[rohrpost] REZENSION: Oliver GRAU (Hg.) Imagery in the 21st Century, von Pamela C. Scorzin

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Die Mar 27 12:04:23 CEST 2012


IMAGERY IN THE 21st CENTURY, hrsg. v. Oliver GRAU unter Mitarbeit von
Thomas VEIGL 

Mit Beiträgen von: Sean CUBITT, Martin SCHULZ, Eduardo KAC, Thomas
VEIGL, Stefan HEIDENREICH, Olaf BREIDBACH, 
Dolores & David STEINMAN, James ELKINS, Wendy CHUNG, Christa SOMMERER &
Laurent MIGNONNEAU, Marie Luise ANGERER, 
Peter WEIBEL, Adrian CHEOK, Tim Otto ROTH, Harald KRÄMER, Lev MANOVICH,
Martin WARNKE, Oliver GRAU und Martin KEMP

MIT Press, Cambridge, Mass. 2011; 410 S., 132 Farb- und SW-Abb.; ISBN
978-0-262-01572-1; € 29,99


Nach "Virtual Art. From Illusion to Immersion" (2003) und
"MediaArtHistories" (2007) hat Oliver Grau, Inhaber des ersten
Lehrstuhls für Bildwissenschaften im deutschen Sprachraum am Department
für Bildwissenschaften der Donau-Universität Krems (Niederösterreich),
unter Mitarbeit von Thomas Veigl, in der MIT Press ein reiches
Sammelwerk zum entgrenzten Bildbegriff der Gegenwart vorgelegt. Neue
technische Produktionsweisen, vielfältige digitale
Visualisierungsmöglichkeiten und neue technische Distributionswege
wie die Social Media Plattformen des World Wide Web oder internetfähige
Smart Phones haben in den letzten Jahren auch unseren Bildbegriff
tiefgehend verändert und erweitert. Unter dem Globaltitel "Imagery in
the 21st Century" werden neuartige Formen und spezifische Funktionen von
Bildlichkeit in der zeitgenössischen Kultur der neuen digitalen Medien
untersucht. Es geht dabei nicht allein nur um die aktuellen
Herausforderungen durch die neuen Bilder und ihren inflationären
Gebrauch in unserer globalisierten Kultur, die für Alle eine neue
Bildkritik als (soziale) Schlüsselkompetenz einfordern. Fortgeführt wird
unter diesen aktuellen Bedingungen und rasanten Entwicklungen der
Digitalen Kulturen auch die von W. J. T. Mitchell bereits in den
Neunziger Jahren angestoßene Debatte, was denn Bilder überhaupt
ausmachen und was sie in Gesellschaften bewirken wollen, bzw. wie sie
funktionieren und was sie auslösen können. Die zahlreichen Beiträge des
in englischer Sprache verfassten Bandes von Oliver Grau diskutieren
dafür exemplarisch unterschiedliche virtuelle, mitunter interaktive
Bildphänomene in Kunst, Populärkultur und Wissenschaft zu Beginn des 21.
Jahrhunderts.

Im Mittelpunkt der verschiedenen kritischen Diskussionen stehen dabei
besonders all jene komplexen Bildprozesse, die Unsichtbares in
Sichtbarkeit überführen und dabei Verständnis oder Wissen über ein
intuitives Erfassen durch die körperlichen Sinne generieren. Denn
augenscheinlich beginnen moderne Gesellschaften heute wieder stärker und
neu "in Bildern zu denken": "The iconic turn is definitely capable of
holding its own in the face of the overpowering fixation on language and
text – by conferring on the image its own cognitive capability. The
image is not just some new theme; rather it concerns a different way of
thinking. This entails thinking with images: images as an independent
means of cognizance. Yet even here we see that the iconic turn remains
reliant on language." (S. 16)

Eine international renommierte Beiträgerschaft aus Kunst, Natur- und
Geisteswissenschaften widmet sich daher transdisziplinär dieser jüngsten
"Revolution des Bildes" und ihrer Auswirkungen auf eine globalisierte
Mediengesellschaft der Gegenwart. Prämisse für alle Einzelstudien ist
gleichzeitig die Beobachtung, dass wohl niemals zuvor in der
Kulturgeschichte sich die Methoden und Techniken der Bilderzeugung und
-verbreitung so rasant und fundamental verändert haben wie in unserer
jüngsten Gegenwart: "Never before has the world of images changed so
fast; never before have we been exposed to so many different image
forms; and never before has the way images are produced transformed so
drastically. Images are advancing into new domains: private platforms,
like Flickr with its billions of uploads or Facebook with several
hundred million members, have become very powerful tools. Second Life,
micro movies, or vj-ing are keywords for a ubiquitous use of images.
Television is now a global field of thousands of channels; projection
screens have entered our cities; a hundred thousand and one new video
are published every day, in video communities like YouTube and the
interactive three-dimensional world of images: a virtual and seemingly
authentic parallel universe is expanding" (S.1)

