eingestehen müssen, dass alles, was sie bislang über den Hergang der  
Kernschmelze gesagt haben, einfach falsch war. Demnach soll es schon  
unmittelbar nach der Umweltkatastrophe zu einer solch gewaltigen  
Kernschmelze gekommen sein, dass der Reaktordruckbehälter und der  
Sicherheitsbehälter des Reaktors 1 Lecks gekommen haben.  
Wahrscheinlich ist auch in den Reaktoren 2 und 3 die Kernschmelze  
schon erfolgt. Das Meerwasser, das kurz nach den Explosionen zur  
Kühlung eingesetzt wurde, hat also nicht die Außenhüllen der Reaktoren  
gekühlt, wie damals berichtet, sondern direkt die offenliegenden  
Brennstäbe. Damit lief hochgradig verseuchtes Wasser tage- und  
wochenlang in den Boden und ins Meer.

Auch wir haben damals nur die Tepco-Informationen über den Sprecher  
der japanischen Regierung erhalten. Niemand anderes als die  
Kraftwerksarbeiter selbst hatten dort Zugang. Was sagen die Japaner  
jetzt über den Informations-GAU?

Die Menschen vor Ort trauen der Regierung und Tepco nicht mehr über  
den Weg. Kurz nach dem Unglück haben sich alle an den Strohhalm, an  
die Legislative, geklammert. Jetzt sind die Leute nur noch enttäuscht,  
nachdem ihnen erst gar nichts und dann die Unwahrheit gesagt wurde.  
Neu ist für Japan in diesem Zusammenhang, dass die Menschen jetzt auch  
gegen Atomkraft aufbegehren. Das war bislang keine ausgesprochen  
japanische Tugend. Inzwischen gibt es mehrere größere Organisationen,  
auch Mütterorganisationen, die von der japanischen Regierung  
verlangen, keine Geschäfte mehr mit der Atomindustrie einzugehen. Vor  
Fukushima gab es in Japan höchstens regionalen Widerstand in den Orten  
mit Atomkraftwerken. Jetzt gibt es Proteste, die zentral gesteuert  
werden  und die auch die Regierung ordentlich unter Druck setzen.

Wie ist der aktuelle Stand im havarierten Kraftwerk, hat sich die  
Situation verbessert?

Mit den durch die Explosionen zerstörten Reaktoren gibt es jetzt  
sieben offene Quellen, aus denen in den Blöcken 1 bis 4 Radioaktivität  
in Größenordnungen entweicht. Bislang war immer nur die Rede davon,  
dass im Abklingbecken des Reaktors 4 Brennelemente zur Auskühlung  
lagern. Solche Abklingbecken befinden sich aber auch in den Reaktoren  
1 bis 3 – und das alles unter freiem Himmel. Niemand weiß bislang  
wirklich, wieviel Radioaktivität schon freigesetzt wurde. Hinzu kommen  
noch die überfluteten Keller der Anlagen, die mit tausenden von Tonnen  
hochkontaminierten Wassers gefüllt sind. Ohne Unterlass gelangt Wasser  
mit radioaktiven Partikeln in den Boden und ins Meer. Die Situation  
hat sich überhaupt nicht verbessert.

Tepco will in absehbarer Zeit die Kraftwerksruine gesichert haben. Ist  
das realistisch?

Der AKW-Betreiber will uns jetzt wieder weismachen, dass sie bis  
Januar 2012 die Lage in Fukushima in den Griff bekommen wollen. Solche  
Aussagen sind hochgradig unseriös, suggerieren sie doch eine Art  
Sicherheit, dass doch nicht alles so schlimm ist. Nach der nun  
bestätigten Kernschmelze wissen wir, dass die zu einem Klumpen  
verschmolzene Masse – das Corium – bestehend aus dem Brennstoff und  
dem Metall, das den Kern umgab, noch viele Jahre gekühlt werden muss.  
Das ist nicht wie heißes Eisen, das irgendwann kalt wird. Hier handelt  
es sich um einen fortlaufenden Prozess unter ständiger  
Wärmeentwicklung. Ohne ausreichende Kühlung kann sich sogar  
verfestigtes Corium wieder selbst verflüssigen. Und das ohne weitere  
Energiezugabe. Verflüssigt sich die Masse wieder, setzt sie zudem  
hochgiftige Dämpfe frei.

Wie würde Ihr Zeitplan aussehen?

Weil die kritischen Bereiche in Fukushima weiterhin nicht zugänglich  
sind, handelt es sich bei allen Aussagen nur um Schätzungen. Beim  
Reaktorunglück in Three Mile Island in Harrisburg 1979 dauerte die  
Kühlung fünf Jahre. Erst nach zehn bis 15 Jahren konnte das verbrannte  
Material entsorgt werden. Und wir wissen heute, dass der Schaden in  
Harrisburg gemessen an Fukushima viel kleiner war. Dort war  
beispielsweise der Reaktorboden nach der Kernschmelze noch intakt,  
eine Kühlung konnte erfolgen. In Fukushima sind die Böden  
durchlöchert, das Kühlwasser fließt immer wieder ab. Jetzt einen  
Zeitplan aufzustellen und zu behaupten, so machen wir das, diesen  
technischen Weg gehen wir, ist hochgradig unseriös. Niemand kennt die  
genauen Daten, niemand weiß, in welchem Zustand die  
Reaktorsicherheitsbehälter sind. Auch wenn Tepco inzwischen zugibt,  
dass es Lecks gibt, weiß niemand, wie diese geschlossen werden können.  
Niemand auf der Welt hat bisher Erfahrungen damit.

