[rohrpost] Gegen den digitalen Stalinismus

Krystian Woznicki kw at berlinergazette.de
Die Nov 12 10:06:04 CET 2013


Hallo,

das Live-Video zum Beitrag von Thorsten Schilling findet sich hier:
http://vimeo.com/album/2603234/video/79024014

Die Berliner Gazette plant diesen Text in einem eBook aufzunehmen,
dass das Jahresthema (KOMPLIZEN) und die Jahrestagung (COMPLICITY)
aufarbeitet. Es soll Anfang Dez. diesen Jahres bei iRights.media erscheinen.

Viele Grüße,

Krystian

On 11/10/2013 06:39 PM, Thorsten Schilling wrote:
> Gegen den digitalen Stalinismus
> 
> von Thorsten Schilling
> 
> (überarbeitetes Grußwort für die Jahreskonferenz der Berliner Gazette,
> „Complicity“, am 09.11.2013)
> 
> Vor 24 Jahren fiel die Berliner Mauer und mit ihr der Eiserne Vorhang.
> Der kalte Krieg und damit der 2. Weltkrieg fand sein friedliches Ende.
> Heute sehen wir im Reich der digitalen Kultur neue Eiserne Vorhänge
> entstehen, dieses mal mitten in der westlichen Welt – es zeigen sich
> starke Symptome einer Art digitaler Stalinismus.
> 
> Die aggregierte Verbindung der zentralistischen und kaum kontrollierten
> Datenregimes und des darin versammelten Des/Informationsapparates von
> digitalen Konzernen wie Google, facebook, Amazon, Apple etc. und den
> Sicherheitsapparaten der Exekutive wie NSA u.a. können in Ihrer
> Machtballung gar nicht unterschätzt werden.
> 
> Mich erinnert einiges daran an Zustände hinter dem Eisernen Vorhang, wie
> ich sie in der DDR erfahren habe. Auch wenn historische Analogien immer
> schief sind, vielleicht helfen sie ja für einen Moment, sich der
> Tragweite der aktuellen Geschehnisse bewusster zu werden. Ich nenne das
> derzeit vorherrschende Datenregime deshalb einen aufkommenden „digitalen
> Stalinismus“.
> 
> Digitaler Stalinismus heißt:
> 
> - permanente massenhafte Überwachung von Kommunikation und Verhalten
> (z.B. als Konsumentendaten, Verbindungsdaten auf Plattformen etc., von
> Individuen, Institutionen, Gruppen etc.)
> - institutionalisierte Paranoia, versehen mit ungeheuren, maßlosen
> personellen, finanziellen und technischen Ressourcen
> - Bereiche unkontrollierter, für demokratische Kontrolle unzugänglicher
> (Über)Macht (der Herrschaftsraum arkaner Politik, im Namen von
> Nationalen Sicherheits-Interessen oder im Namen des Geschäftsgeheimnisses)
> - eine wachsende Kultur des Misstrauens, der Verdächtigungen, der
> Diffamierungen, Desinformationen und der diffusen Furcht im digitalen
> Alltag
> 
> Die Wirklichkeiten dieser vernetzten autoritären Praxis stellen
> substantielle Bedrohungen für grundlegende Werte und Regeln der
> liberalen Demokratie dar.
> 
> In weiten Bereichen des kommerzialisierten und überwachten digitalen
> Lebens gilt „habeas corpus“ kaum noch, unteilbare Rechte des Individuums
> existieren hier nicht mehr.
> Im Angesicht der großen und kleinen Datenfürsten wie Google, Amazon,
> facebook, NSA etc. kann es so etwas wie das Individuum nicht wirklich
> geben. Individuum bedeutet im Wortsinn unteilbar zu sein. In den
> digitalen Fürstentümern oder den Gulags kommerzieller Clouds habe ich
> als Einzelner aber alle Bestandteile meines Datenkorpus immer schon
> verloren gegeben und bestenfalls zurück geliehen bekommen.
> Hier kann und soll ich nicht Souverän meiner Daten sein. Wie im
> Stalinismus und anderen Absolutismen gibt es nur an der Spitze der
