[rohrpost] das grosse funktionieren

Tilman Baumgärtel mail at tilmanbaumgaertel.net
Fre Sep 26 10:39:05 CEST 2014


Hi!

In der aktuellen Ausgabe von Monopol ist ein Essay von mir über das 
Verhältnis von "klassischer" net.art und der Post-Internet-Art der 
Gegenwart. Der Text wurde von der Redaktion leicht bearbeitet, darum 
sende ich hier mal den ursprünglichen Text.

Gruesse,
Tilman

///////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////////

Essay

Das Große Funktionieren und seine Opposition

Von Tilman Baumgärtel

Als im Juni die App Circa 1948 von Stan Douglas veröffentlicht wurde, 
erinnern sich gleich zwei deutsche Leitmedien einer Episode in der 
Geschichte der Gegenwartskunst, der sie in deren Blütezeit Ende der 90er 
Jahre kaum Beachtung schenkten: der Netzkunst.

Während Jörg Scheller die Internet-Kunst in der Zeit als ein “so 
hoffnungsvolle(s) wie hoffnungslos unvollendete(s) Projekts der 
Postmoderne” beschreibt, sind bei Ulrike Knöfel im Spiegel nur vage 
Erinnerungen an eine “typische (und eigentlich immer erfolglose) 
Internetkunst” geblieben.

Irgendwas muss am Projekt einer Internet-spezifischen Kunst trotzdem 
dran gewesen sein. Sonst würde sie nicht gleich zwei Autoren in der 
selben Woche wieder in den Sinn kommen, als sie über ein Thema 
schreiben, das mit Netzkunst wenig mehr gemeinsam hat, als die Tatsache, 
dass sie mit der Hilfe von Computern hergestellt wurde. Und das hat sie 
heutzutage bekanntlich mit der Herstellung von Musik, Filmen, Autos oder 
Turnschuhen gemeinsam.

Die App von Stan Douglas ist eine technisch aufwendige Simulation vom 
Vancouver der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Technologie, mit deren 
Hilfe diese entsteht, interessiert ihn nicht – er lässt sie hinter einer 
Blümchentapete von aufwendig gerenderten 3D-Bildern verschwinden. Ganz 
im Gegensatz dazu hat die Netzkunst in ihrer klassischen Periode genau 
die Technik, die die Bedingung ihrer Existenz war, in den Mittelpunkt 
gestellt. Der wichtigste Gegenstand der Netzkunst war das Netz selbst, 
das die Netzkunst ohne Rücksicht auf Verluste dekonstruierte.

Falls beim Lesen des letzten Satzes vor Ihrem geistigen Augen Kolonnen 
von unverständlichem Computercode auf einem monochromen Monitor 
vorbeizurasen begannen und Sie anfingen, das Interesse an diesem Essay 
zu verlieren, ist damit ein zentrales Problem der frühen Netzkunst 
beschrieben. Obwohl das Internet ein zentrales Element unseres Lebens 
ist, bekommt ein Großteil des Kunstpublikums immer noch weiche Knie, 
wenn ein Werk irgendwas mit Computern zu tun hat. OMG, das muss was für 
Nerds sein!

Als wären wir nicht längst alle Nerds, denen irgendwie klar ist, dass 
die Computertechnik einer der wichtigsten Agent des Wandels unserer 
Lebenswelt ist. Wer sich jedoch als Künstler mit dieser Technologie 
beschäftigte, musste bis vor kurzem befürchten, aus der Welt der 
“richtigen” Kunst exkommuniziert zu werden und sich in dem 
Paralleluniversum der Medienkunst wiederzufinden.

Wenn in diesem Essay nun doch wieder von der Netzkunst die Rede sein 
soll, so nicht, um die Frage zu beleuchten, ob diese nun hoffnungsvoll, 
hoffnungslos unvollendet oder einfach nur erfolglos war. Der Anlass ist 
vielmehr eine neuere Tendenz in der Gegenwartskunst, die unter anderem 
als “Post Internet Art” bezeichnet wird. Dieser Terminus mag sich nicht 
gerade durch besondere Präzision auszeichnen – schon die Kombination 
seiner drei Wort-Elemente lässt einen im Unklaren darüber, ob es sich 
hierbei um eine Kunst nach dem Internet handelt (wieso, ist das Internet 
denn weg?) oder eine Kunst nach der Internetkunst. Auch haben bisher nur 
wenige Künstler Bereitschaft gezeigt, als Vertreter dieser neuen 
Kunstströmung zu firmieren. Die Ausstellung am Kasseler Fridericianum, 
die in Deutschland Künstler aus diesem Zusammenhang zum ersten Mal als 
Gruppe präsentierte, hat das Schlagwort von der Post Internet Art 
tunlichst vermieden, sondern trug den Titel “Speculations on Anonymous 
Materials”.