Die Behörden in der Präfektur Miyagi – also weit außerhalb der  
Sperrzone – haben deutlich überhöhte Strahlenwerte in Weidegras  
entdeckt. Sie haben bereits im April gefordert, die Evakuierungszone  
deutlich auszuweiten.

Ja, wir hatten Messungen in Fukushima-City vorgenommen, also rund 60  
Kilometer von Kraftwerkt entfernt, und schon damals erhöhte Werte  
festgestellt. Unsere Messungen hat die Regierung nicht anerkannt, und  
auf Tepcos Daten verwiesen.

Sie haben auch Messungen in Meerwasser durchgeführt. Wie waren dort  
die Ergebnisse und wie hat die Regierung darauf reagiert?

Wie haben radioaktiv kontaminierte Algen nachgewiesen und das genau  
dokumentiert. Die japanische Regierung gab daraufhin lediglich eine  
Empfehlung aus, in den betroffenen Gebieten nicht mehr zu ernten. Ein  
Verbot gibt es aber nicht. Man muss sich auch nicht einbilden, dass  
die Verseuchung auf das Gebiet der Sperrzone beschränkt bleibt. So  
wurden bereits Fische in über 60 Kilometern Entfernung von Fukushima  
gefangen und untersucht, die mit 14.000 bis 16.000 Becquerel pro  
Kilogramm verseucht waren. Gesetzlich erlaubt sind in Japan maximal  
300 Becquerel. Wir werden in Kürze neue Berichte vorlegen von  
Messungen, die wir in großen Entfernungen von 30-Kilometer-Sperrzone  
vorgenommen haben.

Kann man davon ausgehen, dass beispielsweise das Meerwasser in  
weiterer Entfernung des AKW immer sauberer wird?

Nein, es ist ein Trugschluss, dass sich mit der Entfernung die  
giftigen Substanzen sozusagen verwässern. Tatsächlich ist es so, dass  
sich radioaktive Partikel nicht gleichmäßig verteilen. Wir haben  
richtige Wolken nachweisen können, die sich in sogenannten Hotspots  
niedersetzen. Man muss wirklich die kompletten Gebiete ausmessen,  
bevor man sie freigibt. Und auch dann sind noch weitere Veränderungen  
möglich, der Prozess im AKW ist ja noch lange nicht abgeschlossen.

Tausende Japaner leben in Notunterkünften, sie drängen, sie wollen  
nach Hause. Wird sich ihr Wunsch erfüllen und was kommt auf die  
Menschen noch zu?

Auch hier ist es schwierig, zuverlässige Aussagen zu treffen. Fakt  
ist, dass die japanische Regierung die Evakuierung der betroffenen  
Gebiete erst spät und dann nicht ausreichend angewiesen hat. Dadurch  
sind viele tausend Menschen schon jetzt hohen Gesundheitsrisiken  
ausgesetzt worden. Wir wissen ja, dass gesundheitliche Schädigungen in  
den seltensten Fällen sofort Wirkung zeigen. Häufig dauert es Jahre  
und Jahrzehnte, bis die Zellstörungen zutage treten. Dafür gibt es  
Beweise, dafür muss man nur nach Tschernobyl schauen. Im weiteren  
Umfeld gibt es dort keine Familie, die nicht einen adäquaten  
Krankheitsfall aufweisen kann. Was das jetzt für Japan bedeutet, kann  
niemand genau beantworten.

Tepco hatte versucht, im Reaktor 2 die Strahlenwerte zu messen, die  
soll wegen "technischer Widrigkeiten" gescheitert sein. Warum gibt es  
keine zuverlässigen Messwerte?

Das mit den beschlagenen Scheiben am Minicomputer war wahrscheinlich  
wieder so eine Ausrede. Aber mal im Ernst, es ist heute schon längst  
möglich ein Messnetz aufzubauen. Erst recht in einem Land, das so  
dicht mit Atomkraftanlagen bebaut ist wie Japan. Es ist natürlich auch  
möglich, Messungen durchzuführen und diese Messungen auch sofort  
transparent der Wissenschaftsgemeinde oder wem auch immer zur  
Verfügung zu stellen. Dass Tepco oder auch die japanischen Regierung  
das nicht macht, zeigt, dass sie Angst davor haben, jemand anderes  
könne Schlüsse aus den Daten ziehen, die ihnen nicht recht wären. Ich  
kann gar nicht sagen, was ich davon halten soll.

Verbrennen die Verantwortlichen wissentlich ihre Leute?

Ja. Sie setzen die Menschen, die dort leben, erheblichen Gefahren aus,  
um die Atomindustrie zu retten. Das ist unverantwortlich.