Was zunächst wohl für viele als eine reine Binsenweisheit daher kommen
mag, erschöpft sich aber weniger in einer plakativen
"Buchbindersynthese", sondern dient tatsächlich im Band als eine
fruchtbare Ausgangsdiagnose, die im Weiteren zu differenzierten und
spezifischen Auslegungen in den verschiedenen ausgewählten Beiträgen
führt. Gleichzeitig sind die internationalen Beiträger dabei
bestrebt, vor diesem Hintergrund traditionelle theoretische Grundlagen
neuer kritischer Reflexion zu unterziehen und dem Leser ein facettiertes
Spektrum aktueller Techniken und Technologien der Bildproduktion,
-distribution und -archivierung sowie des wissenschaftlichen Einsatzes
vorzustellen. Angestrengt werden eine erste Kategorisierung, Ordnung und
Analyse der vielfältigen Visualisierungstechniken und -methoden des
digitalen Zeitalters. In Ansätzen darf man darin eine neue
Theoriebildung für die Visuelle Kultur im Zeitalter aktueller
Herausforderungen für die künstlerisch-gestalterische Praxis der
Gegenwart erkennen, die durch Phänomene wie Hybridisierung und
Immaterialisierung in der Gestaltung oder Emanzipation der Rezipienten
zu Usern oder Mitproduzenten forciert werden. Aufgabe einer für das
digitale Zeitalter aktualisierten Bildtheorie wären demnach wiederum
Durchdringung, Analyse, Reflexion, Kritik und Vermittlung neuer
visueller Kulturen jenseits der bereits alt gewordenen modernen und
trennenden Vorstellungen von Kunst und Visueller Kommunikation.

Die Bildherstellung hat sich im digitalen Zeitalter nicht nur
quantitativ gesteigert, enorm beschleunigt und gesellschaftlich
demokratisiert, sondern auch in völlig neue Kompetenzbereiche hinein
verlagert, in der beispielsweise nicht mehr nur Künstler und
professionelle Gestalter als die bislang alleinig kompetenten
Bildproduzenten aktiv wirken, sondern auch die sogenannten ,User',
ehemals Dilettanten genannt, beziehungsweise vor allem aber auch die
(Software-)Entwickler, die nun ästhetischen Programme und die
dazugehörigen Bildeffekte als Templates liefern. Konsumenten sind
heute auch Produzenten. Diese neuen Möglichkeiten der technischen
Bilderzeugung und Bildverbreitung, d. h. die unübersichtliche Vielzahl
aktueller technologischer und sozialer Möglichkeiten Bildmaterial
instant zu produzieren und global zu distributieren, führt gleichzeitig
zu neuartigen Bildgenres, -techniken und ästhetischen Rezeptionsweisen,
die der Band ebenfalls kursorisch mitreflektiert. Schließlich reicht die
Spanne der neuen digitalen Bilder heute vom Makrokosmos in Publikationen
zur Astrophysik his hin zum Mikrokosmos in populärwissenschaftlichen
Visualisierungen der Teilchenphysiker.

Die heutigen Bildtheoretiker verstehen jedoch diese digitalen Bilder
nicht mehr allein nur als Illustrationen, sondern verweisen vielmehr auf
die neue Wirkungsmacht und heikle Totalität der neuen Bilder. Denn
zunehmend produzieren diese, etwa als Schlagbild oder Infographik, auch
Verständnis und Wissensformen jenseits von Sprache und Text. Mit all den
damit einhergehenden Missverständnissen und Manipulationsmöglichkeiten,
wenn man beispielsweise bedenkt, wie obskure Satellitenbilder in den
Massenmedien als Beweismittel und Argument für die Legitimierung
politisch-militärischer Interventionen im 2. Irak-Krieg dienten oder in
den Naturwissenschaften mittels Photoshop bereits Beobachtungs- und
Forschungsergebnisse für Fachjournale gefälscht werden! Oder der schöne
Zusatz "Artist's Impression" als ästhetischer Warnhinweis in den Medien
den brisanten Konflikt zwischen den Bildern der Kunst und des
Kommunikationsdesigns respektive der naturwissenschaftlichen
Darstellungen pointieren. Bilder sollten daher in unserer digitalen und
globalisierten Kultur gerade nicht imrner ganz das allerletzte Wort
haben: "Images increasingly define our world and our everyday life: in
advertising, entertainment, politics, and even in science, images are
pushing themselves in front of language. The mass media, in particular,
engulf our senses on a daily basis. It would appear that images have won
the contest with words: Will the image have the last word?" (S. 6)