Doch wenn man sich genauer mit den Künstlern beschäftigt, die unter 
diesem unklaren Begriff zusammengefasst werden, schält sich durchaus 
eine Reihe von Gemeinsamkeiten heraus – unter anderem die Tatsache, dass 
viele Arbeiten dieser Künstler-Generation in irgendeiner Weise durch die 
Existenz des Internets inspiriert wurden, auch wenn diese nicht 
notwendigerweise im Internet stattfinden. Zu ihrem relativen Erfolg in 
der Kunstwelt scheint genau die Tatsache beigetragen haben, dass sie 
ihrem Publikum die Zumutung erspart, sich allzu intensiv mit der 
thematisierten Technologie zu beschäftigen.

Ich finde, dass die Künstler der Post Internet Art so ohne Grund eins 
ihrer mächtigsten Instrumente der Hand geben. Und ich glaube, dass man 
ihre Arbeit in einen fruchtbaren Dialog mit den Werke der frühen 
Netzkunst der 90er Jahre bringen kann – weniger mit historischem 
Abstand, sondern mit der Medienkompetenz, die einem im Laufe der letzten 
Jahre quasi aufgezwungen worden ist. Denn heute, wo das Internet zum 
selbstverständlichen Alltag geworden, sollte der technische Charakter 
der Netzkunst nicht mehr Verständnishürde sein. Das Internet ist nicht 
mehr das mysteriöse Cyber-Andere, das nur Hacker begreifen, wie zu der 
Zeit, als die Netzkunst ihren ersten Höhepunkt erlebte. Gerade die 
technischen Normen, die wir durch seine Nutzung Tag für Tag bekräftigen, 
können für mich noch immer ein fruchtbareres künstlerisches Sujet sein, 
als die “Inhalte”, die über das Netz verbreitet werden und die viele 
Künstler der Post-Internet-Art in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen.

Es geht mir dabei nicht darum, eine radikalere old school von 
Internet-Kunst nachträglich zu romantisieren als Kunst, die ihrer Zeit 
so weit voraus war, dass sie von den Zeitgenossen unglücklicherweise 
nicht verstanden wurde. Vielmehr will ich einen Blick auf die Aspekte 
der Netzkunst frei machen, für die ich sie liebe und die zu der Zeit 
ihres Entstehens einem Publikum, das mit dem damals neuen Medium 
Internet wenig vertraut war, entgangen sein mögen: ihre Gegenwärtigkeit, 
ihr Wahnsinn, ihre Wut, ihr Drama.

Als Mitte der 90er Jahre die ersten Künstler das Netz als künstlerisches 
Medium entdeckten, konzentrierten sie sich auf seine technischen 
Protokolle. Das Künstlerpaar Jodi.org schufen Arbeiten, die dem sich 
entwickelnden Code einer “benutzbaren” Website Hohn sprachen – genauso 
wie Nam Jun Paik (bei dem sie studiert hatten) es mit Video getan 
hatten, experimentierten sie mit den Möglichkeiten ihres Mediums, die 
nicht im Benutzer-Handbuch vorgesehen waren. So entstanden Arbeiten, die 
dem Geist des kreativen Technik-Experimentators entsprachen, für den der 
Begriff “Hacker” steht. Künstler wie Olia Lialina, Alexei Shulgin oder 
Vuk Cosic arbeiteten auf geistesverwandte Weise.

Aber dieser “Web-Formalismus” war nur ein Teil der Netzkunst. Der 
Videokunst-Veteran Douglas Davis nutzte – anknüpfend an die “exquisite 
Leiche” der Surrealisten – die Interaktivität des Internets, um seine 
Nutzer einen potentiell endlosen Satz schreiben zu lassen: “The World 
Longest Sentence” von 1994. Julia Scher thematisierte in ihren 
Webprojekten die Online-Überwachung, die heute zu einem der wichtigsten 
politischen issues der Gegenwart geworden ist. Cornelia Sollfrank 
entwickelte einen „net.art generator“, der aus Netz-Bildern neue 
Kunstwerke generierte und thematisierte so ein aus dem Ruder gelaufenes 
Regiment des Urheberrechts. Netzkunstkollektive wie RTMark, die Yes Men 
oder 0100101110101101.org entwickelten eine künstlerische Form des 
Internet-Aktivismus. Und die Künstlergruppe Etoy schufen mit der 
Inszenierung ihrer gerichtlichen Auseinandersetzung mit dem 
Online-Unternehmen Etoys um die Domain etoy.com eine globale 
Performance, die der Klimax der frühen Netzkunst war.