> Hierarchien noch so etwas wie einen Souverän, von dessen Güte oder
> Wahnsinn dann alle abhängig bleiben.
> Wo Un/Recht war, wird Un/Gnade sein.
> 
> Es ist eine der historische Aufgaben unserer Gegenwart, diesen Tendenzen
> und Praktiken eines neuen übermächtigen Autoritarismus wirksam entgegen
> zu treten.
> Eine Anfang könnte darin bestehen, sich unvoreingenommener mit den
> aktivistischen, dissidentischen Herangehensweisen und Kulturen zu
> konfrontieren. (Vielleicht ist ja Snowden ein Sacharow unserer Zeit? Wie
> dieser kommt er aus dem technische Apparat einer Supermacht. Es ist
> allerdings eine bittere und noch nicht durchschaubare Form der
> Komplizenschaft, wenn er nun unter der Obhut der Nachfahren des KGB sein
> Asyl fristet.)
> 
> In den dissidentischen Kulturen des Kalten Krieges waren Gewissensfragen
> leitend, waren die Werte unverzichtbarer Würde, demokratischer
> Freiheiten und Rechte das Prinzip des Handelns. Diese Werte und
> Gewissensentscheidungen wogen die Gefahren für Leib und Leben immer
> wieder auf, gaben der Entschiedenheit und dem persönlichen Mut im Alltag
> Kontur. Solche Haltungen sind heute wieder gefragt.
> 
> Aber dissidentische Praktiken, selbst kritische Expertenkulturen sind
> nicht die Lösung, sie können nur einen Anfang machen. Die Mauer ist 1989
> nicht durch ein paar Dutzend mutige Protestanten gestürzt worden. Erst
> als die Massen dabei waren, fiel das hohle Regime an seiner eigenen
> Schwäche zusammen.
> Die Ideen, Konzepte, Lösungsansätze, Forderungen, die in den
> verschiedenen kritischen Diskursen und Praktiken, sei es im Aktivismus,
> sei es in der Publizistik, in wissenschaftlichen oder technischen
> Netzwerken kursieren, müssen neu zusammenfinden und Einzug in den
> Mainstream der öffentlichen Debatten halten. Das Unbehagen muss
> politisch werden.
> Denn Alternativen zum digitalen Stalinismus sind möglich und ja auch
> schon bzw. immer noch wirklich. Neue Allianzen müssen dafür gefunden und
> eingegangen werden.
> 
> Die Bedrohung des klassischen Geschäftsmodells des
> privatwirtschaftlichen Journalismus durch die Oligopole von Google etc.
> auf dem digitalen Werbemarkt bringt die Interessen von Verlegern näher
> an kritische, ja auch aktivistische Diskurse als beiden Seiten bisher
> bewusst zu sein scheint. Und wenn die NSA unter dem Vorwand der
> Terrorbekämpfung auch massive Wirtschaftsspionage treibt, sollte es im
> Interesse allein schon von Technologie- und Telekommunikationskonzernen
> in Deutschland bzw. Europa sein, hier an eigenständigen europäischen IT
> Infrastrukturen zu arbeiten, bzw. eine proaktivere europäische
> Industriepolitik in diese Richtung zu unterstützen.
> 
> Europa wird sich angesichts dessen ohnehin neu definieren müssen. Nicht
> nur als Wirtschafts- und Währungsraum, sondern auch im digitalen Feld
> als eigenständige Kraft, die sich ihrer Interessen bewusst wird und viel
> entschiedener notwendige Ressourcen investiert. Europa steht vor der
> dringenden Frage, ob und wie es sich hier einigen und bewegen kann. Ein
> dynamischer digitaler europäischer Raum, mit eigenen Ideen,
> Innovationszyklen und auch datenethischen Standards könnte aus solchen
> neuen Allianzen entstehen. Vernetzt mit seinen Partnern, äußerer Willkür
> aber nicht unterworfen.
> 
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