Mithin treffen diese grundlegenden Veränderungen im besonderen
Wirkungsverhältnis der Bilder unsere Gesellschaft aber noch weitgehend
unvorbereitet, vermerken die beiden Herausgeber nachdrücklich. Es gilt
im aufklärerischen Sinne gerade einen vorherrschenden Aniconism, eine
Unbedarftheit, die neuen Bilder adäquat zu verstehen und in ihrer
(sozialen) Wirksamkeit zu durchschauen, kritisch zu überwinden. Und
tatsächlich werden ohne wissenschaftliche Analyse, Reflexion und
Kritik, ohne die Untersuchungen neuer Formen der digitalen
Visualisierung und "Ordnungen der Sichtbarkeit" diese Explosion der
Fälle an neuen Bildern und die Komplexität des Bildwissen unserer
Zeit gesellschaftlich kaum genügend durchdrungen und souverän
verarbeitet werden. Man mag den Sammelband daher als einen ersten
notwendigen Schritt dahin verstehen. Die Liste der zeitgenössischen
Bildexperten und Kulturtheoretiker, die dafür ihr Wort erheben, ist
jedenfalls so beachtlich wie beeindruckend, auch wenn sie wiederum die
üblichen Verdächtigen' auffährt -lesenswerte Einzelstudien und Essays
liefern hier u. a. Marie-Luise Angerer, Olaf Breidbach, James Elkins,
Martin Kemp, Lev Manovich und Peter Weibel.

Gleichwohl mangelt es aber auch "Imagery in the 21st Century", wie so
vielen anderen Sammelwerken, leider an einer gewissen formalen wie
qualitativen Kohärenz. Nach einem ausführlichen Einführungstext der
beiden Herausgeber Grau und Veigl, der zugleich einen konzis
zusammenfassenden Überblick der folgenden Einzelbeiträge liefert, stoßt
der Leser neben neuen Forschungsergebnisse auf bereits bekannte, für
Sammelwerk, das Oliver Grau als "collaborative text" umschreibt,
offensichtlich nochmals eigens aufgelegte und zuvor an anderer Stelle
publizierte Thesen und Gedanken. Werkberichte stehen neben
kulturphilosophischen Betrachtungen, Essayistisches neben
analytisch-wissenschaftlichen Textsorten. Es ist damit jedoch ein
äußerst anregender Reader entstanden, so disparat und heterogen
wie die neuen komplexen Bildwelten, die er zu reflektieren wünscht, und
damit eine "Theory of Everything" in der digitalen visuellen Kultur
nebenbei verwirft. Gefordert sein werden in der Zukunft auch vielmehr
Methodologien für ein fluides Wissen und kognitives Erfassen neuer
ultra-visueller Bilder, d. h. Artefakte, in denen das Visuelle immer
cross-modal, multi-sensual und transgenerisch gleichzeitig mit anderen
Sinneskategorien wie etwa das Hören verknüpft sind. Und so wie unserer
aktuellen Kultur, dank der neuen Kommunikationstechnologien wie den
Blogs und Social Media Plattformen, heute jeder selbst zum Sender und
Empfänger, zum (Bild-)Experten und Kritiker, avancieren kann und darf,
verdient es aber auch dieser neue Band zu den neuen Bildphänomenen
jenseits der alt gewordenen modernen Kunstgeschichte, dass sich jeder
einmal selbst ein Bild davon macht. Daher zur individuell entdeckenden
Lektüre unbedingt empfohlen.

Prof. PAMELA C. SCORZIN, Dortmund, erschienen in: Journal für
Kunstgeschichte 15, 2011, Heft 4, S. 278-281.


Weitere Information:: 
http://mitpress.mit.edu/catalog/item/default.asp?ttype=2&tid=12675 
http://www.mediaarthistory.org/pub/Imagery21Century.html