Zugegeben: die meisten dieser Arbeiten entzogen sich der umstandslosen 
Präsentation im White Cube, da sie zu einem wichtigen Teil im Netz 
stattfand. Spricht das gegen sie? Performance Art und Videokunst galten 
auch lange als nicht mit dem regulären Ausstellungsbetrieb kompatibel. 
Trotzdem ist die Performance-Künstlerin Marina Abramović heute die 
bekannteste, Videokünstlerin Pipilotti Rist eine der teuersten 
Künstlerinnen der Gegenwart.

Ich und eine Reihe von anderen Autoren haben in den 90er Jahren die 
Werke der Netzkunst als selbst-reflexive, ihr Medium thematisierende 
Kunstform beschrieben, als ein “Materialprüfungsamt des Internets”. 
Damit standen wir in einer soliden kunsttheoretischen Tradition. Clement 
Greenberg hatte am Abstrakten Expressionismus hervorgehoben, dass sich 
dieser mit den Mitteln der Malerei – Leinwand und Ölfarbe – 
beschäftigte. Für andere Kunstbewegungen und Künstler der Hochmoderne 
mag ähnliches gelten.

Schon an der Videokunst hatten Autoren wie David Antin die “distinctive 
features of the medium” als ihr wichtigstes Thema hervorgehoben. Aus 
diesem – technisch geprägten, aber sozial begründeten – Denken heraus 
entstanden schon in der Frühzeit der Videokunst Werke, die den 
technischen Charakter ihres Mediums thematisierten, ohne nerdige 
Techno-Basteleien zu sein. Man denke daran, wie Richard Serra und Nancy 
Holt in „Bommerang“ (1974) die Hinterbandkontrolle eines Videorekorders, 
um die Mechanismen unserer Wahrnehmung zu hinterfragen oder gründlich 
durcheinanderzubringen. Wie Dan Graham in seinem „Time Delay Room“ 
(1974) eine Videoband-Schleife dazu nutzten, um erkenntnistheoretische 
Fragen erfahrbar zu machen. Wie Bill Viola in seiner – heute 
tragischerweise im Depot des Hamburger Bahnhofs verschollenen – 
Installation „He weeps for you“ (1976) die damals brandneue Technik der 
Video-Projektion nutzten, um bei seinen Betrachtern eine 
quasi-transzendentale Erfahrung auszulösen. Solche Werke arbeiten mit 
den genuinen Eigenschaften ihres Mediums und sind gleichzeitig bis heute 
rätselhaft, poetisch, enigmatisch.

Die spezielle Pointe der frühen Netzkunst bestand darin, dass sie ihre 
materialästhetischen Experimente mit einem Medium durchführten, bei dem 
schon zu dieser Zeit klar war, dass es eine kaum zu überschätzende 
soziale, kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung haben würde. Und genau 
diese Relevanz des Internet thematisierte die Netzkünstler der 90er 
Jahre, indem sie mit dem Netz und seinen technischen Grundlage ihr 
Unwesen trieben. Diesen Ansatz finde ich bis heute relevant – relevanter 
jedenfalls als die denkfaule Infantilität von Leuten wie Ryan Trecartin 
oder Parker Ito, der sich unter dem Label „Post Internet Art“ 
gegenwärtig so großer Beliebtheit erfreut.

Um 2000 war klar geworden, dass die Netzkunst nicht auf das Interesse 
einer Kunstwelt hoffen durfte, die Kunst als auratisches, ausstellbares 
und vor allem als für viel Geld verkäufliches Objekt betrachtete. In der 
folgenden dunklen Jahren der Netzkunst entwickelten eine Reihe von 
Theoretikern – unter anderem Rosalind Krauss, Peter Weibel oder Domenico 
Quaranta – die Idee einer “Post Media Art”. Die ging, stark vereinfacht, 
so: Wegen der zunehmenden Heterogenität der künstlerischen Medien 
(Krauss) oder weil sowieso alles digital geworden ist (Weibel, 
Quaranta), ist medienspezifisches Arbeiten irrelevant geworden. Rosalind 
Krauss zog daraus den Schluss, dass Kunst sich stattdessen wieder auf 
ihre “Essenz” besinnen sollte.

Diese Idee einer “Essenz” der Kunst lehne ich als Wieder-Einführung des 
Künstler-Originalgenietums durch die Hintertür ab. Nur weil alles 
digital geworden ist, bedeutet das nicht, dass es keine 
Eigengesetzlichkeit der digitalen Medien mehr gibt. Facebook, WhatsApp, 
Google Street View, Instagram, mein Smartphone – sie alle haben 
unübersehbare Eigengesetzlichkeiten, die nach künstlerischer Bearbeitung 
verlangen. So wie zur Zeit der Dadaisten die Plakate an der Litfaßsäule 
oder in Andy Warhols Sixties die Konservendose nach künstlerischer 
Bearbeitung schrien – einfach weil sie relevante und entlarvende 
Elemente der Alltagskultur ihrer Zeit waren. Genauso können heute die 
zwanghafte Positivität des Facebook-„Like“-Buttons oder die 
Monetarisierung der Daten der User durch das soziale Netzwerk Themen 
sein, die künstlerische Beachtung verdient. Dass Technologie für 
Künstler “nur noch ein Ready-Made“ ist, um Jon Rafmans Formulierung zu 
verwenden – das ist ein schwaches Argument (und eins, das Rafman selbst 
in seinen besten Arbeiten tunlichst ignoriert hat).

Dass die digitalen Medien heute technischen Protokolle gehorchen, die 
weniger offensichtlich sind als in den 90er Jahren, weil sie (scheinbar) 
so gut funktionieren, heißt nicht, dass diese weniger relevant sind – im 
Gegenteil. Gerade weil die Black Box der Technologie heute besser 
schließt als zu einer Zeit, als sich der PC noch regelmäßig mit dem Blue 
Screen of Death verabschiedet und das Herunterladen der Email eine 
Geheimwissenschaft war, muss man sie künstlerisch thematisieren. 
Andernfalls macht man sich der Mittäterschaft an einem “flüssigen 
Kapitalismus” (Zygmunt Bauman) schuldig, in dem die Technik 
unhinterfragtes Element des Großen Funktionierens geworden ist. Die 
Enthüllungen über die umfassende, globale Datenspionage von NSA, BND und 
Co haben gezeigt, was passiert, wenn man sich damit zufrieden gibt, dass 
die Technik so „benutzerfreundlich“ wie möglich den eigenen Wünschen zu 
dienen und ansonsten Ruhe zu geben hat. Dass das nicht funktioniert – 
darauf hat die Netzkunst bereits vor fast zwei Jahrzehnten hingewiesen.

Die Post Net Art übrigens auch. Die „digital natives“ der Gegenwart 
haben sich in ihre besten Werken auch heute wieder auf Technik als 
ästhetisches Problem eingeschossen. Constant Dullaarts epische Schlacht 
mit Google, Youtube und ihren Interfaces. Aram Bartholls gleichzeitig 
imaginäres wie auch sehr reales „Dead Drops“-Netzwerk. Oliver Larics 
digitale „Versions“ und deren konkrete Umsetzung mit dem 3D-Drucker. 
Lorna Mills schockierende Collagen aus GIF-Animationen. Aleksandra 
Domanovićs digitale „Found-Footage“-Archäologie. Das gesamte 
künstlerische Universum von Cory Arcangel. All diese künstlerischen 
Œuvres bedienen sich der neuen Technologien selbst, um über deren 
Bedeutung nachzudenken.

Diese Arbeiten sind wichtige Beiträge zu einer wichtigen Debatte, und 
sie setzen die Arbeit an solchen Themen mit einer Geisteshaltung fort, 
die der der frühen Netzkunst näher ist als es auf den ersten Schritt 
erscheinen mag. Einige deren wichtigsten Protagonisten dieser Periode – 
wie Jodi oder Olia Lialina – sind übrigens bis heute aktiv, und ihre 
Werke sind relativ umstandslos anschlussfähig an den Diskurs einer mit 
Technik befassten Kunst, für die ich nicht länger als „Post Internet 
Art“ bezeichnen möchte. Es ist schlicht und einfach Gegenwartskunst, die 
unser Verhältnis zur Technologie auf eine Weise thematisiert, die der 
der Hacker, DIY-Aktivisten und Maker von heute geistesverwandt ist, aber 
sie darüber hinaus zu einem Ausgangspunkt kritisch-hinterfragender 
Reflexion zuspitzt.
_________________________________________________________________________________________________________
Dr. Tilman Baumgärtel lebt als Publizist in Berlin und unterrichtet 
Medienwissenschaften an der Hochschule Mainz. Seine Bücher “net.art – 
Materialien zur Netzkunst” (Verlag für moderne Kunst 1999) und “net.art 
2.0 – Neue Materialien zur Netzkunst” (Verlag für moderne Kunst 2001) 
waren die international ersten Buchpublikationen über Internet-Kunst.

-- 
Dr. Tilman Baumgärtel
mail at tilmanbaumgaertel.net
Twitter:  Tilman Baumgaertel ?@tilmazio